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Der Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein (CDU),bei einer Pressekonferenz im Rathaus.

© dpa/Oliver Berg

Nach Attentat auf Bürgermeister Hollstein: Die Abgründe von Altena

Andreas Hollstein hat einen Integrationspreis bekommen – und ein Messer in den Hals. Die Attacke auf den Bürgermeister von Altena offenbart die tiefen Gräben einer Stadt.

Kurz nach zwölf klopft es an der Tür von Zimmer 6 und der Chef platzt hinein, mitten ins Integrationsbüro der Stadt Altena. „Guten Tag, meine Damen, ich will nicht weiter stören“, aber er habe da noch eine Rückfrage wegen des Projekts mit der Begegnungsstätte, „können wir natürlich auch später klären – ich sehe, Sie haben Besuch.“ Andreas Hollstein lacht, er schüttelt allen die Hand, und nur das Pflaster am Hals deutet bei diesem quicklebendigen Mann darauf hin, dass da mal was war. Tut es noch weh? „Alles halb so wild, das merke ich kaum noch“, der nächste Termin wartet, später am Abend geht’s noch in die Talkshow von Sandra Maischberger.

Anette Wesemann schaut hinüber zu Lisa Gudra, beide nicken. So ist er, der Chef. Immer auf dem Sprung, neue Projekte anschieben und alte am Laufen halten. Unterwegs auf den Fluren des Rathauses, den Straßen von Altena oder im Zug nach Berlin, um Kontakte zu pflegen, denn Fördermittel fließen nicht von selbst. Der Bürgermeister Andreas Hollstein hat Altena erst berühmt gemacht und später auch ein bisschen berüchtigt.

Vor zwei Jahren, als die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Irak zu Hunderttausenden nach Deutschland kamen und so manche Verwaltung die Unterbringung der neuen Mitbürger als unzumutbare Last empfand, da hat Hollstein gesagt: Wir nehmen noch 100 Menschen mehr auf! Für dieses Engagement hat er vor einem halben Jahr von Angela Merkel den Nationalen Integrationspreis bekommen. Und am Montagabend ein Messer an den Hals.

"Hast du schon gehört? Der Chef ist angegriffen worden!"

Die Nachricht vom Attentat auf den Bürgermeister geht in der Nacht zu Dienstag um die Welt, in Zimmer 6 des Rathauses kommt sie mit Verzögerung an. Lisa Gudra wohnt 50 Kilometer weiter in Wuppertal und steht deshalb früher auf als die anderen. Auf dem Smartphone ploppen die ersten E-Mails auf. Kurzes Entsetzen, dann der Anruf bei der Kollegin Anette Wesemann. „Hast du schon gehört? Der Chef ist angegriffen worden!“ Als die beiden in Zimmer 6 ihre Arbeit aufnehmen, wird das Rathaus schon von Übertragungswagen, Kameras und Mikrofonen belagert.

Das Fernsehen überträgt live aus dem Großen Sitzungssaal. Andreas Hollstein erzählt, wie er am Montag gegen 19 Uhr zum Imbiss an der Marktstraße gegangen ist, einen Döner kaufen für sich und die Ehefrau, die krank zu Hause liegt. Drei Euro fünfzig das Stück, Sauce nach Wahl. Ein Mann kommt herein, er fixiert Hollstein von der Seite und fragt: „Sind Sie der Bürgermeister?“

Sehr seltsam, finden Lisa Gudra und Anette Wesemann. Altena ist ein Städtchen von 17.000 Einwohnern, den seit 18 Jahren amtierenden Bürgermeister kennt hier jeder. Aber keiner kennt den Mann im Imbiss. Es heißt, er lebe in prekären Verhältnissen, getrennt von seiner Frau, die Stadtwerke hätten ihm jüngst das Wasser abgestellt. Auch Ahmet Abdullah hat den Mann noch nie gesehen.

Die Imbiss-Betreiber Ahmet Abdullah (r.) und sein Vater Demir wehrten den Angreifer ab.
Die Imbiss-Betreiber Ahmet Abdullah (r.) und sein Vater Demir wehrten den Angreifer ab.

© dpa/Oliver Berg

Er schneidet gerade das Fladenbrot auf, als der seltsame Gast ruft: „Sie lassen mich verdursten und holen die Flüchtlinge her.“ Dann zieht er ein Messer und stürzt auf Hollstein. Ahmet Abdullah kommt zur Hilfe und sein Vater Demir aus der Küche, das Messer rutscht ab, verletzt Andreas Hollstein am Hals und Ahmet Abdullah an der Hand. Beide halten den Angreifer fest, bis die Polizei kommt, eine Wache ist gleich um die Ecke.

Der Bürgermeister bekommt ein Pflaster, schon um halb acht sitzt er am nächsten Morgen im Rathaus, Arbeit ist die beste Therapie gegen das Trauma. Die Integrationsbeauftrage Anette Wesemann sagt: „Natürlich wussten wir, dass die Flüchtlingspolitik vom Chef nicht allen gefällt.“ Dass es nicht nur ein weltoffenes Altena gibt, das unten im alten Stellwerk sitzt und Sprachkurse für Flüchtlinge anbietet, Jobs vermittelt und bei der Wohnungssuche hilft. Sie hören das Murren über die angebliche Bevorzugung der Flüchtlinge – „Warum bekommen die Wohnungen, wenn die Schulen für unsere Kinder nicht saniert werden?“

Die Hassmails kommen auch nach dem Angriff bei ihm an

Sie kennen die Hassmails, die Andreas Hollstein bekommt. Noch am Tag nach dem Attentat schreibt ihm einer: „Schade, dass der Mann sein Werk nicht vollbracht hat!“ Oder: „Wenn Ihre Frau deutsch kochen würde, bräuchten Sie nicht zum Döner-Laden zu gehen.“ Stille in Zimmer 6. Ja, sie haben schon geahnt, dass irgendwann mal was passieren könnte – aber nie im Leben mit einem Messerattentat wie jenem auf Kölns Bürgermeisterin Henriette Reker gerechnet. Damit, welche Abgründe sich tatsächlich in diesem anderen, dem dunklen Altena auftun.

Altena liegt im Sauerland, eingebettet in die steilen Hänge des rheinischen Schiefergebirges und gezeichnet von dem, was soziologisch oft als „Strukturwandel“ beschönigt wird. Anfang der 70er Jahre lebten hier 33.000 Einwohner, sie arbeiteten in der Drahtindustrie und in der Stricknadelfabrik. Alles weg. Mit der Industrie verschwanden die Jobs und die Menschen. Heute hat sich die Einwohnerschaft halbiert. Bis vor Kurzem klebte an Altena das Etikett der am schnellsten schrumpfenden Stadt Deutschlands.

Bis die Flüchtlinge kamen und in die leer stehenden Wohnungen zogen, davon gibt es reichlich. „Das unterscheidet unseren Ansatz von dem in den Großstädten“, sagt Anette Wesemann. „Wir müssen die Leute nicht in Heimen zusammenpferchen, das gibt ihnen ein ganz anderes Lebensgefühl.“ Sie arbeitet seit gut 20 Jahren für die Stadtverwaltung und kann sich noch an das alte Asylbewerberheim erinnern, das vor einiger Zeit abgebrannt ist – „kein Anschlag, da hat einer gekocht und vergessen, den Herd abzustellen.“

"Das Wort Sprechstunde gibt es im Arabischen nicht"

Um die 450 Flüchtlinge leben zurzeit in Altena, fast alle sind sie schon mal in Zimmer 6 vorstellig geworden. Anette Wesemann und Lisa Gudra helfen beim Ausfüllen von Anträgen, bei der Einrichtung von Wohnungen, sie reichen Briefe zum Übersetzen weiter, es arbeitet auch eine Frau mit arabischen Sprachkenntnissen im Rathaus.

Ein junger Syrer steht vor der Tür, er hat seine Frau und den kleinen Sohn dabei und einen Packen Briefe – amtliche Dokumente, die schon für einen in Deutschland aufgewachsenen Bürger nicht immer leicht verständlich sind. So geht das den ganzen Tag über, „denn das Wort Sprechstunde gibt es im Arabischen nicht“, sagt Lisa Gudra und gibt dem kleinen Jungen einen Bonbon. Vor eineinhalb Jahren ist sie direkt von der Universität als Raumplanerin hergekommen, zuständig für die Errichtung eines Begegnungszentrums für neue und alteingesessene Altenaer. Mittlerweile geht die Hälfte der Arbeitszeit für Sozialarbeit drauf.

Ludger Leweke kommt ins Rathaus. Er ist einer der Kümmerer, so nennen sie in Altena die Leute, die sich persönlich der Flüchtlinge annehmen und darauf achten, dass erst gar nicht so etwas wie eine Parallelgesellschaft entsteht. Leweke ist ein kräftiger Mann mit weißgrauem Haar, er hat die 70 überschritten und noch die guten Zeiten in Altena mitgemacht. „Wir wollen doch alle in Deutschland junge und motivierte Arbeitskräfte“, sagt er. „Na, dann nehmen wir sie doch, wenn sie schon mal da sind!“ Lewekes Tochter ist die Stellvertreterin von Bürgermeister Hollstein, er selbst hat früher als Finanzberater gearbeitet und immer noch beste Verbindungen zur lokalen Wirtschaft. Also hat er einen Unternehmerstammtisch ins Leben gerufen und vermittelt hier Ausbildungsplätze, da Jobs.

Die Läden und Banken sind so gut wie leer

Ludger Leweke ist der Mann für unbegleitete männliche Flüchtlinge, er hört sich ihre Sorgen an und gibt Ratschläge. Im Rathaus erzählt er von Mohannad, einem jungen Syrer, „der hat sich gerade einen Fernseher gekauft auf Ratenzahlung, zwei Jahre lang 20 Euro im Monat. Da habe ich ihm gesagt: Junge, du zahlst doch schon für dein Handy und für deine Familie zu Hause, wie willst du das denn alles finanzieren mit den 409 Euro, die du im Monat bekommst?“

Wer sehen will, wie die Flüchtlinge Altena verändert haben, unternimmt am besten einen Spaziergang durch die Fußgängerzone. Vom Imbiss an der Marktstraße, wo die Abdullahs und der Bürgermeister am Montag den Messerstecher abgewehrt haben, hinunter bis zum Fuß der Burg, die hoch über der Stadt thront und Altena auch ein bisschen Tourismus beschert. Hübsche Häuser, die Fassaden frisch gestrichen und gepflegt. Vorbei am Modehaus, dem Elektrogeschäft und dem Reisebüro, an den zwei Apotheken und vier Banken. Wie Fußgängerzonen in Kleinstädten halt so aussehen. Nur, dass in den Läden und Banken so gut wie keine Menschen sind.

Altena würde leer wirken und verlassen ohne die Männer und Frauen mit schwarzem Haar und dunklem Teint, die durch die Fußgängerzone schlendern, hier einen Tee trinken, dort einen Döner essen, alle paar Meter stehen sie in kleinen Grüppchen. Das Leben der Iraker, Afghanen, Syrer spielt sich unter freiem Himmel ab. So war es in der alten, so ist es in der neuen Heimat. Die Flüchtlinge sind dabei, die Stadt wiederzubeleben. Gerade erst hat ein Drogerie-Discounter aufgemacht, ein Supermarkt ist in Planung. Beides gab es vorher lange nicht, Folge des städtischen Krankschrumpfens. Das Altenaer Krankenhaus ist zu Beginn des Jahres pleite gegangen, die zweite Insolvenz innerhalb weniger Jahre. Ein Pflege- und Gesundheitszentrum ist in Planung, aber das kann dauern.

Nicht alles läuft rund in Altena

Anette Wesemann sagt, natürlich seien ihr die neuen Mitbürger längst ans Herz gewachsen. Wenn sie ins Rathaus kommen und einen spontan umarmen, wenn sie ihre Geschichten erzählen, die schönen aus der Heimat und die nicht so schönen von der Flucht. Manchmal muss sie auch weinen, zum Beispiel bei der Sache mit der albanischen Familie. Vater, Mutter und vier Kinder, alle auf dem Gymnasium, perfekte Sprachkenntnisse, hervorragend integriert. Aber nur der Vater hatte ein Bleiberecht, wegen einer Ausbildung bei einem lokalen Betrieb.

Früh am Morgen gegen vier kam die Polizei mit dem Abschiebetitel für die Mutter und die Kinder. Gab es keinen Anruf, keine Bitte um Hilfe in letzter Minute? „Wie denn, die Polizei nimmt den Leuten immer zuerst die Handys ab, wir haben von denen erst wieder gehört, als sie zurück in Albanien waren.“ Ein paar Wochen später ist ihnen der Vater hinterhergezogen.

Nicht alles läuft rund in Altena. Wie das so ist, wenn verschiedene Kulturen aufeinanderprallen. Flüchtlinge sind nicht automatisch bessere Menschen, das wissen sie auch im Integrationsbüro. Immer mal wieder erlebt die Raumplanerin Lisa Gudra, wie sich junge Männer beim Umbau der Begegnungsstätte weigern, auch nur einen Stein anzufassen. Da ist Fadil, „von Beruf Sohn“, sagt Anette Wesemann, „keine Bereitschaft zur Mitarbeit, den Sprachkurs wollte er nicht machen. Solche Leute verstehen dich erst, wenn du ihnen das Geld kürzt.“

Ein Mädchen zeigt die Striemen auf ihrer Haut

Es kommt zu Familienstreitigkeiten, zu Vergewaltigungen in der Ehe, „da sitzt man dann fassungslos neben dem grinsenden Ehemann, der einem erklärt, wie schlecht ihn seine Frau behandelt“. Ein junges Mädchen hat der Lehrerin in der Schule die Striemen auf der Haut gezeigt. Der Vater konnte gar nicht verstehen, dass man seine Kinder in Deutschland nicht mit dem Gürtel züchtigt. Das hat ihm Andreas Hollstein bei einem längeren Gespräch auf dem Sofa näher gebracht. Auch solche Besuche gehören zum Aufgabengebiet des Bürgermeisters, so versteht er seinen Job und so will er ihn weitermachen. Trotz des Messerangriffs und des Pflasters, das ihn noch daran erinnert.

Die Neu-Altenaer spüren, dass Andreas Hollstein auch ihr Bürgermeister sein will. Am Tag nach dem Attentat schickt Ramin, ein junger Mann aus Afghanistan, eine SMS an seinen Mentor Ludger Leweke: „Wir wollen etwas für den Bürgermeister tun. Ich trommele alle Flüchtlinge zusammen.“ Am Abend ziehen sie mit einer Lichterkette durch die Stadt, 400 alte und neue Altenaer, die sich an den Händen halten. Und zum Schluss alle zusammen das Vaterunser beten.

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