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Parkwächter. In Mitte gibt es Gegenden, in denen „nur noch kurzfristig und nur mit geballten Kräften ordnungsgemäße Zustände“ hergestellt werden können, sagt Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel.

© Mike Wolff

Bezirksbürgermeister kämpft gegen Verwahrlosung: Der grüne Tabubrecher von Berlin-Mitte

Ein Obdachlosencamp, ein Mord, Müll und Prostitution: Der Berliner Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel will aus der Gefahrenzone im Berliner Tiergarten wieder einen Park machen.

Sie sind fast alle weg, erstmal. Ein einsamer Schläfer liegt an diesem Vormittag noch im Schlafsack auf dem Betonfundament der Bahntrasse am Berliner Zoo. Die anderen Obdachlosen, die im Sommer ein Zeltdorf entlang der Gleise errichtet hatten, haben sich nach anderen Aufenthaltsorten umgesehen. Das sei, sagt Stephan von Dassel, eine Folge der Diskussion der vergangenen Tage über die Notwendigkeit, solche Zeltlager zu räumen. Die habe sich unter den Obdachlosen herumgesprochen. Die Erfahrung lehrt, bald werden sie zurück sein.

Dassel ist der Bürgermeister des Bezirks Mitte, und er hat die Debatte begonnen. Nicht bloß weil er ein Grüner ist, hat er große Aufmerksamkeit für seine Forderung bekommen, den Tiergarten, „unsere Parks und Gärten wieder zum Erholungsort für alle Menschen in Berlin zu machen“. Wohnungslose aus Mittel- und Osteuropa, sagte Dassel, sollten notfalls abgeschoben werden. Es gehe um etwa 50 „besonders aggressive“ Menschen.

Da geriert sich einer aus dem linken Berliner Landesverband als Ober-Realo und spricht sich gegen „Denkverbote“ im Umgang mit den Obdachlosen aus. Setzt da einer ein Zeichen in Richtung Bundespolitik, das bedeutet, dass Grüne auch realistisch und politisch unkorrekt über Probleme reden können?

Die Grünen sind schon gezähmt?

Dann würde Stephan von Dassel wie das Gegengewicht zu der frisch in den Bundestag gewählten grünen Fundamentalistin Canan Bayram aus Friedrichshain wirken. Sie hatte als erstes festgestellt, dass sie von einer Jamaika-Koalition nichts hält. Oder ist es – umgekehrt – so, dass Dassel mit seinem Radikal-Realo-Ansatz seiner Partei in Zeiten der Jamaika-Verhandlungen Spielräume nimmt, nach dem Motto: Die Grünen sind schon gezähmt, bevor überhaupt gestritten wird?

Dem Verursacher des Rumors ist das alles offenbar gleichgültig. Dassel gehört nicht zu den Politikern, die sich strecken, wenn Kameras zu sehen sind. Erst hat er die Aufregung provoziert – jetzt will er sie nutzen. „Wir haben inzwischen Flecken, wo das Grünflächenamt, das Ordnungsamt und auch die Polizei nur noch kurzfristig und nur mit geballten Kräften noch ordnungsgemäße Zustände herstellen können“, sagt Dassel. Auf einer Mitarbeiterversammlung sei ihm gesagt worden, die Verwahrlosung des Tiergartens, die Pöbeleien hier würden monatlich schlimmer. „Das waren nicht wenige – das waren alle!“

Eher Müllhalde als Stadtpark

Beim Ortstermin im Tiergarten, nicht weit von der Bahntrasse entfernt, zeigt Markus Schwenke ein paar Beweisfotos vom vergangenen Sommer. Schwenke ist der Revierleiter des Grünflächenamtes. Die Sammelsurien aus alten Kleidungsstücken, Schlafsäcken, Verpackungen und Matratzen sehen eher nach Müllhalde als nach Stadtpark aus. „Da wollen wir nicht rein“, höre er von seinen Mitarbeitern, sagt Schwenke trocken und zeigt nun Fotos von den Spritzen süchtiger Obdachloser. Blut ist zu sehen. Das Einsammeln aller Spritzen auf einem der Lagerplätze dauere eine Viertelstunde, vorher könne man keine Maschinen einsetzen.

Dass er rede wie der Boris Palmer von Berlin, hört von Dassel dieser Tage oft. Der Oberbürgermeister von Tübingen bricht seit Jahren grüne Tabus, vor allem in der Flüchtlingspolitik. Palmer fordert, die EU-Außengrenzen zu sichern. Palmer weist darauf hin, dass es auch im Land der Willkommenskultur Grenzen der Belastung gebe. Palmer schreibt ein Buch mit dem Titel „Wir können nicht allen helfen“. Palmer wird gewählt. 2014 bestätigten ihn über 61 Prozent der Tübinger im Amt.

Palmer gilt als einsam, Dassel bekam Ärger

Er kenne Boris Palmer nicht, sagt Stephan von Dassel. Beide verbindet neuerdings aber die Erfahrung heftigen politischen Gegenwinds. Palmer gilt bei den Grünen als einer, der in seiner Partei kaum noch Freunde hat. Dassel bekam wegen seines Vorstoßes zum Umgang mit Obdachlosen Ärger mit dem Polit-Partner im Bezirk.

In der Bezirksverordnetenversammlung von Mitte arbeiten die Grünen seit 2016 mit den Sozialdemokraten zusammen. Deren Verordnete ärgerten sich öffentlich darüber, dass Dassel jetzt 30 neue Leute für das Ordnungsamt wolle, wo man doch gerade den Doppelhaushalt 2018/19 beschlossen habe.

Tatsächlich schien es Dassel, als er die Obdachlosen zum Thema machte, nicht zu interessieren, was seine Parteifreunde in der BVV oder die Sozialdemokraten dachten – er machte einfach. Der Vorsitzende der SPD Mitte, Julian Zado, geht in seiner Kritik noch ein bisschen weiter. „Ich habe den Eindruck, es geht Herrn von Dassel darum, mit markigen Sprüchen auf Stimmenfang zu gehen“, sagt Zado. Die SPD halte das für falsch und werde das den Grünen gegenüber ansprechen.

Ein bisschen rumort es auch bei Rot-Rot-Grün

In der Mitte-Politik rumort es, in der Landespolitik erkennt man Handlungsbedarf. Innensenator Andreas Geisel von der SPD will eine „Taskforce“ einsetzen, was aber zeitraubende Absprachen zwischen Polizei und Ordnungsämtern erforderlich macht. Die linke Sozialsenatorin Elke Breitenbach schweigt vernehmlich zu Dassels Thesen.

Und dessen Parteifreunde hadern halblaut. „Ich verstehe seine martialische Art nicht“, sagt eine bekannte Grüne. Andere sagen, das sei eben typisch für Dassel und dessen Art, sich in die Dinge hineinzuarbeiten. Und übrigens, bei der für Obdachlose zuständigen Sozialsenatorin sei die Problematik offenbar nicht angekommen. Ein bisschen rumort es also auch bei Rot-Rot-Grün.

Nicht weit entfernt von der einstigen Lagerstatt hat sich ein weiteres Problemgebiet entwickelt. Hier, wo sich seit langem schwule Männer nach schnellem Sex umgesehen haben, prostituieren sich junge Männer, manche wohl auch, um mit dem Geld ihre Drogen zu bezahlen.

Im Tiergarten findet Europa-Politik statt

Eine Grünanlage wird, bereichsweise jedenfalls, zum Slum – und zum Schauplatz eines Mordes. Auf dem Weg zum Treffen mit Revierleiter Schwenke ist Dassel an dem trostlosen Gedenkort vorbeigekommen, den Freunde für die Anfang September hier ermordete Kunsthistorikerin Susanne Fontaine eingerichtet haben. Sie war im nahen „Schleusenkrug“-Biergarten gewesen und kurz nach 22 Uhr auf dem Weg zum Bahnhof Zoo. 30 Meter, bevor sie den Vorplatz des Bahnhofs erreichte, wurde sie niedergestochen. Tatverdächtig ist ein 18-jähriger Tschetschene, der womöglich in dem Obdachlosencamp untergekommen war.

Längst findet im Tiergarten Europa-Politik statt. „Seit vier, fünf Jahren haben alle Ordnungsämter zunehmend Probleme mit aggressiven Obdachlosen aus Mittel- und Osteuropa“, sagt Dassel. „Die sind in einer Verfassung und einer Stimmung, die das Handling unmöglich macht.“ Eine Mitarbeiterin sei mit Urin aus einer Bierflasche bespritzt worden. Andere lagerten am Hansaplatz nördlich des Tiergartens und pöbelten Passanten an, sagt Dassel. Er höre von Menschen, die dort seit 50 Jahren wohnten, dass sie den Platz nun nicht mehr betreten würden.

Er hat ein Negativbild vor Augen - den Görlitzer Park

Der grüne Bürgermeister, der auch für das Ordnungsamt zuständig ist, hat so etwas wie ein Negativbild vor Augen – den Görlitzer Park in Kreuzberg. Mit dem Park, der immer mal wieder zum Schlafquartier obdachloser Familien geworden ist, hat Dassels grüne Bürgermeisterkollegin Monika Herrmann seit Jahren zu tun. Dassel sagt: „Der Görli zeigt einfach, wie schwer es ist, Regeln auch durchzusetzen und sicherzustellen, dass unsere öffentlichen Flächen so genutzt werden, wie wir uns das wünschen und von denen, die wir uns wünschen.“

Er kann also auch diplomatisch. Er will es nur nicht.

Schon vor zwei Jahren hat er auf die Obdachlosencamps im Tiergarten aufmerksam gemacht. Damals, erzählt er, hätten er und seine Kollegen aus anderen Bezirken noch auf ein „Clearing-Haus“ gehofft – eine Adresse für Wohnungslose aus dem Ausland, wo sie unterkommen könnten, während die Behörden ihre Ansprüche auf Sozialhilfe prüften. Das Haus gibt es immer noch nicht. Trotzdem werde kein Wohnungsloser aus dem europäischen Ausland weggeschickt, ohne dass man ihm ein Hilfsangebot gemacht habe.

„Man denkt, man wüsste alles besser“

Dassels Obdachlosen-Vorstoß hatte vor allem zeitliche Gründe. Wenn es kalt werde, gingen die meisten in die Notunterkünfte der Kältehilfe, sagt Dassel. Er will, dass die Zeltlager im kommenden Frühjahr nicht wieder entstehen – und dafür muss eben jetzt schon klar sein, wie man in Berlin zukünftig damit umgeht.

Zu den Grünen ist er, heute 50 Jahre alt, mit 17 gegangen. Wenn er das begründet, bemerkt man Talent zu leichter Ironie: „Ich war damals eher auf dem Umwelttrip, Energie sparen, Waldsterben, Atomkraft“, sagt er. „Und: Man geht ja in die Politik, weil man denkt, man wüsste alles besser …“ Leichtes Grinsen im ernsten Gesicht. Mit 22 kam er nach West-Berlin, studierte Politikwissenschaften. 1999 wurde er Bezirksverordneter in Mitte, wenig später auch wissenschaftlicher Referent der Grünen-Fraktion des Abgeordnetenhauses. Dort haben sie ihn in bester Erinnerung.

2009 dann sozusagen die kommunalpolitische Exekutive: Dassel wurde Stadtrat für Soziales und Bürgerdienste, 2016 wurde er Bürgermeister.

Geprägt habe ihn die Integrationsdebatte, sagt er. „Dabei haben wir uns Jahrzehnte im Kreis gedreht. Die eine Seite – CDU, die konservative Seite – und die andere – links, progressiv – haben sich nie um Integrationsprobleme gekümmert. Sie haben immer nur abgelehnt, was der andere gesagt hat.“

„Stattdessen: Berliner Arroganz“

Nicht stur bei vorgefassten Überzeugungen bleiben, sondern auch einmal gucken, wie es andere machen: Das würde, sagt Dassel, auch bei seinem anderen Dauerthema weiterhelfen, dem Strich auf der Kurfürstenstraße. Dassel ist für ein Prostitutionsverbot und die Einrichtung eines Sperrbezirks. Dazu hat er erst vor ein paar Wochen neue Vorschläge gemacht. Die Führung der Grünen fand sie „lebensfremd und kontraproduktiv“.

Dabei hatte Dassel einfach mal dargestellt, wie andere Städte – ohne Straßenstrich – mit der Prostitution umgehen. Anwohner hätten ihm Fotos gezeigt, die sie aus ihren Fenstern gemacht hätten, während unten die Sexarbeiterinnen von der Kurfürstenstraße ihre Dienste verrichteten, erzählt er. Das sei kein Anblick, den man seinen Kindern zumuten wolle. „Was mich gestört hat an der Diskussion: Niemand hat gesagt, hm, komisch, Berlin ist die einzige Stadt ohne Sperrbezirk. Haben sie in Köln, in Hamburg, in München vielleicht einen besseren Umgang damit? Stattdessen: Berliner Arroganz, was andere Städte machen, interessiert uns doch nicht!“

Ein bisschen spröde, dieser Stephan von Dassel, gar nicht ergriffen vom Spirit der Stadt, die sich so gerne selber feiert. Warum lebt er dann mitten in Berlin?

Parteifreunde erinnern daran, dass er zuständigkeitshalber „unbedingt“ das Ordnungsamt wollte. Erstaunlich, oder?

Man ist damit nahe am Ärger, da wo Berlin nicht leicht ist – und dicht an dem, was die Leute bewegt.

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