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Anfang vom Ende. Beate Zschäpe sei die „Tarnkappe“ des NSU gewesen, sagt die Staatsanwältin am ersten Plädoyertag. Der Prozess läuft seit dem 13. Mai 2013.

© Peter Kneffel/AFP

Plädoyers im NSU-Prozess: Die halbe Wahrheit

Die Ankläger steigen mit voller Wucht in ihr Plädoyer: Schuldig – in allen Punkten. Beate Zschäpe sei eine Mörderin. Nach 375 Tagen geht der Terrorprozess um den NSU in die letzte Runde.

Von Frank Jansen

Der letzte Akt vor dem Urteil hat begonnen – wie es im NSU-Prozess üblich ist. Mit stundenlanger Verzögerung, mit der Andeutung eines Befangenheitsantrags, der die Prozesswoche gesprengt hätte. Mittags, es ist 11.55 Uhr, stellt der Vorsitzende Richter Manfred Götzl die entschiedende Frage: ob es noch Anträge gebe? Die Zuhörer im vollbesetzten Saal A 101 im Oberlandesgericht München halten die Luft an. Dann schütteln die Verteidiger von Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben kurz die Köpfe. Die Angeklagte nestelt an ihrem Leopardenschal.

Die Plädoyers können also beginnen. Nach mehr als vier Jahren Beweisaufnahme im größten Terrorprozess seit der Wiedervereinigung. Die Bundesanwaltschaft steigt mit Wucht ein: „Die Anklage hat sich in allen Punkten bestätigt“, sagt Herbert Diemer. Zschäpe habe „als Mitgründerin und Mittäterin“ des NSU neun Menschen türkischer und griechischer Herkunft ermordet und den Mordanschlag auf zwei Polizisten begangen.

Diemer spricht von einem Stehpult aus, das eigens für das Plädoyer neben den Tisch der Ankläger gerückt wurde. Der weißhaarige Bundesanwalt ist ein erfahrener Mann, das Gesicht wirkt meist versteinert. Als liefen im Kopf immer wieder harte Filme ab.

„Der Wahn von einem ausländerfreien Land“

Diemers Stimme klingt mechanisch, als er die Namen der Menschen aufzählt, die von den NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschossen wurden: Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter.

Der Kollege der Polizistin, Diemer erwähnt auch ihn, überlebte den Kopfschuss in Heilbronn. Diemer spricht von den weiteren Verletzten, von den Opfern der zwei Bombenanschläge in Köln und der 15 Raubüberfälle. „Das Motiv war rechtsextreme Ideologie, der Wahn von einem ausländerfreien Land.“ Die Bundesrepublik habe erschüttert werden sollen, „um einem widerlichen Nazi-Regime den Boden zu bereiten“. Für alle diese Verbrechen macht der Bundesanwalt Zschäpe mitverantwortlich. Auch bei den vier Mitangeklagten habe sich die Anklage „in allen wesentlichen Punkten bestätigt“.

An diesem Prozesstag, es ist der 375. seit dem 13. Mai 2013, wird das Grauen der fast 14 Jahre komprimiert, die Zschäpe mit Böhnhardt und Mundlos im Untergrund verbracht hat. Im Prozess haben die Richter des 6. Strafsenats mehr als 550 Zeugen befragt, viele von ihnen waren zweimal, dreimal oder noch öfter im Saal A 101.

Manche Zeugenaussagen hatten einen dreisten Klang

Gehört wurden zudem 26 medizinische und 25 technische Sachverständige. Ausgesagt haben Opfer, Angehörige der Ermordeten, zufällige Augenzeugen, Polizeibeamte, Verfassungsschützer, ehemalige V-Leute, Richter und Staatsanwälte aus anderen Verfahren, Neonazis, Skinheads und Leute aus dem früheren Freundeskreis von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt sowie der vier Mitangeklagten Ralf Wohlleben, Holger G., André E. und Carsten S.

Die Eltern von Mundlos und Böhnhardt traten auf. Mutter Böhnhardt und Vater Mundlos ließen ihrem Schmerz über den Verlust des Sohnes und hilfloser Wut über das eigene Versagen und die angebliche Mitschuld des Staates an der Eskalation des NSU-Terrors freien Lauf. Frühere Nachbarn und Urlaubsbekannte der drei Untergetauchten waren immer noch konsterniert, völlig ahnungslos mit mörderischen Terroristen freundschaftlich verkehrt zu haben.

Auch wenn manche Zeugenaussagen einen dreisten Klang hatten, vor allem die der oft lügenden und betont erinnerungsschwachen Rechtsextremisten, wurde doch in vier Jahren Wort für Wort die Dimension der Verbrechen des NSU aufgeschichtet. Und jetzt ist die Zeit gekommen, aus dem grausig großen Bild das Ausmaß der Schuld jedes einzelnen Angeklagten abzulesen.

Manche Nebenkläger ignorieren die Plädoyers

An diesem Dienstag ist kein einziger Angehöriger eines Mordopfers und kein einziges der Opfer im Saal. Es hat bei den Nebenklägern offenbar niemand erwartet, dass nach den unzähligen Befangenheitsanträgen doch noch an diesem Tag die Plädoyers beginnen.

Vergangene Woche erst hatte Richter Götzl den Prozess unterbrochen, weil Wohllebens Verteidiger darauf bestanden, das Plädoyer der Bundesanwaltschaft per Tonband aufzeichnen zu lassen. Da sich Wohlleben nach mehr als fünf Jahren in der Untersuchungshaft nicht auf die von den Anklägern angekündigten 22 Stunden Vortrag konzentrieren könne. Doch die Bundesanwaltschaft beruft sich auf ihr „Persönlichkeitsrecht“. Sie trage aus persönlichen Notizen vor. Götzl gab ihr Recht.

Für die Hinterbliebenen der Toten des NSU-Terrors stehen solche Debatten nicht im Vordergrund. Manche Nebenkläger ignorieren die Plädoyers, weil der Prozess sie enttäuscht hat. Dies gilt nach Angaben von Anwalt Sebastian Scharmer auch für seine Mandantin Gamze Kubasik, die Tochter von Mehmet Kubasik. Böhnhardt und Mundlos erschossen den Türken am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund. Gamze Kubasik leidet noch heute unter der Tat. Und sie ist wütend.

Wie groß ist der NSU-Komplex wirklich?

„Frau Kubasik sagt, für sie ist nicht relevant, was die Bundesanwaltschaft von sich gibt“, sagt Scharmer. Seine Mandantin vermute, „die Bundesanwaltschaft wird sagen, verantwortlich für die Verbrechen ist das Trio und es gab ein paar Unterstützer“. Doch Gamze Kubasik gehe davon aus, „dass es ein Netzwerk gab“. Sie laufe bis heute durch Dortmund „und denkt, wer könnte es noch gewesen sein?“ Die Hoffnung, „mit der Sache ins Reine zu kommen, hat Frau Kubasik nicht“.

Ähnliches lassen die Geschwister von Abdurrahim Özüdogru und die Tochter von Ismail Yasar über ihren Anwalt ausrichten. Böhnhardt und Mundlos hatten die beiden Türken in Nürnberg getötet. Özüdogru wurde am 13. Juni 2001 in seiner Schneiderei erschossen, Yasar starb am 9. Juni 2005 in seinem Dönerimbiss.

Seine Mandanten seien froh, dass sich das Verfahren dem Ende zuneige, „doch sie gehen davon aus, dass die offenen Fragen, die sie bewegen, nicht mehr beantwortet werden“, sagt der Berliner Anwalt Mehmet Daimagüler – und beginnt aufzuzählen: Wie groß ist der NSU-Komplex wirklich? Welche Rolle spielen die Verfassungsschutzbehörden? Was ist das Aufklärungsversprechen einer Bundeskanzlerin wert, wenn Verfassungsschutzbehörden Akten vernichten? Wieso hat der Staat sie im Stich gelassen? Mehmet Daimagüler sagt: „Die NSU-Morde haben eine Wunde gerissen, die nicht verheilen will. Dieses Gerichtsverfahren hat zur Heilung nur wenig beigetragen.“

Ein Neonazi-Geflecht, durchsetzt von V-Leuten

Im Prozess war bei Nebenklägern und vor allem vielen Opferanwälten oft Frust zu hören. Immer wieder stellte sich die Bundesanwaltschaft Beweisanträgen der Anwälte entgegen, wenn es um mögliche Komplizen des NSU jenseits der Angeklagten Ralf Wohlleben, Holger G., André E. und Carsten S. ging. Die Ankläger verwiesen auf laufende Ermittlungen in Parallelverfahren zum NSU-Komplex oder hielten Anträge schlicht für überflüssig. Das schwierige Verhältnis zwischen Opferanwälten und Bundesanwaltschaft hat den Prozess zusätzlich belastet. Obwohl beide Prozessparteien im selben Boot sitzen – doch mit unterschiedlichen Interessen.

Die meisten Nebenklage-Anwälte vermuten, der NSU sei in ein größeres Neonazi-Geflecht eingebunden gewesen, das von V-Leuten durchsetzt war. Die wolle der Verfassungsschutz auch heute noch schützen und dabei helfe die Bundesanwaltschaft. Sie wiederum verweist auf den Zeitdruck, dem sie beim Verfassen der voluminösen Anklageschrift ausgesetzt war.

Der Bundesgerichtshof hatte gedrängelt, um Zschäpe und Wohlleben nicht jahrelang in Untersuchungshaft schmoren zu lassen. In der Hauptverhandlung verfolgte die Bundesanwaltschaft dann erkennbar die Strategie, die Anklage zu 100 Prozent durchzubringen. Dass Richter Götzl und seine Kollegen die Anklageschrift ohne jede Änderung zuließen, hat die Bundesanwaltschaft bestärkt.

Propagandaschriften, eine Pistole, ein Messer

Als Diemer fertig ist mit seinem Teil, stellt sich Oberstaatsanwältin Anette Greger ans Stehpult. Sie skizziert Zschäpes Biografie und die schon frühe Einbindung in die rechte Szene in Jena. Im September 1995, da war Zschäpe 20 Jahre alt, habe sie mit anderen Leuten aus der rechten Szene ein Mahnmal für die Opfer des Faschismus mit Eiern beworfen, sagt Greger.

Und sie schildert, was die Polizei in Zschäpes Wohnung fand, nachdem die Frau am 26. Januar 1998 gemeinsam mit Böhnhardt und Mundlos abgetaucht war: eine Reichskriegsflagge, rechtsextreme Propagandaschriften, eine Pistole, ein Messer – und ein Exemplar des Brettspiels „Pogromly“, laut Greger entworfen von Mundlos und Böhnhardt. Spielfeld und Spielkarten seien „mit üblen Hetzparolen“ gegen Juden versehen, sagt Greger.

Sie bezeichnet Zschäpe als „Tarnkappe“ und „Kassenwart“ des NSU. Die Angeklagte habe gegenüber Nachbarn die Abwesenheit von Böhnhardt und Mundlos mit Alibis verschleiert, die Taten der beiden Männer dokumentiert und bei der Beschaffung von Ausweispapieren und Waffen mitgewirkt. „Sie tarnte das System NSU ab“, sagt die Oberstaatsanwältin.

Zschäpes Einlassung, sie habe von den Morden und Sprengstoffanschlägen immer erst hinterher erfahren, hält Greger für unglaubwürdig. Wie auch ihre Behauptung, dass Zschäpe gegen Gewalt gewesen sei und sich darüber mit den beiden Uwes gestritten habe. Die Angeklagte „war der entscheidende Stabilitätsfaktor der Gruppe“, sagt die Oberstaatsanwältin.

Wohlleben kann nicht mehr folgen

Einen Beleg für die Einbindung Zschäpes in den NSU sieht die Bundesanwaltschaft auch in dem Feuer, das die Angeklagte nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos in der gemeinsamen Zwickauer Wohnung gelegt hat. Zschäpe habe das Haus in Brand gesetzt, um Straftaten des Trios zu verdecken.

Gregers Vortrag stockt. Nach der Mittagspause moniert Wohllebens Verteidiger Wolfram Nahrath, sein Mandant sei beim Plädoyer schon früh nicht mehr mitgekommen. „Er hat das Mitschreiben eingestellt“, sagt der Anwalt. In der Mittagspause habe sich Wohlleben auch nicht erholen können. Die Zelle sei eng, stickig und laut, „es herrscht Schlachthausatmosphäre“, sagt Nahrath.

Richter Götzl unterbricht die Verhandlung und lässt einen Landgerichtsarzt rufen. Er soll Wohlleben untersuchen.

Nach einstündiger Unterbrechung geht es weiter. Götzl und der Verteidiger Wohllebens einigen sich auf die Formel, „50 Minuten Vortrag, zehn Minuten Pause“.

So können sich die Plädoyers noch lange hinziehen. Am Montag hat Götzl vorsorglich Prozesstermine bis August 2018 mitgeteilt.

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