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In Toribío wird ein Gewehr der Farc zerlegt

© REUTERS

Frieden mit der Farc: Warnstufe Orange: Kolumbien bleibt gefährlich

Sie haben Holzstöcke, die anderen Gewehre. Sie mögen Spirituelles, die anderen Gewalt – das Nasa-Volk steht zwischen den Fronten. Staat und Farc haben nun Frieden geschlossen. Doch vor allem für Indios bleibt Kolumbien gefährlich.

Gabriel Pavi hat wieder eine Morddrohung erhalten. „Fette Ratte“, „dreifacher Hurensohn“ wird er darin genannt. „Dein Leben ist in unseren Händen!“ Unterzeichnet ist das Schreiben von den „Aguilas Negras“, den schwarzen Adlern. So nennen sich rechte Paramilitärs, die in Kolumbien für ihre Brutalität berüchtigt sind.

Pavi heftet das Schreiben zu den anderen Morddrohungen, die dieses Jahr im Sitz der indigenen Selbstverwaltung im Bergdorf Toribío eingetroffen sind. Zwei stammen von den „Aguilas Negras“. Eine andere, per Hand verfasste Drohung voller Rechtschreibfehler kommt von Anhängern der linken Farc, der größten Guerilla des Landes. Sie warnen, am Dorfplatz könnten „Explosivstoffe“ in die Luft fliegen. Ein weiteres Schreiben stammt von der „Sechsten Front“ der Farc selbst. Eine Kollegin von Pavi wird darin zum „militärischen Ziel“ erklärt, weil sie mit dem Staat kooperiere.

"Wir standen immer zwischen allen Fronten"

Zwei Drohungen von rechten Paramilitärs, zwei von linken Guerilleros. „Wir standen schon immer zwischen allen Fronten“, sagt Pavi. „Sogar jetzt noch, wo der Frieden an die Tür klopft.“ Gerade wurde in Kolumbien der Friedensvertrag zwischen der Regierung und der Farc vom Parlament in Bogota ratifiziert. Nun soll der jahrzehntelange Bürgerkrieg enden, die Kämpfer entwaffnet, eine Agrarreform gestartet und die Gewalt aufgearbeitet werden.

Gabriel Pavi, ein kompakter Mann von 48 Jahren, trägt einen dürren Schnauzer und ein weißes Leinenhemd mit buntem Kragen. Er ist Koordinator der „Guardia Indigena“, der Indio-Wache von Toribío, einer Lokalpolizei – mit einer Besonderheit. Sie wurde während des Bürgerkriegs von Indios des Nasa-Volks gegründet und ist mit traditionellen Holzstöcken ausgerüstet. Die Stöcke sind weniger Waffen als vielmehr Symbole für den Anspruch der Nasa, Herren über ihr Land zu sein. Sie wehren sich gegen die Guerilla, das Militär, die reguläre Polizei. „Wir wollten keine bewaffneten Gruppen in Toribío“, sagt Pavi. „Wir wollten den Krieg hier nicht. Die Stöcke sind unsere Unabhängigkeit.“

Nur gegen die Maschinenpistolen ihrer Feinde können sie zuweilen wenig ausrichten. Vor Pavi auf dem Schreibtisch liegt solch ein Knüppel aus rotbraunem Chonta-Hartholz. Er ist mit grünen und roten Bändern verziert. „Dank unserer Wache hat Toribío den Krieg überlebt“, sagt Pavi. „Aber jetzt beginnt die Zeit danach. Die Zeit des Post-Konflikts.“ Sie könnte, so scheint es, schwieriger werden als der Krieg selbst. „Neue Gruppen sind in der Region aufgetaucht“, sagt Pavi, „Diebe, Erpresser, oft von ehemaligen Paramilitärs oder Guerilleros gebildet.“ Pavi glaubt, dass sie hinter den Morddrohungen steckten, die ihn auch über das Handy erreichen. „Sie wollen uns einschüchtern. Unsere Wache behindert ihre Machenschaften.“

Pavi hat noch mehr Gründe, besorgt zu sein

Pavi hat noch mehr Gründe, besorgt zu sein. Zum ersten Mal hat er ein Graffiti der ELN in Toribío gesehen. Die ELN ist die zweitgrößte Guerilla des Landes; sie hat erst kürzlich Verhandlungen mit der Regierung aufgenommen. Zudem operieren in Kolumbien nach wie vor rechte Todesschwadrone. Allein in diesem Jahr töteten sie 70 Menschenrechtler, Umweltaktivisten und Bauernführer. Menschen wie Gabriel Pavi.

Frieden kann eine unübersichtliche Angelegenheit sein. Nach mehr als einem Jahrhundert Bürgerkrieg ist in Kolumbien wenig eindeutig. Das Land befindet sich in einer Zwischen-Ära. Zwar lehnte die kolumbianische Bevölkerung im Oktober einen ersten Friedensvertrag knapp und überraschend per Plebiszit ab. Doch die Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos und die Farc-Führung setzten sich sofort zusammen, um einen neuen Kontrakt aufzusetzen. Darin wurden auch Forderungen der rechten Opposition aufgenommen – etwa, Vermögen der Farc zur Entschädigung der Opfer zu nutzen und Anklagen gegen Farc-Kämpfer zehn Jahre lang zuzulassen. Nun geht es um die Umsetzung. Die Opposition etwa will nicht, dass die Farc als neue Partei bald Sitze im Parlament bekommt.

Es sind die alten Widersprüche Kolumbiens, die mit dem Friedensabkommen nicht verschwinden werden

In Toribío sind sie über das Abkommen glücklich. Hier hatten 80 Prozent der Wähler bereits für die Annahme des ersten Vertrags gestimmt. „Für uns war seine Ablehnung ein Schock“, sagt Gabriel Pavi. „Viele weinten. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass Menschen gegen den Frieden stimmen. Wir dachten, jetzt geht alles von vorn los.“

Im Bürgerkrieg starben mehr als 200 000 Menschen. Vier Millionen Menschen wurden vertrieben – in kaum einem Land der Welt gibt es mehr Binnenflüchtlinge, ganze Orte verschwanden. Besonders die Ureinwohner litten unter dem Konflikt, weil sie von allen Seiten als potenzielle Feinde gesehen wurden. Der Staat und die Paramilitärs betrachteten sie wegen ihrer kollektiven Strukturen und ihrer Armut als potenzielle Rekruten der Guerilla. Der Farc aber widersetzten sich die Indios, weil sie deren strenge Hierarchie und marxistische Doktrin ablehnten. Viele Dorfbewohner flüchteten in die Armenviertel der Städte.

Auch Toribío war ein solches Dorf. „Dies ist das meistgeschundene Dorf Kolumbiens“, sagt Alcebíades Escué. „Um keinen Ort wurde mehr gekämpft.“ Escué, ein kleiner Mann mit rundem Gesicht, ist der Bürgermeister von Toribío und seinen 2000 Einwohnern. Toribío, erklärt er, liege an einer strategisch wichtigen Position zwischen Anden und Pazifik. Das Dorf sei ein Transitpunkt – auch für Drogenschmuggel.

Umgeben von Bergen ist Toribío mit fruchtbaren Böden gesegnet: Bananen, Mangos, Maracujas, Kartoffeln, Tomaten. Das meiste wird von Kleinbauern angebaut, die sich selbst versorgen. Doch es gibt auch Coca-Felder und Cannabisplantagen, deren süßlicher Duft die Luft schwängert. Sogar Schlafmohn gedeiht an den Hängen. Rund 32 000 Menschen leben in der Region, fast alle gehören zum Nasa-Volk. „Wir haben eine lange Geschichte von Widerstand und Krieg“, sagt Bürgermeister Escué. „Nicht mal die Inkas konnten uns unterwerfen.“

Für die Farc war Toribío ein Symbol. Das Dorf liegt im Departement Cauca, einem der Geburtsorte der Guerilla. Hier eroberte sie 1965 die erste Ortschaft. In weiten Teilen der Anden war sie jahrzehntelang die einzige Ordnungsmacht. „Es war Ehrensache, einen Sohn oder eine Tochter bei den Farc zu haben“, sagt Escué. Man fürchtete nicht die Guerilla, sondern den Staat, der die Interessen der Großgrundbesitzer durchsetzte.

Lange Zeit stritt die Farc für die Kleinbauern, für eine gerechte Verteilung des Bodens. Irgendwann griffen sie zu Mitteln, die sich nicht mehr rechtfertigten ließen: Entführungen, Zwangsrekrutierung, Drogenhandel. Die Nasa-Indios, die mit ihren Vorstellungen von Gleichheit zwar selbst eine Form von Sozialismus leben, wollten sich dem nicht unterwerfen. „Die Farc sind autoritär. Sie haben keine Beziehung zu Mutter Natur“, sagt Escué. „Bei den Marxisten kommt alles vom Kopf, bei uns von Herzen.“

Der Klassenkampf der Guerilla prallte auf die Kosmologie der Ureinwohner. Die Nasa haben eine Philosophie entwickelt, die sie „Lebensplan“ nennen. „Sie vereint Werte wie Gegenseitigkeit, Prinzipien wie Spiritualität und Träume wie intakte Familien“, sagt Escué. „Für Kalaschnikows ist darin kein Platz.“ So wuchs um Toribío die Rivalität zwischen der Farc und den Nasa. Bis die Guerilla die indigene Verwaltung zum Feind erklärte. Die Nasa wiederum gründeten die „Guardia Indigena“, die Checkpoints errichtete und mit ihren traditionellen Chonta-Stöcken durch die Straßen patrouillierte. Das Ziel war es, bewaffnete Gruppe fernzuhalten.

„Der Krieg war oft stärker“ sagt Bürgermeister Escué. Im Dorf zeigt er auf die vielen Häuser, die von ihren Bewohnern renoviert werden, weil mit der Feuerpause so was wie Zuversicht eingekehrt sei. Dann läuft er zur Kaserne der regulären Polizei. Sie ist von Sandsäcken umgeben, Fässer voller Steine blockieren die Zufahrt. Der fensterlose Bau gleicht einem Bunker. In der Fassade klaffen Einschusslöcher. Jahrelang hatte die Farc es auf die Polizeistation abgesehen. „Sie schossen aus den Bergen. Fast jeden Tag schlugen Kugeln und Granaten im Dorf ein“, sagt Escué. „Nicht mal die Hunde trauten sich auf die Straße.“

Der heftigste Angriff erfolgte 2011

Der heftigste Angriff erfolgte 2011. Die Farc belud einen Bus mit Sprengstoff und ließ ihn auf die Station zufahren. Die Ladung explodierte in einer Menschenmenge, es war Markttag, drei Menschen starben, mehr als hundert wurden verletzt. Die Farc eroberte Toribío mehrfach. Die Armee schlug ohne Rücksicht zurück. „Die Soldaten behandelten uns wie Feinde. Sie behaupteten, wir würden mit der Farc gemeinsame Sache machen“, sagt Escué. Er zeigt auf einen Gipfel über Toribío. Dort errichtete das Militär eine Basis, obwohl der Berg den Nasa heilig ist. „Von dort beschossen die Soldaten einfache Bauern.“ Sie steckten sie in Farc-Uniformen und meldeten Erfolge im Kampf gegen die Guerilla. Damals mussten die Soldaten die „Abschussquoten“ erfüllen, die der frühere Präsident Àlvaro Uribe ausgegeben hatte.

Mit Ex-Präsident Uribe, der das Friedensabkommen bis heute erbittert bekämpft, hat Escué eigenen Erfahrungen gemacht. Er behauptete einmal, Escué hätte der Farc Geld gegeben. „Es war wie ein Todesurteil für mich“, sagt der Bürgermeister. Wegen dieser Lüge geriet Escué ins Visier rechter Paramilitärs, die Jagd auf jeden machen, den sie für einen Kommunisten halten. Bis heute terrorisieren sie die Ebenen. „Wenn ich ins Tal fahre“, sagt Escué, „muss ich fürchten, von den Paras entführt zu werden.“ Er zückt drei Handys. Mit einem davon teilt er der Indio-Wache seine Bewegungen mit.

Vor der Polizeistation wacht ein junger Mann hinter Sandsäcken. Er trägt schusssichere Weste, Helm, israelisches Gewehr. Andrés, seinen Nachnamen nennt er nicht, ist 21. „Wir halten uns zurück“, sagt er. Seine 80 Kameraden lassen sich im Ort so gut wie nicht blicken, bleiben in ihrem Bunkerbau. Nur vormittags stehen vier Polizisten unsicher vor der kleinen Bank von Toribío. Als der Kommandant am Abend einen Brief zur Post bringt, wird er von drei seiner Leute begleitet, die mit gezückten Waffen durch den Ort schleichen, als ob sie Feindesland erkunden. „Sie misshandelten Dorfbewohner, die sie für Farc-Leute hielten“, erzählt Escué. „Wir zerstörten ihre Sandsackstellungen.“ Die Vergangenheit ist in Toribío noch gegenwärtig. Aber wenigstens redet man miteinander.

Der Polizist sagt, es herrsche Warnstufe Orange

Der Polizist sagt, es herrsche Warnstufe Orange. Nicht mehr Rot, noch nicht Grün. „Solange der Friedensvertrag nicht in Kraft ist, kann die Situation jederzeit eskalieren.“ So wie vor zwei Jahren, als ein Farc-Kämpfer zwei Indio-Wachen erschoss. Damals nahmen hunderte Nasa mit ihren Chonta-Stöcken die Verfolgung auf. Sie stellten die Farc-Männer in den Bergen auf 3000 Metern und brachten sie vor ein Gericht. Der Vorfall belastete die Friedensverhandlungen.

Um Mitternacht stellen sich die Männer und Frauen an einem nahen Checkpoint im Schein ihrer Taschenlampen im Halbkreis auf. Wegen der Kälte verschränken sie die Arme am Körper, ziehen die Schultern hoch, wickeln sich enger in ihre Ponchos. In der Dunkelheit erstattet einer der Männer Lagebericht. Er sagt, dass an einer anderen Kontrollstelle Motorraddiebe gefasst worden seien. Außerdem hätten vier Vermummte ein Mitglied der Nasa-Verwaltung überfallen und sein Handy geraubt. Darauf seien die Nummern der Nasa-Führungskräfte gespeichert gewesen. Es gelte erhöhte Wachsamkeit, man vermute Paramilitärs dahinter. Die Wachen fassen ihre Chonta-Stöcke fester – als mit einem Schlag die Lichter in den Bergen angehen. Tausende LED-Lampen erhellen die Cannabis-Felder an den Hängen. Sechs Stunden vorher war das Licht in der Region abgeschaltet worden. So wie jeden Abend. Da viele Cannabisbauern den Strom illegal abzweigen, kappt ihnen das zuständige Energieunternehmen die Zufuhr – und bestraft die Nasa mit Dunkelheit. Cannabis-Anbau zu medizinischen Zwecken ist in Kolumbien erlaubt. Aber das meiste Cannabis um Toribío ist für den Drogenkonsum bestimmt, Zwischenhändler aus der Ebene kaufen die Ernten. Von der Indio-Verwaltung wird der Cannabis-Anbau nicht gern gesehen.

Aber was solle man machen, sagen die Nasa-Wachen, wenn für ein Kilo Marihuana umgerechnet 15 Euro gezahlt werde, während das Kilo Bohnen zwei Euro bringe. Es sind die alten Widersprüche Kolumbiens, die mit dem Friedensabkommen nicht verschwinden werden.

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