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Käfighaltung. Das Spiel auf der Straße gehört zum Mythos der Stadt wie Graffiti und Breakdance. Wer sich hier einen Namen macht, kann zur Legende werden.

© Lukas Hermsmeier

Basketball: Manhattans Zaunkönige: New Yorks härtester Basketballplatz

Brüllen, rempeln, manchmal prügeln – in New Yorks Basketballkäfig „The Cage“ gelten besondere Regeln. Dafür gibt er den Spielern zurück, was sie jenseits des Maschendrahts selten finden.

Die Zuschauer in der ersten Reihe haben ihre Hände in die Käfigmaschen gekrallt, die dahinter recken die Hälse, um einen Blick auf das Spiel werfen zu können. Ein paar Schüler halten ihre Smartphones drauf. „Wooooohhh“, raunen sie aufgekratzt, als einer der Basketballer an zwei Verteidigern vorbeizieht und den Ball ins Netz legt, ganz große Show. Plötzlich aber bauen sich zwei Spieler voreinander auf, der eine hält den anderen am Hals fest, drückt ihn weg, aus der Show wird Ernst.

„Guys, guys, guys. Kriegt euch ein“, sagt Doc und stellt seinen massigen Oberkörper dazwischen. Doc trägt schwarze Shorts und ein knallrotes T-Shirt, seine Glatze glänzt in der Sonne. Mit beiden Händen schiebt er die Männer voneinander weg, sie zischen noch ein paar Beleidigungen in sich hinein, dann ist Ruhe.

Doc ist 52, vor Doc haben sie Respekt. Schließlich kommt er seit mehr als 30 Jahren hierher, auf New Yorks berühmtesten Outdoor-Basketballplatz, dessen Name so sagenhaft wie einschüchternd klingt: The Cage. Der Käfig. Weil das Spielfeld von einem schwarzen, vier Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben ist. Weil der Platz schmaler und kürzer ist als andere, das Spiel dadurch aggressiver. Weil sich nur wenige hier reintrauen – und weil der Käfig diejenigen, die es doch wagen, nicht mehr loslässt.

Doc kam wieder

Als Doc zum ersten Mal im Käfig spielte, war er ein Teenager. Ein Schulfreund hatte ihn mitgenommen. „Der Platz war damals schon legendär und ich hatte relativ wenig drauf. Ich war nervös, kann man sich ja vorstellen“, sagt er. Seine Mutter lebt bis heute in der Wohnung, in der Doc aufwuchs, nur ein paar Minuten vom Käfig entfernt. Sein Kumpel verlor irgendwann das Interesse. Doc kam wieder. Lief jeden Nachmittag von der Schule zum Käfig. Fand neue Freunde. Egal ob er als junger Mann als Fahrradkurier arbeitete, sich später als Sänger versuchte oder wie heute ein kleines Tonstudio in Manhattans Midtown leitet – dem Käfig blieb Doc treu.

Vom Profigeschäft hat er nie geträumt, dafür reichte das Talent nicht. Manche seiner Käfig-Weggefährten schafften es jedoch bis in die Profiliga NBA. So wie Williams Henry „Smush“ Parker, der unter anderem von 2005 bis 2007 bei den Los Angeles Lakers mit Superstar Kobe Bryant spielte und Millionen verdiente. Andere Freunde wurden Crack-abhängig und fielen vor Docs Augen in sich zusammen.

„Für die meisten von uns wurde der Käfig zu einer Konstante im Leben. Selbst wenn’s im Job oder in der Beziehung nicht läuft, weiß man, dass die Jungs da sind.“ Doc wohnt mittlerweile in Jersey City, auf der anderen Seite des Hudson Rivers. Zum Käfig zieht es ihn immer noch mehrere Male pro Woche. Er hat weder Frau noch Kinder, auch deshalb bietet der Käfig Halt. „Manchmal fange ich extra früh an zu arbeiten, um nachmittags spielen zu können“, sagt er. Die anderen machten das ähnlich.

Touristen stehen sich auf den Sandalen

Der Käfig liegt an der Sixth Avenue, zwischen West 3rd und West 4th Street. Mitten im Greenwich Village, einem der teuersten, begehrtesten Viertel New Yorks. Um die Ecke der Washington Square Park und die Bleecker Street, wo der Cappuccino 4,50 Dollar kostet. Touristen stehen sich hier für Jazzkonzerte im Blue Note auf den Sandalen. Carrie Bradshaws berühmter Hauseingang aus der Serie „Sex and the city“ ist nicht weit.

Dort, wo der Käfig steht, erahnt man allerdings noch das Manhattan von früher. Piercing-Studio neben Tattoo-Parlor neben Hotdog-Bude. Alles etwas abgeranzt, vor allem der McDonald’s, der für seine Suffprügeleien berühmt ist.

Bevor es an diesem sonnigen Maidienstag losgeht, es ist kurz vor 14 Uhr, schiebt Doc seine breite Brust in den Käfig. Setzt sich auf einen der wenigen Klappstühle, die für die Routiniers reserviert sind. Er hat sich eine Packung Hähnchenflügel mitgebracht. „Das Besondere am Cage sind die Zuschauer“, sagt er. „Wir spielen für sie. Und wir werden mit Applaus belohnt.“ Und: „Das hier ist kein Spiel, das ist ein Kampf.“ Die Phrasen, das weiß er, gehören zur Legende.

Dramatischer als Broadway-Stücke

Direkt vor dem Käfig befindet sich ein Ausgang der U-Bahn-Station West 4th Street. Sieben Linien halten hier. Tausende Menschen hetzen jeden Tag aus dem stickigen Untergrund an die Luft – am Käfig indes rast kaum einer vorbei. Manche verlangsamen für ein paar Sekunden ihren Schritt, die meisten bleiben minutenlang kleben. Einige Zuschauer verbringen im Sommer jeden Tag mehrere Stunden hier. Sie kommen für das große Schauspiel, das sich Basketball nennt, aber so viel mehr ist.

Der Käfig bietet Vorstellungen, die dramatischer sind als viele Broadway-Stücke, lustiger als manche Stand-up-Comedy und rauer als die Trick-Basketballer der Harlem Globetrotters. Nirgendwo gibt es eine vergleichbare Show. „Wir Spieler wissen, dass wir etwas bieten müssen“, sagt Doc.

Es gibt in New York Hunderte Plätze, auf denen Basketball gespielt wird. Das Spiel auf der Straße gehört zum Mythos der Stadt wie Graffiti, Rap und Breakdance. Wer sich hier einen Namen macht, kann zur Legende werden. So wie Herman „Helicopter“ Knowlings in den 60ern, Joe „The Destroyer“ Hammond in den 70ern, James „Pookie“ Wilson in den 80ern. Oder eben „Smush“ Parker.

Ohne einen Spitznamen ist man im Käfig ein Niemand. Auch Doc heißt nicht Doc, er heißt Angelo Velasquez, aber das interessiert hier nicht. Wie er zu seinem Spitznamen kam? „Weil ich beim Spielen wenig spreche. Sehr konzentriert bin. Wie ein Arzt.“ Doc nimmt die Sonnenbrille ab, zieht seinen Pullover aus und kramt orangefarbene Turnschuhe aus dem Rucksack.

Kaugummi im Mund, Kopfhörer im Ohr

Wer Aufmerksamkeit will, bekommt sie hier. Wobei man sich die Möglichkeiten zur Selbstdarstellung erarbeiten muss. Die Anfänger starten an einem Extra-Korb am Rand, müssen dort einige Zeit durchhalten, bevor sie aufs große Spielfeld dürfen. „N.B.A.“ nennen sie den Hauptplatz. No Babies Allowed. Und auch dort gelten spezielle Regeln für die Neuen. Keine Fouls reklamieren, zum Beispiel. Und vor allem: auf die Erfahrenen hören.

Im Sommer ist der Käfig meist ab 14 Uhr gefüllt, doch selbst im Winter werfen die Abgehärteten ihre Körbe. Leer ist der Käfig nur, wenn es regnet oder die Temperaturen zu sehr ins Minus fallen. Gespielt wird, solange es das Tageslicht zulässt.

Auch die anderen Stammspieler haben jetzt den Käfig betreten. Kaugummi im Mund, Kopfhörer im Ohr, Cap auf dem Kopf. Sisqo und CIA, der Grieche und T. J., Wyclef, The Green Eyed Bandit, Beenie. Lassen ihre Rucksäcke am Spielfeldrand fallen, trinken einen Schluck Gatorade oder Cola. „Was geht ab, Bruder?“ Man umarmt sich, klopft dem anderen mit der Faust auf den Rücken. Alles in Zeitlupe. Mal eine Ferse zum Hintern ziehen, desinteressiertes Dehnen. Bloß keine Aufregung. Die gibt es später.

New York hat noch ein paar andere Basketballplätze mit lokaler Bekanntheit. Die im nördlichen Teil des Central Parks zum Beispiel. Oder die auf den Brooklyn Piers, direkt am East River. Doch nur über den Cage an der West 4th Street wurden Bücher geschrieben und Filme gemacht. Zuletzt erschien im Jahr 2015 Simeon Soffers Dokumentation „Portrait of a Park“. In etlichen Spielfilmen, beispielsweise in der Whoopi-Goldberg-Komödie „Eddie“, spielt der Cage eine Nebenrolle. Selbst Gregg Popovich, der legendäre Trainer der San Antonio Spurs und künftige Coach der US-Nationalmannschaft, schaute schon vorbei.

„Ein NBA-Star!“

Legendär sind auch die Turniere im Sommer – die sogenannte Summer League. Im Gegensatz zum Alltag spielen dann Männer und Frauen, von denen viele in Vereinen aktiv sind. Die Teams haben Trainer, es gibt Schiedsrichter und am Ende eine männliche und eine weibliche Siegermannschaft. Junge Basketballer aus der Bronx, Harlem oder Brooklyn haben gute Chancen, hier entdeckt zu werden.

Doc erinnert sich, wie Zuschauer sogar in den Bäumen hockten, als der große „Smush“ Parker vor ein paar Jahren an der Summer League teilnahm. Parker hatte kurz zuvor seine Profikarriere beendet. „Ein NBA-Star! Aber er wollte es im Cage unbedingt noch einmal wissen“, erzählt Doc, der damals nur zuschaute und seinem Kumpel die Daumen drückte.

Doch die Summer League sei im Laufe der Jahrzehnte zu professionell geworden, sagt Doc. „Früher war es rough, ein Turnier für die Jungs aus der Nachbarschaft. Heute ist es zu ordentlich. Trikots von Nike und so.“ Doch Doc weiß auch, dass das alljährliche Turnier dabei geholfen hat, den Käfig bekannt zu machen. Dank der Fernseh- und Zeitungsberichte wissen selbst Basketballfans in Los Angeles, Chicago oder Miami von ihm. Wer nach Straßenbasketball in New York sucht, kommt am Käfig nicht vorbei.

Noch mehr Autorität im Käfig als Doc hat nur Worthy, er sorgt für Ordnung. Ein Afroamerikaner mit grauen, kurzen Haaren und imposanter Lücke in der unteren Zahnreihe, man sieht Worthy jedes seiner 57 Lebensjahre an. Mindestens. Er trägt eine Trillerpfeife um den Hals, die nur im Extremfall zum Einsatz kommt. Fouls regeln die Spieler unter sich.

„Dein Gesicht ist ein Witz!“

Worthys Socken stecken in schwarzen Badelatschen. Er ist nicht zum Spielen gekommen, viel wichtiger: Worthy ist der Herr der Liste. Auf einem Stück Pappe stehen die Spieler in der Reihenfolge, nach der sie ihre Teams wählen dürfen. 1. Speedy, 2. Doc, 3. Chris, 4. Wyclef. „Einer muss organisieren“, sagt Worthy. „Sonst machen die Kids, was sie wollen.“

Worthy ist überzeugt davon, dass die Zuschauer im Käfig Spitzensport geboten bekommen. „Selbst LeBron hätte hier Probleme“, erklärt er. Worthy meint LeBron James, den Superstar der Cleveland Cavaliers, den derzeit besten Basketballer der Welt. „Der Platz ist eng, das Spiel ist ruppig. Körpergröße zählt hier weniger, daran muss man sich erst mal gewöhnen“, sagt Worthy. Auch an das Dauerrauschen der Beleidigungen, den Trash Talk. Im Profisport sind die Sprüche dafür da, den Gegner einzuschüchtern. Im Cage, um das Publikum zu unterhalten. „Deine Bewegungen sind ein Witz!“ – „Dein Gesicht ist ein Witz!“

Als das erste Spiel losgeht, hat sich alle Entspanntheit verzogen. Zur Hauptshow gehört Brüllen, Rempeln, manchmal auch Prügeln. Fünf gegen fünf. Wer zwölf Punkte erzielt, hat gewonnen. Extrovertiert dürfen auch die Outfits sein. Der, den sie Wyclef nennen, spielt in Jeans und mit freiem Oberkörper. CIA setzt seine Sonnenbrille nicht ab. Einer der Jungen behält seine Kopfhörer im Ohr.

Er sprintet nicht, er trabt. Er darf das

Der blau-gelbe Hartgummiplatz ist von Ahornblüten übersät und rutschig. Die ersten Aktionen misslingen. Ein Pass landet im Aus, ein Korbleger geht daneben. Nach zwei Minuten der erste Stress. Der Grieche, der tatsächlich aus Griechenland kommt, und ein Mann mit Stirnband beschimpfen sich. Warum, lässt sich kaum erahnen. Ist auch egal, Drama als Selbstzweck. „Hau ab!“ – „Wer bist du?“ Weiter.

Beide Teams passen viel und schnell. Nur Doc hält sich zurück. Er sprintet nicht, er trabt. Meidet die Ecken, organisiert das Spiel von hinten. Jüngere Spieler dürften sich solche Gemütlichkeit nicht leisten. Doc darf.

Wann er aufhören möchte? Was für eine Frage. Er sei ja erst 52. „Hier haben schon Leute gespielt, die waren fast 80!“, sagt Doc und reißt dabei die Augen auf. Der Käfig gehört zu seinem Leben wie sonst nur die Musik. „Ich verbringe die meiste Zeit entweder in meinem Studio oder auf dem Platz. Ich brauche diesen Ausgleich“, sagt er. Die anderen Spieler sind seine Freunde, klar, wobei man sich außerhalb des Platzes kaum sieht. „Es sind Basketballfreundschaften“, sagt Doc. „Aber die fürs Leben.“

Im Käfig gibt es einen VIP-Bereich. Leo’s Corner. Eine Ecke voller Plastikklappstühle, reserviert für die Alten mit Rückenschmerzen. Im Sommer vermietet Onkel Leo, ein Rentner mit grauem Zottelbart, die Sitze an Zuschauer. Zwei Dollar pro Spiel.

Die Dialektik von Zärtlichkeit und Härte

Auf dem Feld fließt der Schweiß mittlerweile in Strömen, Verteidiger und Angreifer kämpfen unter dem Korb um die beste Position, um jeden Zentimeter. Manchmal lehnen sie ihre Körper fast sanft aneinander, um sich dann mit Wucht voneinander wegzustoßen. Zur Magie des Käfigs gehört auch diese Dialektik von Zärtlichkeit und Härte.

Dann wieder Streit. „Du warst zuletzt am Ball, rechter Arm!“ – „Du lügst. Verdammt noch mal immer. Wissen wir alle!“ Die Spiele dauern auch deshalb so lange, weil jedes Foul und jeder Ball im Aus diskutiert wird. Je dramatischer, desto wahrscheinlicher, dass noch mehr Passanten stehen bleiben.

Sich wie ein Star fühlen, ohne ein Star zu sein – das geht auf keinem anderen Outdoor-Platz in New York so gut wie im Cage. „Manche Leute bekommen im Leben sonst nicht viel Aufmerksamkeit“, sagt Doc, „hier können sie zeigen, was sie können, und werden respektiert.“

Der geruhsame Kapitän hat einen ordentlichen Tag. Doc verteilt die Pässe, und während die anderen mit schweißdurchtränkten T-Shirts umherwirbeln, ist seine Stirn noch trocken. Sein Team wird am Ende gewinnen, 12 zu 9. Einmal trifft er von der Dreierlinie, das Publikum klatscht, und auf dem Weg zurück in die eigene Hälfte spitzt er den Mund zu einem langen „uhhhhhh“. Solche Momente, sie fühlen sich auch nach mehr als 30 Jahren im Cage noch sehr, sehr gut an.

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