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Schweigen genießen. Rebecka Kärde darf nicht viel über ihre Arbeit erzählen, sie hat ein Geheimhaltungsprotokoll unterschrieben.

© Martin U. K. Lengemann/WELT/Ullstein Bild

Literaturnobelpreis: Warum eine Berliner Studentin über den Literatur-Nobelpreis mitentscheidet

Rebecka Kärde ist 27, kommt aus Schweden und studiert in Berlin. Nach dem Skandal um die Schwedische Akademie wurde sie Mitglied der Jury. Ein Porträt.

Dass sich ihr Leben verändern wird, weiß Rebecka Kärde an dem Tag, als sie aus Stockholm einen Anruf bekommt. Am Telefon ist Anders Olsson, der Interimsvorsitzende der berühmten, inzwischen auch berüchtigten Schwedischen Akademie, die für die Vergabe des Literaturnobelpreises zuständig ist. „Können Sie sich vorstellen, den nächsten Literaturnobelpreisträger mit auszuwählen?“, fragt Olsson ohne Umschweife. Kärde ist verblüfft, überrascht, sich aber auch im Klaren darüber, dass dieses Angebot nicht von ungefähr kommt. Im Frühjahr erst hatte sie einen mit 100.000 Kronen dotierten Kritikerpreis von der Akademie bekommen, seit sechs Jahren schreibt sie schon regelmäßig Literaturkritiken für Schwedens größte Tageszeitung, „Dagens Nyheter“.

„Dass die mich kennen und schätzen, das wusste ich.“ Sie bittet sich einen Tag Bedenkzeit aus. Dann sagt sie zu. Seitdem ist sie die Neuköllner Studentin, die den Literaturnobelpreis verleiht.

Denn die gebürtige Schwedin ist gerade einmal 27 Jahre alt, lebt seit vier Jahren in Berlin, wo sie an der Humboldt Universität klassische Philologie studiert, und führt tatsächlich ein typisches Berliner Studentinnenleben zwischen Uni, Lesen und ein bisschen Ausgehen. Sie wohnt mit ihrem Freund in der Nogatstraße, ist begeistert von dem Stadtviertel, das sie noch an der Grenze der Gentrifizierung empfindet, und Berlin überhaupt: Schon 2012 war sie für ein Jahr hier, um dann noch einmal nach Stockholm für ihren Bachelorabschluss zurückzukehren.

Warum gerade sie ausgewählt worden ist, was ihre Kritiken so besonders macht, darüber kann sie an diesem Dienstagabend nur spekulieren, da sie im „Amalia“ sitzt, einem Café am Körnerpark. Klar, sie hat jenen Preis bekommen, der einmal im Jahr an zwei schwedische Kritiker und Kritikerinnen verliehen wird, „für bedeutende Einsätze für schwedischsprachige Kritik“, wie es heißt. Vergeben aber wird dieser ohne weitere Begründung und ohne Zeremonie.

Kärde ist gerade von einer ersten Zusammenkunft mit der Akademie zurückgekehrt

Man spürt gleich, dass Kärde Auszeichnungen wie diese nicht überbewerten will, auch nicht die Tatsache, dass ihre erste Juryarbeit als Kritikerin sogleich der bedeutendsten Literaturauszeichnung der Welt gilt. Lieber beschreibt sie sich als gewissenhafte Kritikerin, „kompromisslos und präzise“. Sie habe nur den Text im Blick – „close reading als Ideal“, wie sie sagt – aber auch ihre eigene Subjektivität „als weiße Frau aus einem westlichen Land“. Vielleicht spüre man das in ihren Kritiken, hofft sie – und auch, dass es der Akademie nicht nur um mehr Frauen und mehr Jugendlichkeit in der neuen Jury gegangen sei.

Kärde ist tags zuvor erst von einem Wochenende in Stockholm zurückgekehrt. Dort war sie bei einer kurzfristig anberaumten ersten Zusammenkunft in der Schwedischen Akademie und wurde als Neuling in Kenntnis über ihre kommende Aufgabe gesetzt. Nach den skandalösen Vorgängen im Umfeld der Akademie, den Streitereien und Rücktritten innerhalb des eigentlich aus 18 Mitgliedern bestehenden Gremiums und dem Verzicht auf die Vergabe des Literaturnobelpreises in diesem Jahr, hat man in Stockholm beschlossen, zwei Jahre lang nach einem anderen Modell den Literaturnobelpreis zu verleihen.

Zu fünf Mitgliedern des angestammten Gremiums – Horace Engdahl, Per Wästberg, Anders Olsson, Jesper Svenbro und Kristina Lugn – stoßen fünf externe schwedische Literaturexperten und -expertinnen. Diese zehn Personen bilden nun das interimistische Literaturnobelpreiskomitee, wie es in Schweden in Abgrenzung zur Akademie genannt wird. Seine Aufgabe: nicht nur Literaturnobelpreise vergeben, sondern auch verloren gegangenes Vertrauen in die Arbeit der Schwedischen Akademie und der Nobelpreisstiftung wiederherstellen.

Dieses erste Treffen fand ausgerechnet an dem Tag statt, an dem Jean-Claude Arnault zu zweieinhalb Jahren Haft wegen zweifacher Vergewaltigung verurteilt worden ist, jetzt in zweiter Instanz. Mit seiner Person hatte die Malaise mit der Akademie und dem Literaturnobelpreis begonnen. Arnault ist der Ehemann der Lyrikerin Katarina Frostenson, die Mitglied der Schwedischen Akademie ist, und er war im November 2017 im Rahmen der #MeToo-Bewegung von über einem Dutzend Frauen beschuldigt worden, sie sexuell belästigt zu haben.

In einem Zeitungsartikel beklagte sie "die Schweigekultur um Arnault herum"

„Es war ein schwieriger Tag für sie, wegen des anstehenden Urteils über Arnault“, sagt Rebecka Kärde auf die Frage, wie denn dieses erste Treffen des neu gegründeten Komitees für sie gewesen sei. „Einerseits versuchten sie, das nicht zu zeigen. Andererseits schauten sie ständig auf die Uhr. Doch insgesamt scheinen sie sehr optimistisch zu sein, die Atmosphäre war überraschend gut, sie wirkten sehr hilfsbereit und respektvoll uns Externen gegenüber.“ Ihren Optimismus jedoch will Kärde nur bedingt teilen.

In einem Artikel für „Dagens Nyheter“ hatte sie kurz nach den ersten Vergewaltigungsvorwürfen „die Schweigekultur um Arnault herum“ beklagt, „einen charakterlosen Machtmissbrauch“. Sie schrieb: „Nach dem Täter selbst tragen die die größte Schuld, die ihn decken.“ Sie wundert sich über Katarina Frostensons standhafte Weigerung, ihren Rücktritt aus der Akadamie zu erklären – trotz des Urteils gegen ihren Ehemann, mit dem zusammen sie einen Literaturclub betrieben hat; trotz der Vorwürfe gegen sie, sich mit dem Club finanzielle Vorteile verschafft und zum Beispiel Namen von Nobelpreisträgern Tage vor der Verkündung ausgeplaudert zu haben.

Kärde will in diesem Fall offen ihre Meinung vertreten. Sie schränkt aber auch ein, über ihren ersten Tag in der Akademie gar nicht so viel sagen zu dürfen, sie musste ein „Geheimhaltungsprotokoll“ unterschreiben. Kärde, die ganz gut Deutsch spricht, längere Antworten jedoch lieber auf Englisch gibt, entfährt immer mal wieder ein „strange“, ein „weird“. Auch wenn sie das Gefühl hatte, sich zumindest auf vertrautem Terrain zu bewegen: „Wir kennen in Schweden diesen Raum, in dem sich die Mitglieder der Akademie treffen aus dem Fernsehen, aus den Zeitungen, wir kennen auch die Mitglieder der Akademie, sie sind Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Nur dass wir dieses Mal halt zu zehnt waren und viele der Stühle leer geblieben sind.“

Mit den Stühlen meint sie die berühmten hohen und nummerierten Stühle der Akademiemitglieder. Auf welchem sie gesessen hat, weiß Kärde nicht mehr, sie lacht, das habe sie nicht so interessant gefunden. Doch, klar, es sei vorstellbar, dass wegen der ganzen Tradition, der vielen Rituale halber, zum Beispiel Anders Olsson wieder auf dem ihm zugewiesenen Stuhl Nummer 4 gesessen habe und die Theaterautorin und -regisseurin Kristina Lugn auf der Nummer 14.

Rebecka Kärde weiß um diese starke Skepsis in ihrer Heimat.

Was Kärde erzählen darf: den Zeitplan der geplanten Vergabe der Literaturnobelpreise für 2018, der nachgeholt werden soll, und 2019. Im Februar kommt das Komitee erneut zusammen. Dann sichten die fünf Neulinge und die fünf Akademiemitglieder eine Liste mit rund 200 Namen potentieller Preisträger und Preisträgerinnen. Bis ins Frühjahr hinein soll diese Liste auf 20, 25 Namen eingegrenzt werden und im Mai auf fünf Namen schrumpfen. „Und dann heißt es lesen, lesen, lesen, damit wir der Akademie im September zwei Literaturnobelpreisträgerinnen vorschlagen können.“

Sie stutzt bei der Nachfrage, was das mit dem „Vorschlagen“ denn nun genau bedeute. Nicht „entscheiden“? Und schüttelt den Kopf. Nein, sicher wisse sie nicht, ob das wirklich eine Entscheidung für zwei Autoren sei oder ob nicht die Schwedische Akademie – die im kommenden Jahr wieder vollzählig sein soll – nicht doch das letzte Wort habe und womöglich den einen oder anderen Namen eines Kandidaten hinzufüge. „Es gibt da so viele Regeln und Statuten, die sind alle über hundert Jahre alt, die sind vielfältig auslegbar. Ja, es ist wirklich strange.“

So wie das Vorgehen für 2019 und 2020 nicht ultimativ geklärt zu sein scheint, so ist überhaupt in Schweden die Stimmung wegen des Literaturnobelpreises nicht besonders gut und zuversichtlich. Ob wirklich noch einmal einer vergeben wird? In einem Leitartikel der „Dagens Nyheter“ wurde die Akademie an dem Tag, als Arnault ein zweites Mal verurteilt wurde, unter der Überschrift „Die Schwedische Akademie kann nicht wieder aufgebaut werden“ mit einem Märchenschloss verglichen. Wegen ihrer jahrzehntelangen Selbstüberhöhung, ihrer Selbstmythologisierung, aber auch ihres quasi königlichen Ansehens, könne die Akademie sich gar nicht erneuern: „Man kann Unveränderliches nicht rekonstruieren, das wäre gegen dessen Natur.“

Rebecka Kärde weiß um diese starke Skepsis in ihrer Heimat. Ihre Berufung wurde in Schweden eher geschäftsmäßig hingenommen. Es heißt über die sogenannten Externen, diese seien der Schwedischen Akademie viel zu freundlich gesonnen, nicht zuletzt haben mehrere von ihnen, wie Kärde, schon Preise von der Akademie bekommen.

"Meine Eltern sind stolz auf mich wegen meiner Tätigkeit für die Akademie."

„In Deutschland bin ich berühmt jetzt, das stimmt. Aber nicht in Schweden.“ Tatsächlich hat sie dieser Tage in Berlin viele Anfragen für Gespräche bekommen, von Zeitungen, von Radio- und Fernsehsendern. Kärde kann mit ihrem vermeintlichen Ruhm nicht viel anfangen. Auch ihre dezente Kleidung, Jeans und dunkle Bluse, ihr zurückhaltender, aber selbstbewusster Habitus machen das deutlich. Sie könne das alles jetzt nicht wirklich ernst nehmen, überdies suchten nur Narzissten das Rampenlicht. „Die anderen, die wirklich gute Arbeit machen und machen wollen, bleiben lieber anonym.“ Berlin komme ihr da sehr gelegen, die Größe der Stadt, dass es hier keine „Celebrities“ gebe, sie in Ruhe lesen und studieren, sie überhaupt auch einer gewissen „Asozialität“ frönen könne.

Nein, es unterscheidet sie ansonsten nicht so viel von ihren Altergenossinnen. Da gab es den Wunsch, einmal ins Ausland zu gehen, „und Berlin ist einfach eine Sehnsuchtsstadt, wenn man einmal hier war, will man wirklich gleich wiederkommen“. Und natürlich den, nicht in derselben Stadt wie ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder zu leben. Aufgewachsen ist Kärde in einem Stockholmer Arbeiterviertel, als Kind zweier Bibliothekare, „ich kam aus dem einzigen Haushalt, in dem es Bücher gab“. Beide seien im übrigen keine Intellektuellen, auch das sagt Kärde. „Sie lesen gern Bücher. Ihnen geht es um das Lesen, die Freude daran, nicht um das Reden darüber, nicht um die formale, stilistische und inhaltliche Durchdringung von Literatur.“

Insofern haben ihre Eltern auch lange nicht verstanden, was sie genau macht. Als sie erst anfing, sich intensiv für Lyrik zu interessieren – sie schreibt selbst Gedichte – , dann für eine Gewerkschaftszeitung Film-, Kunst-, und Literaturkritiken zu schreiben, nun noch ein Studium der klassischen Philologie zu bestreiten und überdies nebenher aus dem Englischen und Norwegischen Bücher zu übersetzen. „Jetzt ist das allerdings anders: Meine Eltern sind stolz auf mich wegen meiner Tätigkeit für die Akademie. Sie wissen darüber, wie alle Schweden, sehr Bescheid. Der Literaturnobelpreis ist nun einmal etwas Großes.“

Ehrwürdig. Gäste beim jährlichen Empfang der Akademie im alten Börsengebäude von Stockholm.
Ehrwürdig. Gäste beim jährlichen Empfang der Akademie im alten Börsengebäude von Stockholm.

© Jonas Ekstromer/TT News AgencyFP

Thomas Bernhard ist einer ihrer Lieblingsschriftsteller

Es macht Spaß, sich mit Kärde über Literatur zu unterhalten. Über Thomas Bernhard, der einer ihrer Lieblinge ist, über Karl Ove Knausgård und die Beziehung der Schweden zu den Norwegern. Darüber, dass es besser sei sich von literarischen Szenen fernzuhalten, gerade als Kritikerin: „Man braucht Distanz.“ Oder darüber, dass man immer Empfehlungen geben solle. Was sie, weil sie sich mit der jüngeren deutschsprachigen Literatur nicht auskennt, sogleich zu der Frage führt: „Was ist für Sie das beste Buch aus Deutschland in diesem Jahr?“ Kärde versteht ein diesbezügliches Zögern nur zu gut: „Man sagt da immer was Falsches, man muss improvisieren.“

Immer wieder muss sie ihre Ausführungen unterbrechen, unentwegt laufen Nachrichten auf ihrem Smartphone ein. Das schwedische Fernsehen zeigt an diesem Dienstagabend einen Dokumentarfilm über die Akademie: „Die geschlossene Gesellschaft“. Dieser scheint den beschädigten Ruf der Schwedischen Akademie, wie sie sich jetzt in einer Mischung aus Beharrung und vorsichtigen Neuerungen darstellt, nicht gerade förderlich zu sein. „Schaust du?“, fragen Kärdes Freunde und Bekannte daheim. „Horace … lol“. Oder: „Hast du gehört, was Horace Engdahl gerade gesagt hat?“

Engdahl, der als Vertrauter Frostensons und Arnaults gilt, der angekündigt hat, nie aus der Akademie auszuscheiden, weil das laut Statuten nur mit dem Tod passieren könne, wiederholt seine Rücktrittsweigerung in diesem Film, kritisiert das Urteil gegen Arnault und versteigt sich gar zu der Aussage: „Ich weiß nicht, ob Männer nicht einfach besser geeignet sind, in einem solchen Typus von Zusammenkünften zu sitzen.“

Kärde ist entsetzt über diese Aussagen. Aber was soll sie tun? Sie hat sich auf die Wahl und die Jury eingelassen, muss mit dem Mann nun eng zusammenarbeiten.

Wie aus Protest gegen weitere mögliche Einwände, dagegen, dass sich ihr Leben die nächsten zwei Jahre womöglich noch viel stärker verändert, zeigt sie auf ihrem Smartphone noch ein Foto ihres Hundes, mit dem sie jeden Morgen ins „Amalia“ geht, um einen Kaffee zu trinken. „Ich kenne eine Frau, die kommt auch täglich mit ihrem Hund hierher, die beiden kennen sich gut.“ So viel Alltag muss sein.

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