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Was in guten Zeiten Theresa Mays Anziehungskraft auf viele Schichten und Milieus war, gilt in schlechten als graue Charakterlosigkeit.

© Daniel Leal-Olivas/AFP

Großbritannien in der Regierungskrise: Theresa May – die einsame Lady

Es ist der entscheidende Moment ihrer Amtszeit: Die Regierungskrise in Großbritannien bringt Premierministerin May kurz vor dem Brexit in Bedrängnis. Ihre Zukunft hängt nun, ausgerechnet, an Brüssel.

Und was macht Theresa May? Sie tut, was sie immer tut. Sie kämpft. Um ihre Zukunft, die des Landes, den Brexit, gegen Boris Johnson und die Brexit-Hardliner.

Am Montag war May-Day. Großbritanniens Außenminister Boris Johnson, der einen harten Austritt aus der EU gewollt hatte, hat stattdessen den harten Austritt aus der Regierung vollzogen. Bereits am Sonntag war der für eben jenen Brexit zuständige Minister David Davis zurückgetreten. May macht unbeirrt weiter, am Dienstagvormittag besucht sie einen Festakt anlässlich von 100 Jahren Royal Air Force in der Westminster Abbey, am Mittag twittert sie das Foto einer Sitzung ihres eiligst umgebauten Kabinetts: Diese sei „produktiv“ verlaufen. In weniger als 24 Stunden hatte sie die beiden Ministerposten neu besetzt.

Beim Stierkampf ist es so, dass der Stier ohnehin sterben muss. Das ist seine Bestimmung. Sobald die Wahl auf ihn fällt, kennen alle seine Aufgabe: Gut zu kämpfen, schön zu sterben. Den Applaus erhält der Stier für den guten Kampf.

Als Theresa May für die fast unmögliche Aufgabe gewählt wurde, ein gespaltenes Land geschlossen aus der EU zu führen, schien sie zuerst überfordert. Ihr Weg nach Downing Street hatte mit einem Witz begonnen: Eine Woche nach dem Brexit-Referendum präsentierte sich Theresa May als Kandidatin im Kampf um die Parteiführung der britischen Konservativen. Sie sei die Richtige, sagte May, weil sie anders als Boris Johnson Erfahrung bei EU-Verhandlungen habe. Das letzte Mal, dass Johnson mit den Deutschen verhandelt hatte, sagte sie, „kam er mit drei fast neuen Wasserwerfern zurück“.

Sie räumte Johnsons Schlamassel auf

Es war ein guter Witz. Ein paar Jahre zuvor hatte sich Johnson als Londoner Bürgermeister blamiert, nachdem er für eine Menge Geld drei 25 Jahre alte Wasserwerfer von der Bundespolizei gekauft hatte. Die Fahrzeuge waren in einem so schlechten Zustand, dass die damalige Innenministerin Theresa May ihren Einsatz verbieten musste.

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Zu dem Zeitpunkt galt Johnson immer noch als heißer Favorit, der nächste Premierminister zu werden. May, die Herausforderin, stellte sich selbst als seriöse Alternative dar. Als die, die Johnsons Schlamassel schon einmal aufgeräumt hatte.

Theresa May hat die komplexe Thematik des Brexit, dieses kaum entwirrbare Geflecht aus Beziehungen, mit einem unterkomplexen Sprachstil gekontert: der Tautologie. Irgendwo zwischen Dadaismus und Genialität. Die Formel: „Brexit means Brexit“ rettete sie über die ersten Monate, in denen ihre Regierung eigentlich längst hätte ausrechnen sollen, was verschiedene Szenarien für die Wirtschaft, Wissenschaft und Bevölkerung bedeuten. „Brexit means Brexit“ hatte May monatelang wiederholt, als gäbe es auf die vielfältigen Anforderungen eine eindeutige Antwort. „May-bot“ nannte man sie mit ihrem roboterartig sinnfreien Satz. Dahinter vermutete man lange, bestünde eine bestürzende Leere. Aber wahrscheinlich ist Leere das, was übrig bleibt, wenn sich jemand die eigene Überzeugung aus der Brust reißt: Theresa May war, bevor sie mit der klar umrissenen historischen Aufgabe, das Land aus der EU zu führen, Premierministerin wurde, für den Verbleib in der EU. Handelte sie bis dahin nach ihrer Überzeugung, musste sie nach der Wahl nach dem Auftrag der Wähler handeln. Jetzt sagt sie: „Die Wähler haben es verlangt. Wir liefern.“ Deliver!

Der Brexit: Eine völlig unwahrscheinliche Vorstellung

Ist es die Aufgabe von Politikern zu „liefern“? Oder sollen sie nach ihrer Überzeugung handeln und gestalten? Diese Frage stellt sich jetzt nicht mehr. Der Roboter ist programmiert. Er läuft. „Die Wähler haben uns einen Auftrag gegeben.“

Am Manic Monday, als in England die Regierung schwankt, die Minister hinschmeißen aus unterschiedlichen Motiven, erscheint der Austritt der Briten aus der EU erneut wie eine völlig unwahrscheinliche Vorstellung. Es sind nur noch neun Monate übrig. Unvorstellbar. Noch unvorstellbarer klingt es, wenn man sagt, dass es nur noch neun Treffen bei der EU in Straßburg sind, bis die Briten draußen sind. Und die Regierung steht mit leeren Händen da. In der vergangenen Woche meldete die Handelskammer, dass von 24 Fragen, die die Firmen beantwortet brauchen, um ihre Geschäfte nach einem Austritt weiterzuführen, gerade einmal zwei in der Bearbeitung sind.
Als alle Kabinettsmitglieder am Freitag im Herrenhaus Chequers den Plan zum geordneten Brexit-Austritt unterschrieben hatten, schien es zwei Tage lang, als ob ihr ein Wunder gelungen wäre. Dann traten Davis und Johnson zurück. Es wächst im Land die Bestürzung darüber, – englisch, Bestürzung: dismay –, dass die Regierung sich über dem ersten ausgearbeiteten Austritts-Plan nun selbst zerlegt.

Vermutlich würde die EU den Chequers-Kompromiss gerne annehmen, ätzt jemand am Montag im Unterhaus triefend vor Ironie. Schon weil es der erste Vorschlag ist, der es bislang auf Papier geschafft hat. „Yeah, yeah, yeah“, raunt es. Aber niemand verstehe, warum er einen weichen Brexit für Waren und Güter und einen harten für Dienstleistungen vorsehe. Lebe das Land nicht von der Finanzbranche?

„Wir werden liefern“, sagt May, während ihr in der Unterhausdebatte ihre mühsam gefundenen Kompromisse um die Ohren fliegen.

In Brüssel diskutiert man über mögliche Folgen für die Verhandlungen

Michel Barnier verfolgt unterdessen die britische Regierungskrise mit großer Aufmerksamkeit. Der 67-jährige Franzose ist der Brexit-Chefunterhändler der EU, deshalb ist sein Arbeitsplatz in Brüssel. In dieser Woche ist er allerdings in den USA unterwegs. Womöglich ist es ihm ganz recht, dass er von der anderen Seite des Atlantiks erst einmal zuschauen kann, wie sich das Drama um May weiter entwickelt. Am kommenden Freitag will er dann in Brüssel mit seinem Stab die Agenda für die nächste Brexit-Verhandlungsrunde mit den Briten vorbereiten, die in der kommenden Woche geplant ist.

Aber was kann man schon planen in diesen verrückten Londoner Tagen? In Brüssel macht zwischenzeitlich das – inzwischen wieder dementierte – Gerücht die Runde, dass May entgegen der ursprünglichen Planung ihr Weißbuch mit den Londoner Brexit-Vorschlägen doch noch nicht am kommenden Donnerstag vorlegen will, ihre Darlegungen, wie sie sich die künftigen Handelsbeziehungen mit der EU vorstellt. Aus Großbritannien heißt es stoisch: „Wir liefern.“

In der EU-Hauptstadt wird nun überlegt, welche Folgen die Londoner Regierungskrise für den weiteren Verhandlungsverlauf bei den Brexit-Gesprächen haben könnte. Soll Barnier auf seiner harten Verhandlungslinie beharren und damit riskieren, dass die Brexit-Hardliner der Hausherrin in der Downing Street dann das Heft endgültig aus der Hand nehmen?

Wer solche Gedankenspiele anstellt, bekommt in Brüssel zu hören, dass Mays politischer Spielraum schon immer äußerst gering war. Sehr genau wird in Brüssel jedenfalls registriert, dass die Brexit-Hardliner im Unterhaus derzeit keine Mehrheit für einen Sturz der Premierministerin finden können. Andererseits gehört es auch zur Verhandlungsstrategie, wenn die Londoner Krise auf der EU-Seite heruntergespielt wird. Jedenfalls drängt die Zeit: Der Fahrplan der Europäischen Union sieht vor, dass bis Oktober die Grundzüge der künftigen Handelsbeziehungen zwischen beiden Seiten ausverhandelt sind.

Anfeindungen von größter Schärfe

Die Gerüchte häufen sich, dass Boris Johnson nicht um der Sache willen zurückgetreten ist, sondern weil er selber Premier werden will.
Die Gerüchte häufen sich, dass Boris Johnson nicht um der Sache willen zurückgetreten ist, sondern weil er selber Premier werden will.

© Daniel Leal Olivas/ AFP

Schon wegen der Regeln im Unterhaus ist Theresa May die Stehauf-Frau. Alle Anwürfe kontert sie am Montag, auf jede Frage springt sie aus ihrem grünen Leder. Die Antworten begleitet von dem „yeah, yeah“, der Zustimmungen. Theresa May erträgt scheinbar alles stoisch. Gerät erstaunlich wenig ins Wanken. Als wären ungeheuer teure, perfekt choreografierte Outfits, spleenige Schuhe und ein stabiler Haar-Helm als Rüstung der Postmoderne geeignet, scheint alles an ihr abzuprallen.

Das Misstrauen ist groß, die Anfeindungen von größter Schärfe, aber wegen einer etwas skurrilen Regel im Unterhaus, nach der man sich nicht direkt anreden und keine Namen nennen darf, muss May alle ihre Gegner, auch ihre größten Widersacher, als „my right honourable friend“ adressieren. Ein wütender Haufen thront in den Rängen über ihr. Teils rot angelaufen. Theresa May ist ein Stier, die Arme aufgestützt aufs Pult, mit gesenktem Kopf schaut sie stumpf nach vorne. Ohne jemanden anzusehen. Nein, der Europäische Gerichtshof hätte nach dem Austritt keine Zuständigkeit mehr für die Belange der EU-Bürger in England.

„My right honourable friend.“

Keine erkennbare Regung, kein Zögern oder Überlegen. Beide Seiten benutzen das „Interesse des Landes“ für ihre Zwecke wie verfeindete Eltern das Kindeswohl.

Was das denn soll, wird sie gefragt: ein weicher Brexit für Güter und Waren, ein harter Brexit für Dienstleistungen wie die Finanzbranche? In einigen Wahlkreisen wollen die Brexit-Unterstützer sich nicht mehr politisch engagieren, so enttäuscht sind sie von dem Chequers-Kompromiss. Was sie ihnen jetzt sagen sollen?

„My right honourable friend“ ist meist gegen sie. „My right honourable friend“ hat ihr soeben eine Unfähigkeitsbescheinigung ausgestellt. „Haben Sie schon einen neuen Außenminister benannt?“ wird sie um kurz für fünf gefragt. Da kann sie nicht anders als lachen. Die meiste Zeit stand sie eben hier und hat die Fragen der Abgeordneten beantwortet.

Das bepinkelte Zelt

Als May seinerzeit Johnson überraschend zum Außenminister ernannte, agierte sie nach der Logik des sprichwörtlich bepinkelten Zelts. Sie hätte es lieber, dass der Clown der britischen Politik von innerhalb des Zelts herauspinkeln würde, als von außerhalb herein. Am Ende, wie es einer ihrer Vertrauten dem „Guardian“ sagte, pinkelte Johnson sogar von innerhalb herein.

Während May im Unterhaus noch ihren Brexit-Kompromiss verteidigte, häuften sich am Montag die Gerüchte, dass Boris Johnsons Rücktritt nicht über die Sache geschah. Sondern weil er selbst Premier werden will.
Droht also schon wieder der nächste Machtkampf bei den Konservativen? Kommt es abermals zum Duell um die Parteiführung zwischen Johnson und May? Am Montagabend kündigten zwei stellvertretende Vorsitzende der Torys, Maria Caulfield und Ben Bradley, ihre Rücktritte an, ebenfalls aus Protest gegen den „Chequers-Plan“.

Um die Vertrauensfrage zu stellen, müssen mindestens 48 Abgeordneten der Konservativen an das „1922-Komitee“ der Partei schreiben, das Verwaltungsorgan, das sich um solche Fragen kümmert.

Bei ihrem Amtsantritt präsentierte sich May als Vermittler. Vor dem Referendum war es die Sparpolitik der Konservativen, die Großbritannien am tiefsten gespalten hat. Sie verkündete sofort das Ende dieser Politik, wohl im Wissen, dass es mit dem Brexit genügend giftige Risse in der Gesellschaft gäbe. Sie hat sich als Premierministerin der kleinen Leute dargestellt, nicht der großen Ideen. In dem Moment, dachten viele, passte eine wie sie sehr gut in die Rolle. Sie war pragmatisch, nicht ideologisch. Sie war sachlich, nicht emotional. Mit ihrem Grammar-School-Akzent war sie auch klassenübergreifend: nicht zu posh, aber auch nicht zu bodenständig.

Das war auch einst Margaret Thatcher, und May hat die Vergleiche mit ihrer einzigen Vorgängerin ausgenutzt. Als Frau wusste May, dass ihr Aussehen viel mehr unter der Lupe gestellt wurde, als das eines Mannes. Wie einst Thatcher versuchte sie, davon zu profitieren, und mit ihrem Erscheinen Macht auszustrahlen. Thatcher hat es mit der Handtasche gemacht, May mit den Leopard-Schuhen.

Alleingelassen und krank

Was in guten Zeiten die universelle Anziehungskraft ist, gilt in schlechten Zeiten als graue Charakterlosigkeit. „Ich weiß immer noch nicht, wer sie ist“, sagte der BBC-Journalist Matthew Parris, als er sie vor einem Jahr porträtierte. In Parris’ Porträt wird May von alten Kollegen als konstruktive Pragamatikerin dargestellt, aber auch als Technokratin, die zu sehr von ihren Beratern abhängig ist.

May ist seit Juni 2017 wohl die einsamste Regierungschefin Europas. Nachdem sich ihr Land ein Jahr zuvor abgewandt hatte von Europa, hat sie bei vorgezogenen Neuwahlen auch noch ihre absolute Mehrheit verloren. Ständig erscheint sie als alleingelassene, kranke Premierministerin. Die einsame Lady.

Ihre Niederlage brachte sie in die Zwickmühle, in der sie jetzt steckt. Sie hatte weder ein Mandat für den harten Brexit, noch die Bedingungen für einen weichen. Ihre parlamentarische Mehrheit wurde nur durch die Hardliner der nordirischen DUP gesichert, und sie war so schwach, dass sie jederzeit von Johnson, Davis oder anderen gestürzt werden konnte. Dabei musste sie weitermachen. Weil kein anderer zu dem Zeitpunkt den Job wollte.

Stillstand war für Theresa May noch nie eine Option. Die Uhr tickt: Im März 2019 wird Großbritannien aus der EU austreten, und sollte es bis dahin kein Abkommen mit den 27 anderen Mitgliedsstaaten geben, droht die Insel, mit einem „No-Deal-Brexit“ ins wirtschaftliche Chaos zu verfallen. So musste May irgendwie einen Kompromiss finden, wo sie einen für die EU und die britischen Moderaten halbwegs akzeptablen weichen Brexit durchsetzen könnte, ohne von ihren Hardlinern gestürzt zu werden.

Der zurückgetretene Außenminister wäre „ein brillanter Premier“, sagte Jacob Rees-Mogg, Chef der „European Research Group“, einer extrem euroskeptischen parlamentarischen Gruppe von Konservativen. Johnson selbst hat seinen Rücktritt haargenau für Abgeordnete wie Rees-Mogg und Jenkyns inszeniert.

Johnson wäre nicht automatisch Premier

Doch für Rees-Mogg wäre das Vertrauensvotum auch ein Risiko. Johnson wird zunehmend als Scharlatan bezeichnet. Nicht nur der „Guardian“, auch Zeitungen wie „The Times“ haben ihn für sein Verhalten am Montag heftig kritisiert. Er ist zwar unter den Parteimitgliedern populär, aber bei einer Abstimmung unter den Abgeordneten wäre May die Favoritin. Sollten die May-Kritiker das Votum nicht gewinnen, müssten sie ein ganzes Jahr warten, ehe sie die Vertrauensfrage wieder stellen können. Bis dahin könnte der weiche Brexit vollzogen sein.

Und auch wenn sie May aus dem Weg bekämen, wäre Johnson nicht automatisch Premier. Möglich, dass sich ein anderer moderater Tory durchsetzt. Er könnte dann aus einer stärkeren Position als May den Chequers-Kompromiss realisieren.

So bleibt May, gerade weil sie so schwach ist, vielleicht doch die beste Option für alle Beteiligten. Könnte May, wie einst Margaret Thatcher, viel länger im Amt bleiben als erwartet.

Theresa May scheint am entscheidenden Moment ihrer Amtszeit angekommen. Vergeblich hat sie in den letzten zwei Jahren versucht, einen Balanceakt zwischen den Brexit-Hardlinern und den Moderaten zu vollführen. Dass eines der beiden Lager irgendwann nachgeben muss, war immer klar.

Ihr Versuch, nach beiden Seiten auszugleichen, wird ihr von den Anhängern des harten Brexit als Lavieren ausgelegt. Der Kompromiss, einst höchste Währung in der Kunst der Politik, ist gerade weltweit im Wert gefallen. Alle wollen nur noch kategorisch durchsetzen.

Anders als Merkel erledigt Theresa May ihre Gegner nicht, sie hält sie aus. Sie steht immer noch. Sie ist ein schöner Stier. Sie kämpft. Die Lanze im Rücken.

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