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Models zeigen Kreationen des Labels Bogner auf der Berliner Fashion Week.

© Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa

Livestreams auf der Berlin Fashion Week: Die virtuelle Modenschau

Chance und Gefahr zugleich: Livestreams werden bei der Berlin Fashion Week in dieser Saison noch wichtiger.

600 Gäste können sich im E-Werk in Mitte eine Modenschau ansehen – die Klicks im Internet gehen in die Zigtausende. Damit wird die digitale Präsentation immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt der Mercedes-Benz Fashion Week. „Wir sind jetzt bei 315 000 Page Impressions“, freut sich Marcus Kurz, Geschäftsführer der Kreativ- und Produktionsagentur Nowadays, die seit einem Jahr Veranstalter der Mercedes-Benz Fashion Week ist. Seither werden die Schauen im Internet und auf einer großen Leinwand vor dem E-Werk live gezeigt. Nächste Woche präsentieren 15 Designer ihre Herbst-Winter-Kollektionen für 2019/20 im E-Werk in Mitte; im Livestream werden noch einige Schauen hinzukommen, zum Beispiel die von Marc Cain oder Lana Müller.

Das Streamen von Fashion Shows ist nichts Neues. Große Luxusmarken wie Alexander McQueen tun es seit 2009, internationale Modewochen wie die New Yorker seit 2011. Doch Berlin bietet mehr als einen bloßen Strom stolzierender Models. Hier wird die Fashion Show zur anderthalbstündigen Web-Sendung: Moderatorin Yasmine Blair holt Stimmen von Experten ein, dazu kommen Hintergrundberichte über Designer, und die Moderatorin befragt auch Gäste: „Und, wie fanden Sie die Show?“

Drehteams arbeiten von 10 bis 22 Uhr

Noch gibt es die Streams nicht nachträglich auf der weltweit größten Videoplattform YouTube zu sehen. Das soll diese Saison nachgeholt werden, auch sollen über die Facebook-Seite und den Instagram-Kanal im Nachhinein Fans und Follower gewonnen werden. Die Organisatoren und Designer haben erkannt, dass sie im Zeitalter der Digitalisierung auf die Kunden zugehen müssen – nicht umgekehrt. „Streams haben einen wichtigen Anteil daran, dass Konsumenten Marken verstehen. Streams geben Designern außerdem die Möglichkeit, Kunden direkter zu erreichen und Vertrauen zu bilden“, sagt Organisator Matt Edelman.

Von 10 bis 22 Uhr werden daher nächste Woche im E-Werk Drehteams ausschwärmen. Doch geht mit dem Zweidimensionalen nicht auch das Atmosphärische der Mode verloren? Mode ist nun mal dreidimensional. Es ist sinnvoll, Materialien nicht nur zu sehen, sondern auch anzufassen. Ein Grund, warum die Livestreams übrigens eher ein Thema für die Kunden sind als für die Einkäufer. Letztere wollen die Kollektionen im Showroom noch mal genauer betrachten, anfassen und mit dem Designer besprechen.

Doch was passiert beim Kunden im Kopf, wenn Laufsteglooks auf wenige Zentimeter Bildschirm eingedampft werden? Diese Sorge treibt auch Berliner Designer um wie Kristina Puljan vom Label Vektor und Natascha von Hirschhausen. „Die Zweidimensionalität kann Endkunden an Grenzen bringen, wenn es darum geht, sich ein Bild von Mode zu machen“, sagt Kristina Puljan. Die Haptik, das Volumen, das komme bei einem kleinen Bildschirm schwer rüber.

Direkte Konkurrenz mit großen Marken

Zudem seien es meistens die lauten, knalligen Outfits, die in kleinstem Format wie auf Instagram viele Likes bekämen. Minimalistische Entwürfe, die auf feine Schnitte und hochwertige Materialien statt auf kräftige Farben und große Silhouetten setzen, haben es da schwerer. So mancher sieht bereits in Instagram das, was Streamingdienste für die Musik geworden sind: Jedes Lied muss sofort zünden, sonst ist man als Kreativer beim gelangweilt weiter wischenden Verbraucher gleich verbrannt.

Marcus Kurz teilt solche Bedenken nicht: „Die Digitalisierung der Mode wird sicherlich ein Umdenken erfordern – aber das war schon immer so.“ Auch bei einer stationären Schau achtet der Designer zum Beispiel genau darauf, von welchem Look und Model diese eröffnet wird. „Solche Highlight-Pieces, die sich sofort ins Gedächtnis einbrennen, hat es immer gegeben und wird es immer geben.“

Die virtuelle Modenschau ist also Chance und Gefahr zugleich. Chance, weil Mode damit demokratischer wird: „Jedes kleine Modelabel kann ein Video von seiner Show auf die eigene Website stellen, in sozialen Netzwerken teilen und damit weltweit bekannter werden“, sagt Natascha von Hirschhausen. Risiko, weil kleine Designer so noch direkter mit den großen Marken konkurrieren. Finanzkräftige Marken wie Tommy Hilfiger stellen zum Beispiel nicht nur den Stream ihrer Schau auf die Internetseite, sondern setzen auch gleich den Kaufen-Button daneben.

Demnächst eine Virtual-Reality-Brille?

Mancher Designer fürchtet deshalb einen Verlust der Vielfalt, wenn neue Trends sofort vom Sofa aus in Berlin, Peking und Rio de Janeiro gesehen, gekauft und getragen werden. Doch das beklagte bereits der französische Designer Christian Dior 1956 in seiner Autobiografie: „Ein Couturier muss ja nicht nur die Bedürfnisse der französischen Frauen berücksichtigen, er muss auch an die eleganten Frauen in der Welt denken, die weder auf die gleiche Art noch im gleichen Klima leben.“ Dior meinte damit die Kundin in Kalifornien oder in Rio de Janeiro.

An die Kundin in Kalifornien denkt Marcus Kurz jetzt erst mal nicht. Wohl aber an den Einsatz von noch mehr Virtualität: Er kann sich gut vorstellen, gestressten Fashion-Week-Besuchern, die es nicht rechtzeitig zur Schau schaffen, demnächst eine Virtual-Reality-Brille zu schicken. Die können sie im Büro aufsetzen und sich so die Kollektion anschauen. Damit fühlt sich der Zuschauer dann nicht nur wie ein VIP-Gast direkt am Laufsteg, sondern sieht auch noch aus wie die berühmte „Vogue“-Chefin Anna Wintour. Die würde niemals ohne ihre schwarze Sonnenbrille die wichtigen Schauen beäugen.

Livestream in Berlin: www.mbfw.berlin, Livestream Modenschauen weltweit: www.nowfashion.com

Jörg Oberwittler

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