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Avitall Gerstetter ist Deutschlands erste jüdische Kantorin.

© Thilo Rückeis

Holocaust-Gedenken am Breitscheidplatz: In die Stille schreien

Sie will die Namen der Opfer laut vorlesen, die Täter von damals sollen nicht das letzte Wort behalten. Avitall Gerstetter lädt seit Jahren am 27. Januar ein, der ermordeten Juden zu gedenken.

Der Wind pfeift über den Breitscheidplatz, über Bauzäune, Männer und Frauen, sie hasten vom Zoo Richtung KaDeWe, balancieren Einkaufstüten oder zerren Rollkoffer hinter sich her. Avitall Gerstetter steht einfach nur da. Vergräbt die Hände in den Tiefen ihres Wintermantels. Sie mag die Ruine nicht, hat sie noch nie gemocht, das liegt heute nicht am Winterwetter und lag früher nicht an herumlungernden Junkies und Alkoholikern. Damals, lange bevor sie der Jüdischen Gemeinde als Kantorin diente.

„Papa, warum ist der Zahn hohl?“, hat sie gefragt, wenn die Familie in den Achtziger Jahren die Mitte der westlichen Halbstadt besuchte. Am Breitscheidplatz bekam die kleine Avitall das erste Mal einen Eindruck davon, was die Vokabel „Krieg“ bedeuten kann, „hier wurden die Bomben für mich real“. Bis heute spricht sie von der „dunklen Seite“ Berlins. Kann es einen besseren Ort geben, um an die dunkelsten Tage dieses Landes zu erinnern?

An diesem Samstag jährt sich zum 73. Mal der Tag, an dem die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreite. Seit 1996 ist der 27. Januar in Deutschland ein gesetzlicher Gedenktag, aber Avitall Gerstetter will mehr als nur das Protokoll. Mehr als Sonntagsreden, auch wenn sie, wie in diesem Jahr, an einem Samstag gehalten werden. Ihre Tante war sieben Jahre alt, als sie ihr Leben in Auschwitz ließ. „Auschwitz ist das Furchtbarste, was du dir vorstellen kannst“, sagt sie. „Das musst du erleben. Auch wenn es weh tut.“

Seit fünf Jahren fährt sie von Berlin aus am 27. Januar abwechselnd mit Jugendgruppen nach Auschwitz – oder mahnt in der Heimat. Avitall Gerstetter hat im Bundestag gesprochen und im Berliner Dom debattiert. In diesem Jahr hat sie sich für ihr Gedenk-Projekt mit Absicht jenen Ort ausgesucht, den mittlerweile nicht mehr nur sie als eine dunkle Seite Berlins empfindet. Seit dem 19. Dezember 2016, als der Islamist Anis Amri mit einem gekaperten LKW in den Weihnachtsmarkt im Schatten der Gedächtniskirche auf den Breitscheidplatz raste. Zwölf Menschen starben, fast 70 wurden verletzt.

Mit den Toten reden

Auf dem Weg zur Gedächtniskirche sagt Avitall Gerstetter, man müsse vorsichtig sein, die beiden Ebenen in Beziehung zueinander zu setzen. Auschwitz ist nicht gleich Amri. Aber es lässt sich in diesen Tagen in der Gedächtniskirche schwerlich über Mord und Terror reden, ohne dabei auch an die Amokfahrt auf dem Breitscheidplatz zu denken.

Drei Tage vor ihrem Auftritt in der Kirche steht Avitall Gerstetter zum ersten Mal vor dem gerade eingeweihten Mahnmal, einem goldenen Riss, der den neu gestalteten Aufgang zum Kirchensockel teilt. In die Vorderseite der Kirchenstufen sind die Namen und Herkunftsländer der Opfer eingelassen. Blumen und Kerzen säumen ihre Porträts. „Das ist wichtig“, sagt Avitall Gerstetter. „Auf diese Weise bekommt der Terror ein Gesicht.“

Genauso will sie es am Samstag auch halten. Sie will weg von der abstrakten Zahl der rund eine Million allein in Auschwitz Ermordeten, diese Zahl kann in ihrer Ungeheuerlichkeit ohnehin niemand nachvollziehen. Avitall Gerstetter will die Namen der Opfer laut vorlesen, in die Stille schreien. Sie will mit den Toten reden, ihnen Fragen stellen, Antworten hören. „Ich weiß sehr wohl, dass das rational betrachtet natürlich nicht möglich ist“, sagt sie. Aber darum gehe es auch nicht. „Es geht darum, wer das letzte Wort hat.“ Und das wollen sie nicht den Tätern überlassen.

Avitall Gerstetter, aufgewachsen in Steglitz, ist 45 Jahre alt, eine zarte und kleine Person, aber schon die angriffslustig in alle Richtungen sprießende rote Mähne signalisiert, dass man sich besser nicht mit ihr anlegt. Sie war 2001 die erste weibliche Kantorin überhaupt in Deutschland, das hat ihr einige Aufmerksamkeit eingebracht und ihren Durchsetzungswillen geschult, denn der Weg dorthin war nicht einfach. Nicht alle in der Gemeinde waren begeistert von einer Frau als Vorbeterin in der Synagoge. Eine Kantorin ist mehr als Sängerin, sie ist im jüdischen Verständnis Mittler zwischen betender Gemeinde und Gott. Als ihr 2005 gekündigt wurde und es dafür keine andere Begründung gab als ihre Weiblichkeit, zog sie vor das Arbeitsgericht. Und bekam Recht.

Vor dem Samstag ist sie ein bisschen aufgeregt. Weniger wegen einer leichten Erkältung, die sie plagt. Das wird ihre bei der Kantorenausbildung in New York geschulte Stimme schon aushalten. Um 14 Uhr beginnt sie mit dem Verlesen der Namen der Toten von Auschwitz, es schließt sich eine szenische Lesung an und später am Abend macht Avitall Gerstetter, was sie am besten kann, nämlich das Publikum bei einem abschließenden Konzert mit ihrer Stimme verzaubern. Soweit der Plan.

Der Antisemitismus hat sich gewandelt

Aber wie wird sich der Abend entwickeln, inhaltlich und vom äußeren Rahmen her? Wird das achteckige Kirchenschiff genug Platz bieten? Oder verliert sich neben den 40 eingeladenen Schülern nur eine Handvoll an Gästen?

Berlin hat sich verändert, und gerade bei den jüdischen Berlinern weckt diese Veränderung zunehmend Unbehagen. Sie leben in einer Stadt, in der arabische Demonstranten israelische Fahnen verbrennen, worüber öffentlich im Stil eines juristischen Proseminars diskutiert wird. Dass es sich nicht um Volksverhetzung handele, weil die weiße Fahne mit dem blauen Davidstern für Israel stehe und nicht allgemein für das Judentum. „Dazu fällt mir nichts mehr ein“, sagt Avitall Gerstetter, und es möge doch bitte niemand glauben, dass die Demonstranten genau diese Trennschärfe im Auge hatten.

Ist es vor diesem Hintergrund wirklich so verwegen, eine Linie von Auschwitz zu Amri zu ziehen? Vom Nationalsozialismus zum Islamismus? Vom alten zu einem neuen Antisemitismus?

„So neu ist dieser Antisemitismus gar nicht“, sagt Michael Wolffsohn. „Schauen Sie mal zurück auf die Olympischen Spiele 1972 in München“, als palästinensische Terroristen elf israelische Sportler ermordeten. „Arabischen Judenhass gibt es in Deutschland schon lange, aber viele wollten ihn nicht sehen. Und natürlich hat sich dieser Antisemitismus in den vergangenen Jahren stark gewandelt, quantitativ, aber auch qualitativ.“

Michael Wolffsohn ist Historiker, geboren in Tel Aviv, nachdem seine Familie vor den Nazis geflohen war. Er ist nach Berlin zurückgekehrt und hat dort studiert, später in München an der Hochschule der Bundeswehr gelehrt. Bis heute fährt er alle paar Wochen von München mit dem ICE zum Bahnhof Gesundbrunnen, wo er die von seinem Vater geerbte Gartenstadt Atlantic verwaltet.

Spürt er bei seinen Besuchen, wie Berlin sich verändert hat? „Natürlich“, sagt Wolffsohn. „In manchen Stadtteilen traut es sich doch keiner mehr, eine Kippa zu tragen oder einen Davidstern an einer Halskette. Das ist neu.“ Natürlich liege das auch an den Flüchtlingen aus dem arabischen Raum. Wolffsohn erzählt von einer befreundeten Familie, der Vater jüdisch, die Mutter katholisch. „Im Sommer wird das Kind eingeschult, aber die haben Angst davor, es in eine ganz normale Grundschule zu geben. Also kommt es auf die jüdische Schule.“

Arbeit als Vermittlerin

Da war dieser Zwischenfall vor einem israelischen Restaurant in Schöneberg, dessen Wirt schon sehr viel unter Israelhassern zu leiden hatte. Unfreiwillige Berühmtheit erfuhr er, als ein offenbar angetrunkener Mann ihn vor dem Restaurant anpöbelte. Es begann mit Attacken auf die Siedlungspolitik, die Unterdrückung der Palästinenser – und gipfelte in der Bemerkung: „Ihr werdet alle in den Gaskammern landen.“

Weil die Freundin des Wirts die Szene mit ihrem Handy filmte, sah sie bald darauf via YouTube die halbe Welt – und registrierte entsetzt, was auf Berliner Straßen anscheinend wieder gesagt werden könne. War das nur ein verwirrter Einzelgänger? Dient der Nahostkonflikt den klassischen Judenhassern als Projektionsvorlage, als Rechtfertigung, auszusprechen, was über Jahrzehnte niemand gewagt hat? Sind die neuen Antisemiten das Feigenblatt für die alten?

„Kann man schon so sehen“, findet Avitall Gerstetter. Sie bekommt in letzter Zeit immer häufiger anonyme Anrufe wie diesen, vor einer Woche: „Was du machst, finden wir widerlich und ekelhaft!“ Und dann aufgelegt. Wie oft passiert das? „Schon öfter.“

Avitall Gerstetter erzählt von einem Versuch der Annäherung. Von der jungen Frau aus Syrien, die vor zwei Jahren bei einer szenischen Lesung mitarbeitete, „sie hat sich ein bisschen was für das Studium dazuverdient“. Und hat dann über Facebook ein Foto gepostet, auf dem auch ein Davidstern zu sehen war. Darauf habe der Vater aus Syrien angerufen und geschimpft: „Ihr verkauft meine Tochter an die Juden!“ So gehe das immer wieder, „du kommst an diese Leute ganz schlecht ran“.

Seit Jahren versucht sich Avitall Gerstetter als Vermittlerin. Obwohl sie sich nicht besonders für Fußball interessiert, hat sie ein Turnier ins Leben gerufen, den Avitall-Cup. Mit Mannschaften aller Konfessionen, auch ein atheistisches Team hat mitgekickt. „Das hat ganz gut funktioniert“, erzählt sie. „Mit Sport und Kultur kommst du an die Menschen ran“, auch dafür organisiert sie Lesung und Konzert am Samstag.

Es wird Zeit zum Aufbruch. Vor dem Konzert gibt es noch tausend Dinge zu tun, allzu lange mag sie sich dem Wind auf dem Breitscheidplatz auch nicht aussetzen. Die Stimme muss halten. Vier Jungs kommen vorbei, sie hören arabische Musik und setzen sich auf eine Steinbank vor der Gedächtniskirche. Hat sich schon mal ein muslimischer Schüler einer ihrer Fahrten nach Auschwitz angeschlossen? „Nein. Die Muslime sehen Auschwitz nicht als Teil ihrer Erinnerungskultur“, und deshalb ist es schon eine kleine Sensation, dass der Türkische Bund für das kommende Jahr seine Teilnahme angekündigt hat. „Ein schönes Zeichen“, sagt Avitall Gerstetter, und natürlich wird sie weiterkämpfen, was denn sonst?

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