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Bürgermeister Martin Hikel bei einer der Razzien.

© Sven Darmer

Ein Bürgermeister will es wissen: Im Kampf gegen kriminelle Clans in Neukölln

Bürgermeister Martin Hikel, Nachfolger von Franziska Giffey in Neukölln, lernt seinen Bezirk neu kennen - auf Razzia mit der Polizei.

Die drei kräftig gebauten Männer vergessen einen Moment das Saugen an der Wasserpfeife, als zwei Dutzend Polizisten die Shisha-Bar einnehmen. Die Sommerabendwärme liegt über der Karl-Marx-Straße in Neukölln, die Polizisten, einige Zollbeamte, Mitarbeiter des Ordnungsamts, zwei Finanzbeamte und ein paar Leute vom Landeskriminalamt sind zum „Schwerpunkteinsatz“ verabredet und seit Stunden im Bezirk unterwegs. Martin Hikel, deutlich über zwei Meter groß, überragt sie alle. Still steht er in seinem hellgrauen Anzug in der Shisha-Bar, sieht sich um. Die beiden großen Spieltische in einem Hinterzimmer sind ihm nicht entgangen, jetzt steht er vor den Geldspielautomaten. „Überall stehen die Dinger“, sagt er nachdenklich. Im Hinterzimmer werde vermutlich um viel Geld gespielt – und hier, an den Automaten, säßen dann „die ärmsten Würstchen. Erschreckend“. Von der Geldwaschfunktion der Geldspielautomaten ganz zu schweigen.

Der Nachfolger von Franziska Giffey und Heinz Buschkowsky lernt gerade seinen Bezirk kennen. Oder eher: neu kennen. Aus der Perspektive desjenigen, von dem alle Problemlösungen erwarten. Aus der Perspektive des Bürgermeisters.

Vorher war Martin Hikel Bezirksverordneter, seit 2016 Vorsitzender der SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung. Dann wurde Franziska Giffey Bundesfamilienministerin. Und sagte, als Hikel mit ihr über eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger sprach: „Ich glaube, du kannst das.“

So schnell kann es gehen, und die Neuköllner Bürgermeister werden immer jünger. Buschkowsky war 43, als er erstmals das Amt übernahm, Giffey war 36. Hikel ist 32 und sieht sich auf der politischen Linie, die seine Vorgänger gezogen haben. Die Stichworte sind Bildung und Ordnung.

In der Shisha-Bar in der Karl-Marx- Straße hat ein großer Mann vom Zoll die Tresenkraft hinter dem Tresen hervorgeholt, auf dem, ordentlich gerahmt, ein Foto des Schwergewichtboxers Mike Tyson steht. An der Wand hängt solide befestigt eine große Flagge der Türkei. Der Barmann, die helle Basecap mit dem Schirm nach hinten, erweist sich als Syrer. Sein Deutsch reicht gerade so, um zu verstehen, was der Mann vom Zoll wissen will. Wo er wohne? In Hellersdorf. Wie viel er hier in der Bar bekomme? 200 Euro – im Monat. Ob er Geld vom Amt bekomme? Er und seine Frau auch, sagt der junge Mann. Sie hätten drei Kinder.

Schwarzarbeit ist einer von vielen Gründen für die Schwerpunkteinsätze, die Giffey eingeführt hat, zusammen mit der Einrichtung einer Staatsanwaltschaft vor Ort; die Staatsanwältin ist heute ausnahmsweise nicht dabei. Mal geht die Truppe aus Polizisten, Kriminalisten und Behördenvertretern in Automatenkasinos, mal in Imbisse, mal werden am S-Bahnhof Dealer überprüft. Es sind Signale in zwei Richtungen. In die Parallelwelten und Subkulturen: Wir haben euch im Blick. Und an die Neuköllner Normalbürger: Wir tun was. Wir erinnern an Regeln und Vorschriften. Wir gehen euren Hinweisen nach. Hier kann nicht jeder machen, was er will.

Im Hinterzimmer: Autoteile

Immer gibt es eine lange Liste interessanter Lokalitäten, zusammengestellt von einem Mitarbeiter Hikels in Absprache mit der Polizei und anderen Behörden. Die Shisha-Bar an der Karl-Marx- Straße ist an diesem Abend die dritte, die überprüft wird. Ein LKA-Mann sagt, die Bar sei ein Ausgangspunkt der Angriffe auf das bekannte Neuköllner Geschäft „Musik Bading“ gewesen. Die über Generationen geführte Musikalienhandlung war in der Silvesternacht in Flammen aufgegangen, nachdem Unbekannte Feuerwerkskörper hineingeworfen hatten. Danach war gerüchteweise von Kaufangeboten für das Haus zu hören – arabische Großfamilien investieren nach Informationen des Bezirksamts auf diese Weise kriminell beschafftes Geld. Außerdem gilt die Bar als Treffpunkt einer Truppe von Rockern und Kraftsportlern, die ein Rap-Label betreiben und sich in Youtube-Videos als harte Typen darstellen.

Der LKA-Mann sieht an diesem Abend schon das zweite bekannte Mitglied eines Araberclans. Der vierschrötige Alte, den der Mann schon mal in einem Rap-Video gesehen hat, beobachtet die Polizisten und Ordnungsamtsleute von draußen, bequem in einen Sessel zurückgelehnt, und bläst süßlich riechende Rauchwolken in den Nachthimmel. Leichte Nervosität zeigt sich allenfalls daran, dass er sich ohne Unterlass seinen langen Bart glatt streicht. Gegenüber, vor einem Imbiss, steht ein Pulk junger Männer mit verschränkten Armen, sämtlich mit Vollbart und Undercut und mit einem Grinsen, das man verächtlich nennen könnte. Entspannt beobachten sie die Aktion.

Hikel steht inzwischen vor dem letzten Zimmer des Ladenlokals und wundert sich: Der Raum enthält Autoteile. Vier Breitreifen auf Aluminiumfelgen. Eine Mittelkonsole. Teile einer Achse. Scheinwerfer und Rücklichter. Niemand in der Bar kann ihre Herkunft erklären, der Besitzer ist nicht da. Ein Lederlenkrad liegt, von Hand in Plastikfolie verpackt, wie versandfertig bereit. Der Einsatzleiter der Polizei bestellt einen Lastwagen: Die Teile werden abtransportiert und untersucht. Vielleicht können die Ermittler sie mit einem Autodiebstahl in Verbindung bringen.

Hikel kennt Neukölln seit vielen Jahren. Er ist hier zur Schule gegangen. Er wohnt im Neuköllner Norden, dem Teil des Bezirks, der lange nur prekär war und inzwischen so hip wie prekär ist. Das auch hier grassierende Mietenproblem und die Verdrängung erlebe der Bürgermeister im Bekanntenkreis, sagt einer, der Hikel schon lange kennt.

Von dem anderen Neukölln, dem der arabischen und türkischen Parallelgesellschaften, hatte Hikel bis vor ein paar Monaten nur eine Ahnung. Vier Jahre lang war er Lehrer. „Mathe und Politik“, sagt er und dass es ihm „schon nicht leicht gefallen“ sei, den Schuldienst für die Politik aufzugeben. „Man muss immer man selbst bleiben, dann funktioniert das auch“, sagt er, „die Schüler geben direkte Rückmeldung.“ Er spricht, man merkt es, gern über diese Zeit.

Die Grünen waren ihm zu "wohlfühlig"

Der Politiker Hikel macht den Eindruck, erst mal zuzuhören und hinzusehen, bevor er Botschaften verkündet. Da ist er – noch – weitaus zurückhaltender als Franziska Giffey und Heinz Buschkowsky. Anders als der bundesweit bekannte Ex-Bürgermeister, anders auch als Franziska Giffey provoziert Hikel nicht – oder noch nicht. Er ist ja auch erst seit März im Amt. Aber er ist klar und deutlich in seinen Ansichten. Im Gegensatz zu vielen anderen in der Berliner SPD lehnt Hikel das Kopftuch in Schulen und Behörden ab. „Ganz klar: Das Neutralitätsgesetz ist genau das Richtige. Der Staat sollte mit Religion nichts zu tun haben.“ Problematisch sei, dass Erzieherinnen in kommunalen Kitas laut einem Verfassungsgerichtsurteil ein Kopftuch tragen dürfen. Hikel meint, das Personal in den Kitas solle sich weltanschaulich zurückhalten. „Ich gehe auch nicht mit einem SPD-Shirt in die Schule.“

2005 hat er sich für die SPD entschieden, da war er 21. Auch die Grünen wären infrage gekommen, aber sie waren ihm dann doch, wie er sagt, „zu wohlfühlig“. An der SPD habe ihm gefallen, dass sie „immer noch für soziale Gerechtigkeit“ sei. Den Impuls für seinen Parteieintritt gab damals der bevorstehende Wahlkampf. Da habe er sich gesagt: „Ich mache jetzt Wahlkampf gegen Merkel für Schröder.“ Im aktuellen Neuköllner Betrieb will er fortsetzen, was mit Franziska Giffey begonnen hat. „Sie hat viel für den Bezirk geschafft“, sagt Hikel, die Politik für Neukölln habe man allerdings gemeinsam entwickelt. „Die Neuköllner SPD steht für einen pragmatischen Kurs.“

Und Buschkowsky? „Seine Deutlichkeit hat mich mit geprägt“, sagt Hikel, auch wenn er in der Analyse nicht immer einer Meinung mit dem bekannten Neuköllner Vormann sei. Buschkowsky habe erkannt, wie wichtig die Bildungspolitik für Neukölln sei, Giffey sah das ebenso. In Neukölln ist es üblich, in Schulen zu investieren, auch wenn es dafür kein zusätzliches Geld vom Land gibt. „Sollen wir deshalb nicht mehr investieren?“, fragt Hikel. „Nein, wir machen das, wir wollen die Schulen nicht kaputtsparen. Oder zum Beispiel Wachschutz. Sollte man nach entsprechenden Gewaltvorfällen ausschließlich Sozialarbeiter hinschicken? Besser, man stellt zusätzlich jemanden davor, der aufpasst.“ Auch sein Fokus liege auf der Bildungspolitik, sagt Hikel: „Aufstieg durch Bildung – ein ursozialdemokratisches Ziel“. Wie schon Buschkowsky will auch Hikel eine Kita-Pflicht. „Ich hoffe, dass sie kommt“, sagt er. Die Arbeit der – arabisch und türkisch sprechenden – Stadtteilmütter in Neukölln zeige: Wo sie hingehen, gebe es mehr Kita-Anmeldungen und also mehr Chancen für die Kinder, Deutsch zu lernen.

Teile der Neuköllner Bevölkerung sind von Integration weiter weg denn je. In keinem Bezirk haben so viele Menschen mit Migrationshintergrund einen „niedrigen Bildungsstand“, heißt es im Neuköllner Sozialbericht 2017. Hikels Vorgängerin Giffey hat immer wieder auf den gerade in Neukölln häufig erkennbaren Zusammenhang zwischen Bildungsferne, Migrationshintergrund und Armut hingewiesen. Zuwanderer aus arabischen Ländern etwa suchen eher Anschluss an die existierenden Migranten-Communities.

Schlagader Sonnenallee

So leben Teile der Neuköllner Bevölkerung beinahe vollständig in einer Parallelwelt. Die Sonnenallee ist deren Schlagader. Zartgliedrige junge Frauen rollen mit ihren Fahrrädern in Hinterhöfe, um zum Yogakurs zu gehen. Vorne sitzen Männer mit schwarzen Bärten vor den Cafés, küssen sich zur Begrüßung auf die Wangen und setzten sich, um zu reden und Karten zu spielen: zwei Lebenswelten, die sich nicht berühren.

Hikel würde nicht bestreiten, dass sich gerade die arabisch sprechenden Bevölkerung abschottet. „Die Community ist hier nie akzeptiert worden“, sagt er. „Das größte Integrationshindernis ist die Duldung.“ Die Mitglieder polizeibekannter Großfamilien kamen als Flüchtlinge aus dem Libanon und Palästina und blieben ohne Arbeitserlaubnis. Über die Schwerpunkteinsätze, mit denen jetzt Druck auf die Clans ausgeübt wird, sagt Hikel, sie seien „Nadelstiche“. Dazu müsse „aktive Integrationsarbeit“ kommen. Den Clans werde gezeigt, dass man sie „aktiv im Blick“ habe. „Und sie wissen das.“

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Hikel hat die Beschlagnahmung der Staatsanwaltschaft, die vor ein paar Tagen Immobilien und eine Kleingartenanlage im Wert von zehn Millionen Euro der Verfügungsgewalt eines Clans entzog, begrüßt. Es sei schon bei dem amerikanischen Gangster Al Capone richtig gewesen, der Spur des Geldes zu folgen, hatte Hikel gesagt. Daraufhin hielt ihm der Chef der CDU-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Inkonsequenz vor: Hikel habe einen Antrag der CDU abgelehnt, Daten von Zuweisungsempfängern mit Kraftfahrzeughalterdaten abzugleichen, um herauszufinden, wer vom Staat lebt und zum Beispiel einen AMG-Mercedes fährt. Hikel lächelt freundlich und sagt, er habe dem Antrag nicht zugestimmt, weil dieser Datenabgleich längst praktiziert werde. Solche Angriffe „sehe ich entspannt. Das ist auch dringend notwendig. Wenn man nicht entspannt ist, kann man nicht richtig einschätzen, was hier passiert ...“

An diesem Abend erlebt der Bürgermeister das harte Neuköllner Kontrastprogramm. Bevor er sich der Schwerpunktaktion angeschlossen hat, war er bei den Kleingärtnern. Auch die gehören, wenn man so will, zu den Neuköllner Großfamilien. Er sei gern bei den Kleingärtnern, sagt Hikel, die „tragen das Herz auf der Zunge“. Überhaupt, Neukölln könne man auf die Begriffe „Bienenstich und Baklava“ bringen – Ersteres für die Menschen in den Laubenkolonien, Zweiteres für die Migranten und ihre Kulturen.

Aber, da schimmert seine Nach-Mauerfall-Sozialisierung durch, die Kleingärtner könnten sich nicht mehr darauf verlassen, dass sie, wie zu West-Berliner-Zeiten, eine „Sonderbehandlung“ bekämen. Im geteilten Berlin waren die Laubenpieper eine politische Kraft eigener Art – niemand wagte, ihre Interessen infrage zu stellen. Die Laubenkolonien hätten eine „wichtige Funktion“ als Grün-Oasen. Aber sie müssten auch „die Regeln einhalten“. Man ahnt hinter diesen Worten den Konflikt um Grundstücke, die als Gärten noch für viele Jahre unter Schutz gestellt – oder in wenigen Jahren zum Wohnungsbau genutzt werden könnten.

Freitagabend der Gegensätze

Der Bürgermeister steigt zu den Polizisten ins Auto und fährt weiter durch seinen Freitagabend der Gegensätze: Shisha-Bar Nummer vier, gelegen in der Treptower Straße. Hikel seufzt beim Eintreten – der Rauch kann einem den Atem verschlagen, von den Kohlen in den Wasserpfeifen steigt Kohlenmonoxid auf.

Der Schwerpunkteinsatz nimmt seinen Lauf, Verantwortliche werden gesucht, Personalien überprüft, Räume kontrolliert. Einer von Hikels ersten politischen Vorstößen im Rat der Bürgermeister hat seinen Ursprung in diesen Schwerpunkteinsätzen: Shisha-Bars sollten künftig als „Sonderbauten“ registriert und geführt werden. Dann müssten ihre Betreiber zum Beispiel Brandschutzvorschriften beachten. Tatsächlich würden die Polstermöbel hier in Sekunden in Flammen stehen, würde eine der offenen Wasserpfeifen mit ihren Kohlestücken umstürzen.

Interessanter als die Bar ist die Kombination aus Bäckerei und Supermarkt im Kellergeschoss. Eine gute Stunde wird deren Kontrolle dauern. Hikel schlendert im Licht der Leuchtstoffröhren durch die Räume und hört, was seine Mitarbeiter bemängeln: Das Transportband für das Brot muss mit großen Ventilatoren gekühlt werden, die elektrische Verkabelung ist nicht geschützt, im Raum dürfte es an die vierzig Grad heiß sein. Martin Hikels Arbeitstag endet gegen ein Uhr am Samstagmorgen. Er hat Neues gesehen in seinem Bezirk.

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