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Die Dirigentin Skryleva bei einem Konzert in Magdeburg.

© Nilz Böhme

Frauen in der Hochkultur: Dirigentinnen, bildet Banden!

Immer noch wird der Dirigentenberuf fast vollständig von Männercliquen dominiert. Mit der Hilfe anderer Frauen hat sich Anna Skryleva trotzdem durchgesetzt.

Von Markus Lücker

Am Abend, an dem Anna Skrylevas Suche ein Ende findet, will sie auffallen. Sie hat sich die knalligsten High Heels angezogen, die sie auftreiben konnte: rubinrot, zwölf Zentimeter hohe Absätze, mit Puscheln an den Fersen, die im Scheinwerferlicht glitzern. Die Dirigentin weiß, dass andere Frauen in ihrem Beruf schon oft für modische Auffälligkeit kritisiert wurden. Ihr großes Vorbild Simone Young musste sich anhören, sie laufe wie eine Domina herum. Der russische Dirigent Vasily Petrenko sagte, Männer seien die besseren Dirigenten, weil Frauen die Musiker mit ihren sexuellen Reizen ablenken würden.

Skryleva weiß, dass nach diesem Abend ebenfalls viele nur über ihr Outfit reden werden, nicht über ihre Arbeit. Es ist ihr aber nicht nur egal – es ist ihr Ziel. Sie will in Erinnerung bleiben. Bis heute kennt man sie in Dallas als die lady with the red shoes.

Sie tritt auf das Podest vor ihr Orchester. Um einer Violinistin die Hand zu schütteln, lehnt sie sich weit nach vorne, bis sie nur noch auf einem Bein balanciert. Eine kurze Verbeugung zum Publikum, die schulterlangen blonden Haare wippen nach vorne, die Dirigentin fängt grinsend mit ihrem Konzert an.

Skryleva ist eine Ausnahmeerscheinung. Die Deutsche Orchestervereinigung nennt aktuell 129 öffentlich geförderte Berufsorchester. Bei dreien steht eine Frau an der Spitze. Im nächsten Jahr werden zwei weitere dazukommen. Eine davon ist Ariane Matiakh in Halle, die andere ist Anna Skryleva. Im August 2019 wird sie die musikalische Leitung der Oper Magdeburg übernehmen. Sie bestimmt dann den Klang der Inszenierungen und mit der Intendantin zusammen den Spielplan, befindet darüber, welche Musiker eingeladen werden, probt mit dem Orchester und dirigiert es. Bei den Premieren kommt alles zusammen.

Arbeiten wie eine Managerin

Der Auftritt in High Heels vor drei Jahren in der Oper von Dallas wird zwar nicht der prestigeträchtigste ihrer Karriere, Anna Skryleva ist nur für drei Stücke auf der Bühne, den Rest des Programms füllen andere. Aber der Abend stand am Ende eines langen Erkenntnisprozesses, wie sie heute sagt: „Wer in der Musik ganz nach oben will, muss wie ein Manager arbeiten können.“

Gerade hat die 43-Jährige eine Probe mit ihrem künftigen Orchester hinter sich. Jetzt sitzt sie in einem italienischen Restaurant gegenüber der Magdeburger Oper und erzählt, während vor ihr die Nudeln mit Lachs kalt werden. Sie musste lernen, wie man Sponsoren überzeugt, sich vernetzt und Menschen anführt. Ein Trainer für Körpersprache brachte ihr bei, welche Haltung ihr nutzt, um als Führungsperson akzeptiert zu werden. Und wie sie sich mit der richtigen Optik selbst vermarkten kann. „Es reicht nicht, nur eine gute Dirigentin zu sein“, sagt sie. „Davon gibt es viele.“

Tatsächlich sind die deutschen Musikschulen seit Jahrzehnten voll mit Dirigentinnen in Ausbildung. Im Jahr 2000 machten Frauen rund ein Drittel der Studentenschaft aus. In den letzten Jahren stieg ihr Anteil auf mehr als 40 Prozent. Statt auf dem Posten der Chefdirigentin enden die Frauen jedoch meistens als Freiberuflerinnen vor kleineren Chören, auf Assistenzposten bei Kleinstadtorchestern. Oder sie hören ganz auf.

Dasselbe gilt auch für die meisten Männer, doch stehen ihre Chancen auf einen Spitzenposten statistisch gesehen deutlich besser. Auch weil sich die Frauen erstmal in den Männercliquen, Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen behaupten müssen, die in der Kulturbranche so verbreitet sind.

Unter der Elite am Konservatorium

Skrylevas Weg durch diese Hierarchien beginnt in Moskau. Auf Spaziergängen mit ihrem Vater drückt sie sich als Kind die Nase an der Glasfront der örtlichen Musikschule platt. Und auch die Anna Skryleva, die mehr als 35 Jahre später im Restaurant in Magdeburg sitzt, reißt beim Erzählen die Augen weit auf. Als würde sie von einem Märchenschloss sprechen. Hier will sie hin.

Elf Jahre geht Skryleva auf eine Musikschule für begabte Kinder, danach kommen fünf Jahre Tschaikowski-Konservatorium mit Spezialisierung aufs Klavier. Sie wird so gut, dass sie jedes Stück vom Blatt spielen kann, egal was man ihr vorlegt. Hier lernt die künftige Elite des Landes. Eine harte Zeit. Viele ihrer Mitschüler standen nach der Ausbildung erstmal vor einer Leere. Jahrelang hatten sie mit großen Versprechungen gelernt, ihr Instrument zu spielen. Und jetzt?

Skryleva verlässt Moskau und geht 1999 nach Berlin an die Universität der Künste. Sie entdeckt Richard Strauss, sie entdeckt Richard Wagner. Strauss probt sie nun auch in Magdeburg – und für einen Moment kommt die Musikerin aus ihr heraus, „Strauss muss horizontal gespielt werden, nicht vertikal“, erklärt sie.

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Der horizontale Klang sei wie ein Fluss. Skryleva schiebt ihre Handflächen vor ihren Augen parallel nebeneinander. Mal würden einzelne Ströme dazustoßen – sie spreizt den kleinen Finger ab. Mal würde sich der Fluss wieder spalten – die Hände gehen auseinander. Es sei die Aufgabe der Dirigentin, diese Ströme als gleichberechtigt zu koordinieren. Hier liegt ihre Begeisterung: bei einer Musik, die keine Hierarchien kennt.

Davon ist ihre Branche weit entfernt. Wie eng die Verbindungen unter den Männern sein können, wurde in den letzten Monaten deutlich. Vor knapp einem Jahr wurden mehrere prominente Dirigenten sexueller Übergriffe beschuldigt: James Levine, langjähriger Leiter der Metropolitan Opera in New York; Charles Dutoit, Chefdirigent beim Royal Philharmonic Orchestra in London, Daniele Gatti vom Concertgebouw-Orchester aus Amsterdam.

Die drei Dirigenten mussten ihre Posten schnell aufgeben. Doch zumindest Charles Dutoit fiel sanft. Neun Monate später kündigte die Philharmonie Sankt Petersburg an, der 82-Jährige werde zum „Ersten Gastdirigent“ des Orchesters. Aktueller Generalmusikdirektor der Philharmonie und Kopf hinter dem Engagement ist Juri Temirkanow, selbst lange Chefdirigent vom Royal Philharmonic Orchestra, wo Dutoit zuvor rausgeworfen wurde.

Skryleva und ihre Bande

Skrylevas Karriere ist gewissermaßen der Gegenentwurf dazu, die Verkörperung des alten Feministinnen-Slogans „Frauen, bildet Banden!“. Den Auftritt in Dallas und die Workshops für Führungsfähigkeiten verdankt sie einem amerikanischen Förderprogramm, das sich speziell an Dirigentinnen wendet. „Ich glaube nicht, dass ich ohne andere Frauen heute da wäre, wo ich jetzt bin“, sagt sie. Die anderen fünf Frauen von damals und die Dirigentinnen aus den Folgejahrgängen trifft sie bis heute regelmäßig. Skrylevas Bande, das sind Frauen wie Magdeburgs Intendantin Karen Stone, die sie nun an die Oper holte.

Über allen anderen Unterstützerinnen steht jedoch Simone Young. Die Australierin wechselte 2005 von der Oper in Sydney zu den Hamburger Philharmonikern, in Deutschland wird sie der erste Superstar unter den Dirigentinnen. Für Skryleva ist sie erst Vorbild, dann Mentorin, schließlich Freundin.

„Ich habe lange selbst nicht geglaubt, dass Frauen dirigieren können“, sagt Skryleva. Dirigenten, dass waren die Karajans, die Toscaninis. Große Männer, große Genies, große Egos. Frauen und Dirigieren, das hatte etwas Unvorstellbares an sich. In Moskau sei ihr eine einzige Dirigentin bekannt gewesen und die sei so mittelmäßig gewesen, dass ihr gesamter Bekanntenkreis über die Frau lästerte.

Die zukünftige Generalmusikdirektorin Skryleva zusammen mit ihrem Orchester
Die zukünftige Generalmusikdirektorin Skryleva zusammen mit ihrem Orchester

© Nilz Böhme

Anfang der 2000er Jahre erlebt sie in Berlin zum ersten Mal ein Konzert von Simone Young. Gespielt wird „Der fliegende Holländer“, jene Wagner-Komposition über einen verfluchten Schiffskapitän, der bis zum Ende der Zeit ziellos über die Weltmeere segeln muss, bis er von einer Frau erlöst wird.

Skryleva ist begeistert. Young widerspricht all ihren Vorstellungen. Eine Dirigentin, die ganz weich von einem Klang zum nächsten geht, die jedem Instrument seinen Raum lässt. „Und dann plötzlich baut sie sich auf, streckt die Arme nach oben wie ein Adler über dem Orchester.“ Das sei für Skryleva Weiblichkeit im Dirigieren: eine Gestaltenwandlerin zu sein. Ihr Entschluss stand fest: So wollte sie auch werden.

Sie sucht sich in Düsseldorf einen Lehrer fürs Dirigieren, ihr Weg führt sie weiter nach Köln und nach Hamburg. Zu Simone Young. Fünf Jahre lang arbeiten die beiden zusammen. Skryleva saugt alles auf. Menschen, die ihren Ausbildungsweg nicht kennen, sagen der Dirigentin noch Jahre später, ihre Körpersprache erinnere sie an Young.

Beruf und Familie

Es folgen Stationen in Flensburg und Darmstadt. Sie durchläuft die oft üblichen Posten: erst Korrepetitorin, verantwortlich für nachträgliche Proben mit den Instrumentalisten, dann 1. Kapellmeisterin, das musikalische Bindeglied zwischen Dirigent und Orchester. Parallel zieht sie mit ihrem Mann eine Tochter auf.

Weil der als Opernsänger ebenfalls viel unterwegs ist, suchen sie sich eine Betreuerin, die sich den ganzen Tag um das Kind kümmert. „Wir sind nun mal Künstler“, sagt Skryleva dazu. „Wir werden nie ein normales Leben führen.“ Mittlerweile wohnt die Familie in Berlin, die Eltern pendeln zu ihren Auftraggebern.

In Magdeburg steckt Skryleva in den ersten Proben mit ihrem künftigen Orchester. Für ihre Füße heißt das: Turnschuhe. Dazu trägt sie ein kleidlanges schwarzes Hemd. Auf dem Weg zum Dirigentenpodest richtet sie sich so kerzengerade auf, dass sie mehrere Zentimeter größer erscheint. Noch wird sie als Gastdirigentin geführt. Aber es soll der erste Auftritt seit der Bekanntgabe ihres neuen Postens werden – die Premiere vor der Premiere.

Eine Woche haben die Musiker Zeit, „einen Klang zu erarbeiten, einen gemeinsamen Gedanken zur Musik“, wie es Skryleva formuliert. Die Violinisten in den ersten Reihen spielen sich gerade noch warm, jeder für sich und in seinem eigenen Tempo. Eine Trompeterin trötet ein paar Töne, kichert in das Mundstück ihres Instruments, macht sich eine Notiz auf ihrem Notenblatt und trötet dann weiter.

In der letzten Reihe ganz rechts sitzt die Herrengruppe der Posaunisten, quatscht und wartet auf Anweisungen. Dann tritt die Dirigentin nach vorne, es wird still. Skryleva spricht ein paar Worte zur Tagesplanung, hebt den Taktstock – „und bitte!“

Der Klang baut sich auf, träge, über zwanzig Takte. Die Herrengruppe der Posaunisten spielt sich die Wangen rot. In der letzten Reihe scheint Skrylevas Podest weit entfernt, aber ihre Autorität muss auch bis dorthin reichen. Sie muss ankommen gegen die Blechbläser, die sich mit jedem Takt zu einem noch epochaleren Klang spielen, bis aller Klang nur noch Posaune ist. Skryleva hebt die Hand. Die Musiker setzen ihre Instrumente ab. „Bitte nicht so militärisch spielen“, sagt Skryleva. Anders formuliert: Wir sind keine Blaskapelle und ihr seid hier nicht alleine.

Etwas an andere Frauen zurückgeben

In Skrylevas Orchester ist kein Platz für Egos. Bei ihr heißt es nicht „wir machen das jetzt so!“, sondern „ich würde vorschlagen, dass wir es hiermit versuchen“. Andere Dirigenten würden sich vor dem Orchester zu halbstündigen Monologen über die Kindheit eines Komponisten hinreißen lassen. „Die Musiker brauchen das nicht“, sagt sie. „Die brauchen nur: dritter Takt, die Viertelnote mit dem Punkt bitte mehr espressivo spielen, danke.“

Die Orchestermitglieder beschreiben ihr Verhältnis zu der Dirigentin wie zu einer guten Schullehrerin. Es sei klar, wer den Laden anführt und es werde auch manchmal ruppig. Aber am Ende würden alle versuchen, auf Augenhöhe miteinander zu arbeiten.

All das, wie sie arbeitet, ihr Netzwerk von Unterstützerinnen, wie sie sich durchgesetzt hat – das habe nichts mit Feminismus zu tun, sagt Skryleva. Natürlich würde sie sich freuen, wenn sie mehr Kolleginnen hätte und wenn endlich eine Frau in Bayreuth spielen würde. „Aber ich will nicht, dass etwas als feministisch bezeichnet wird, was eigentlich ganz normal sein sollte.“

Ihre Zeit in Magdeburg will sie jetzt vor allem Komponistinnen widmen. Viele davon werden kaum gespielt und erst heute wieder langsam erschlossen. Die Französin Mélanie Bonis etwa, die ihre Kompositionen zu großen Teilen unter dem Pseudonym Mel Bonis veröffentlichte – die Öffentlichkeit sollte sie für einen Mann halten. „Viele dieser Komponistinnen sind große Künstlerinnen. Bei einem Mann würde man sagen: Klingt wie ein junger Strauss, aber weil es Frauen sind …“ – sie bricht den Satz ab und macht mit ihrer Hand eine Geste, als würde sie ein Stück Papier in einen Mülleimer werfen.

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