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Abdul Adhim Kamouss, 38, vor dem Bahnhof Gesundbrunnen.

© Thilo Rückeis

Der Wandel des Berliner „Quassel-Imam“: Wie Abdul Adhim Kamouss den Islam entstauben will

Bei Günther Jauch redete er sich in Rage. Dabei hat sich Abdul Adhim Kamouss längst geändert, sagt er. Nun wird er selbst von Extremisten bedroht.

Der Mann, den sie Hassprediger nannten, steht mit dem Rücken zur holzvertäfelten Wand und predigt Milde. Eine Milde, die Menschen füreinander aufbringen sollten, so wie auch Gott sie den Menschen entgegenbringe. Unter der Decke rotieren vier große Ventilatoren, die Gläubigen im Gebetsraum der Weddinger Bilal-Moschee hocken dicht nebeneinander. Wer keinen Platz gefunden hat, sitzt draußen im Hof auf Teppichen.

Der Mann, der ein Fanatiker sein soll, spricht von einem schenkenden, vergebenden, belohnenden Gott. Er predigt schnell und aufgeregt, so eindringlich, als bleibe ihm genau diese eine Chance heute, die Menschen zu überzeugen. Zwischendurch lässt er sich ein Taschentuch reichen, wegen der Schweißtropfen auf seiner Stirn. Dann bittet er Allah, den Deutschen ihren Wohlstand zu bewahren. Zum Schluss sagt der Mann, von dem es heißt, er habe junge Menschen in den Dschihad getrieben: „Oh Allah, schütze Deutschland vor Neidern, vor Verderbern und vor Terroristen.“

Man kann kaum glauben, dass Abdul Adhim Kamouss, 38, derselbe Mann ist, der vor anderthalb Jahren bei Günther Jauch in der Sendung saß. Thema: „Gewalt im Namen Allahs - wie denken unsere Muslime?“ Da redete er sich so in Rage, dass er danach deutschlandweit als „Quassel-Imam“ bekannt war - und vielen bis heute als Salafist gilt. Er selbst sagt, er habe sich gewandelt, schon lange vor der Jauch-Sendung. Berliner Sicherheitskreise bestätigen das. Kamouss sagt auch, dass es Zeit sei, „den Staub von unserer Religion zu entfernen“. Deswegen wird er jetzt von Radikalen beschimpft. Weil er es wagt, Christen und Juden nicht Kuffar zu nennen - Gottesleugner. Weil er es wagt, alte Verbote infrage zu stellen. Es gibt Morddrohungen gegen ihn.

Kamouss sagt, er wäre gern ein Brückenbauer. Ein Vermittler zwischen den Kulturen und Religionen. Er sagt aber auch, dass er sich oft wie einer fühle, der zwischen allen Stühlen sitzt. Der radikalen Muslimen als Verräter gilt und für viele Nicht-Muslime trotzdem auf ewig der Fanatiker sein wird. Wie ist er da reingerutscht? „Ich kann es Ihnen gern erklären“, sagt er.

Donnerstagvormittag in einem Café in Wedding, nahe dem U-Bahnhof Pankstraße. Von hier ist es nicht weit zur Bilal-Moschee, auch nicht zur Al-Iman-Moschee, wo Kamouss ebenfalls regelmäßig predigt. Bis vor zwei Jahren unterrichtete er sonntags in der berüchtigten Neuköllner Al-Nur-Moschee. Die gilt laut Verfassungsschutz als Salafistentreff, nicht nur, aber auch. Hier flehte ein Gastprediger Allah an, er möge die „zionistischen Juden“ vernichten. Hier verkehrten Männer wie Denis Cuspert, die sich später dem „Islamischen Staat“ anschlossen.

Abdul Adhim Kamouss sagt: „Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was bei mir falsch gelaufen ist.“

Wurde er bei Jauch in eine Rolle gepresst?

Jauchs Sendung nennt er „ein großes Unglück“. Er war kurzfristig eingeladen worden, zwei Tage vor der Show, als Ersatz für einen anderen Imam. Er sei dann ungehalten geworden, weil er sich missverstanden und in eine Rolle gepresst gefühlt habe. Die des starrsinnigen Fundamentalisten. Dabei habe seine Verwandlung doch viel früher begonnen. „Ich denke, sie haben 2014 den Abdul Adhim Kamouss von 2006 in die Sendung geladen.“

Er ist in Marokko geboren, wuchs gemäßigt religiös auf. Sein Vater betrieb einen Freizeitpark. Er selbst trat im Fernsehen im dortigen Kinderkanal auf, sang, spielte Theater. Später bekam er eine Rolle in einer Fernsehserie, doch die Mutter sagte: Konzentrier dich auf die Schule. Mehr und mehr interessierte er sich für den Koran. 1997, da war er 19, ging er zum Studium nach Deutschland. Erst Leipzig, dann Berlin. Schloss als Diplom-Ingenieur in Elektrotechnik ab, arbeitete am Fraunhofer-Institut. Heiratete eine Deutsche, wollte eine große Familie. Heute hat er fünf Kinder.

Weil er über eine angenehme, melodiöse Stimme verfügt, weil er redegewandt ist, Menschen begeistern kann und das auch weiß, predigt er, seit er 24 ist. „Ich war damals unerfahren, unreif und realitätsfern“, sagt er. Einmal behauptete er, Ehefrauen dürften ohne Erlaubnis ihrer Männer nicht das Haus verlassen.

Kamouss sagt, er habe niemals Hass gelehrt. Nie zur Gewalt aufgerufen. „Deshalb verstand ich nicht, als man mir vorwarf, ich würde Muslime radikalisieren, eine Durchlaufstation sein für die Extremen in Deutschland. Ich dachte: Na, ich doch nicht, die tun mir Unrecht. Die haben ja keine Ahnung.“ Und dass er sich vor solchen Menschen für gar nichts rechtfertigen müsse. Er hat gelacht, als er im Verfassungsschutzbericht 2009 seinen Namen las. So ging das jahrelang, bis er eines Tages stutzte: Moment mal, vielleicht haben die ja recht? Vielleicht habe ich wirklich Menschen auf den falschen Weg gebracht, ohne es zu wollen?

Was Ex-Innensenator Körting mit dem Wandel zu tun hat

Abdul Adhim Kamouss, 38, vor dem Bahnhof Gesundbrunnen.
Abdul Adhim Kamouss, 38, vor dem Bahnhof Gesundbrunnen.

© Thilo Rückeis

Er kann diesen Moment recht genau erinnern, und Berlins früherer Innensenator Ehrhart Körting spielt dabei eine zentrale Rolle. 2010 lud Körting eine Reihe von Berliner Imamen zum Kennenlerngespräch. Kamouss war skeptisch. Erst nach dem Treffen habe er sich gewundert. Seltsam, dachte er sich. Wäre er selbst Innensenator, würde er erst mal ein paar der radikalen Moscheen verbieten. „Da ging mir auf, dass Herr Körting viel offener, viel toleranter war als ich selbst.“ Das war der Knackpunkt, sagt er. Der Beginn seiner Reflexion. Er las viel in den nächsten Monaten. Zuerst islamische Lehrmeinungen, die er bis dahin strikt abgelehnt hatte. Er lernte, dass die Religion viel flexibler war, nicht so verkrampft wie er selbst. Dass es schon vor Jahrhunderten islamische Freidenker gab, deren Meinungen unterdrückt wurden. Dann entdeckte er Literatur und Philosophie. Verschlang Tolstoi, Marx und Nietzsche. Wenn Kamouss davon im Café erzählt, wirkt er begeistert wie ein Kleinkind, das gerade ein Geschenk auspackt. „Irgendwann wusste ich: Jetzt darf es gar keine Denktabus mehr geben.“ Da sei nichts, über das Muslime nicht diskutieren dürften.

Kamouss weiß von Leuten, die früher seine Predigten besucht und später für den „Islamischen Staat“ in Syrien oder im Irak gemordet haben. Eine Handvoll, sehr wenige im Vergleich zu den Tausenden, die ihm im Laufe der Jahre zuhörten. Aber ja, für diese Menschen sei er wohl tatsächlich eine Durchlaufstation gewesen. „Das ist meine Schuld, obwohl ich es nicht gewollt habe.“ Manchmal schreiben ehemalige Schüler aus Syrien, zuletzt im Sommer 2015. Eine Woche lang habe Kamouss mit dem IS-Kämpfer über Whatsapp diskutiert, versucht, ihn von dessen Weg abzubringen. Am Ende habe ihm der Mann geschrieben, er sei jetzt aufgewacht und wolle da weg. Kamouss hat nie wieder von ihm gehört.

Der Prediger sagt, er habe früher Fehler gemacht. Viele Fehler. Heute hat er eine präzise Vorstellung davon, wie das damals abgelaufen sein könnte mit der Radikalisierung. „Ich und auch andere Prediger haben immer nur über Gut und Böse geredet, über richtiges und falsches Verhalten sowie dessen Konsequenzen.“ Über Muslime, die ins Paradies kommen würden, und Ungläubige, die in der Hölle schmoren. Diese Einteilung habe dazu geführt, dass sich Muslime als etwas Besseres fühlten. „Das ist natürlich schlecht. Das gehört sich nicht für einen Moslem.“ Er sagt, er habe damals nicht überlegt, was seine Worte bei Zuhörern auslösen konnten. Statt auf Menschen herabzublicken, die angeblich in der Logik des Islam in der Hölle landen, sei es Aufgabe jedes Muslims, sein eigenes Herz zu öffnen. „Keine Feindschaft, keinen Groll, kein Neid oder Hochmut im Herzen zu tragen, darum geht es.“

Radikale bedrohen ihn jetzt

Aus der Szene wird er bedroht und beleidigt. Der radikale Berliner Prediger Ahmad Abul Baraa warnt alle Muslime davor, Kamouss zu vertrauen. Weil der die Gläubigen betrüge. Ganz schlimm sei, dass Kamouss behaupte, die meisten Menschen kämen nach ihrem Tod ins Paradies. Das sei gelogen, sagt Baraa. Die meisten Menschen kämen bekanntlich in die Hölle.

Auf Kamouss Facebook-Seite gibt es wütende Kommentare von Menschen, die ihn beschimpfen und seine liberalen Botschaften verdammen. Kamouss löscht sie nicht. Er sagt, er wolle den deutschen Muslimen einen Spiegel vorhalten, ihnen zeigen, wie unzivilisiert manche seien. „Das ist eine schmerzhafte Erkenntnis, es tut weh, deswegen sollen die Kommentare dort bleiben.“

Ist seine Wandlung glaubhaft - oder geht man diesem Kerl in die Falle, wenn man ihn für harmlos hält? In Verfassungsschutzberichten taucht sein Name seit Jahren nicht mehr auf. In Berliner Sicherheitskreisen heißt es, es gebe keine Anzeichen dafür, dass Kamouss noch Kontakte zu Salafisten pflege. Im Gegenteil: Dieser Mann könne eine wichtige Rolle dabei spielen, deutsche Muslime von Irrwegen abzuhalten. Claudia Dantschke, eine der renommiertesten Islamismusexpertinnen des Landes, bestätigt den Wandel des Predigers, sie sagt, sie stehe mit Kamouss in engem Kontakt und unterstütze ihn: „Mit seiner Biografie kann er positiven Einfluss nehmen auf andere, das kann man gar nicht mit Geld aufwiegen.“ Gerade in einer Zeit, da der extreme Islam Zulauf bekommt. 710 Salafisten gibt es inzwischen in Berlin, 380 davon gelten als gewaltorientiert, dazu kommen hunderte Islamisten anderer Strömungen.

Kamouss selbst glaubt, er habe gegenüber dem Durchschnittsdeutschen einen Vorteil. Er könne jungen Muslimen ansehen, ob eine Radikalisierungsgefahr bestehe oder nicht. Die spreche er dann gezielt an.

Woran erkennen Sie solche Leute, Herr Kamouss?

Er sagt, ein erster Hinweis sei, wenn jemand im Unterricht alles ganz genau wissen wolle. Jedes kleine Detail, und sei es nur die korrekte Ausführung eines Rituals. „Das sind Menschen, deren Antrieb die Angst vor Strafe ist.“ Die nicht im Blick hätten, dass Gott auch gütig sei, dass bereits die gute Absicht zähle. „Sie sind verkrampft, ganz verknotet.“

Was er über Homosexualität im Islam sagt

Um den Staub aus seiner Religion zu entfernen, nimmt Kamouss zu Hause in seinem Wohnzimmer Vorträge auf, die er später ins Internet stellt. Da sitzt er lässig in einem Drehstuhl vor seiner Bücherwand, ab und zu läuft eines seiner Kinder ins Bild. In den Videos versucht er nachzuweisen, dass viele der strikten Verhaltensregeln gar nicht im Koran befohlen seien, sondern sich kulturell entwickelt hätten. Er doziert darüber, warum Männer fremden Frauen sehr wohl die Hand geben dürften. Weshalb Singen und Musizieren erlaubt seien. Wirbel gab es um seinen Vortrag mit dem Titel „Die Homosexualität im Islam“. Darin erklärte er, im Koran gelte der homosexuelle Akt als haram und schändlich, genau wie Ehebruch, Alkoholtrinken oder das Essen von Schweinefleisch. Aber, sagt Kamouss: Wer gebe einem Muslim deshalb das Recht, einen Homosexuellen zu beleidigen oder gar zu bedrohen? „Niemand“, sagt Kamouss. „niemand gibt dir das Recht.“ Stattdessen sei es die Pflicht des Muslims, Lesben wie Schwulen respektvoll auf Augenhöhe zu begegnen, sie als Menschen zu achten. Und natürlich ihre Sexualität zu dulden.

Er weiß, das Radikalenstigma wird ihm weiter anhaften. Noch im November 2015 ließ eine Berliner Boulevardzeitung einen vermeintlichen Ermittler zu Wort kommen, der anonym bezeugte, Kamouss habe „zwei Gesichter“ und sei viel radikaler, als er in der Öffentlichkeit zugebe. Das ist sehr seltsam, weil es das Gegenteil dessen ist, wovon Berliner Sicherheitskreise ausgehen. Nun könnte der anonyme Ermittler falsch zitiert worden sein. Er könnte auch ein Hochstapler sein oder in Wahrheit gar nicht existieren. Klar ist nur: Er hat nicht im Namen der Beamten gesprochen, die in Berlin tatsächlich die Salafistenszene beobachten.

Abdul Adhim Kamouss will seine Präventionsarbeit ausweiten, auf mehr Schultern verteilen. Er wird eine Stiftung aufbauen, sie befindet sich gerade in Gründung.

Manche Themen, über die er in seinen Vorträgen aufklärt, wirken auf Außenstehende banal. Dabei sind es radikale Tabubrüche. Zum Beispiel: „Der Hund im Islam.“ Der Prediger sagt, dieses Tier werde in der islamischen Welt, besonders der arabischen, schlecht behandelt, mitunter gequält, weil es angeblich unrein sei. Abdul Adhim Kamouss nennt Hunde „wunderschöne Geschöpfe Gottes“. Er sagt, er möge es, Hunde in den Arm zu nehmen. Und er wisse, dass man mit so einem scheinbar banalen Satz ganz wunderbar Staub entfernen könne.

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