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Mehr Struktur, bitte! Die "Washington Post" versucht, ihre Debattenkultur durch inhaltliche und persönliche Filter zu verbessern. In diesem Fall geht es um Einstellungen zur Schwulenehe.

© Tsp

Vom Netz genommen (19): Zu wenig Qualität, zu viel "Zensur"? Wie können wir die Debatte verbessern?

Den einen ist die Qualität der Leserdiskussionen auf Tagesspiegel.de zu schlecht, andere klagen immer wieder über "Zensur". Aber wie können wir die Debattenkultur verbessern? Eine Frage für unsere letzte wöchentliche Debattenkolumne. Doch es geht weiter. Diskutieren Sie mit!

Von Markus Hesselmann

In der letzten Folge unserer Debattenkolumne habe ich ganz am Schluss einen Testballon steigen lassen. Dort regte ich an, darüber zu diskutieren, ob es sinnvoll sein könnte, Leserkommentare auf Tagesspiegel.de im Sinne der Debattenqualität strenger zu moderieren: "Zum Beispiel nur noch Beiträge freizuschalten, die für Behauptungen auch das eine oder andere Argument nennen." Im Forum wurde dann über andere Aspekte der Kolumne diskutiert, zu diesem von mir für die Community durchaus als brisant eingestuften Vorschlag gab es überraschenderweise keine Resonanz. Die kam dann eher in den Social Media. "Bitte! Unterirdische 'Debattenkultur' auf tagesspiegel.de", schrieb zum Beispiel Sebastian (@kmnd) via Twitter. Das ist drastisch ausgedrückt, aber es reflektiert ein durchaus verbreitetes Unbehagen am oft chaotisch polarisierten Internet-Diskurs - in den Debatten auf Tagesspiegel.de wie auch sonstwo im Netz, unlängst zum Beispiel wieder schlagartig vor Augen geführt durch einen Schwall von Schmähungen gegen die Grünen-Chefin Claudia Roth.

Zum Glück beließ es Sebastian nicht bei der zugespitzten Einschätzung, sondern machte auch einen Vorschlag: Der Tagesspiegel könne doch "gute Beiträge als 'Editor's Picks' wie Leserbriefe auswählen und oben an stellen. Rest nach unten". Die Redaktion sollte demnach in die Reihenfolge der Leserkommentare eingreifen und bestimmte hervorheben. Ich beeile mich zu versichern, dass dann auf keinen Fall vor allem Lobendes nach vorn zu stellen wäre, sondern gerade die kritischen Kommentare - aber eben solche, die ihre Kritik auch mit Argumenten und Beispielen belegen. Wie auch immer, was halten Sie davon?

Noch weiter gehen neue Ansätze, auf die ich durch Ole Reißmann und meinen Tagesspiegel-Kollegen Johannes Schneider aufmerksam wurde. Die "New York Times" und die "Washington Post" legen bei großen Themen, die potenziell besonders polarisierend kommentiert werden, im konkreten Fall das Thema Schwulenehe, jetzt inhaltliche Filter an. Leser werden dort gebeten, nicht mehr nur einfach in ein offenes Feld zu schreiben, was ihnen zum Thema gerade einfällt, sondern werden im ersten Schritt angeleitet, sich inhaltlich und persönlich zu positionieren. Oder sie können zu einem Aspekt des Themas ihre begründete Meinung äußern, zum Beispiel zu einem bestimmten Zitat.

Die Debatte ufert auf diesem Wege nicht aus oder verliert sich im Kleinklein, sondern wird von vorneherein strukturiert. Sie erschöpft sich nicht im bloßen Pro und Contra, im Aufeinanderprallen zweier Lager, sondern bietet Facetten von Inhalten und Argumenten. Ich halte diese Ideen für gut und kann mir vorstellen, solche strukturierenden Elemente künftig auch auf Tagesspiegel.de einzusetzen. Denn sie erscheinen mir als zielführend nicht nur für die Kommentatoren, sondern auch für die Leser von Kommentaren im Forum. Für uns Journalisten, die aus der Leserdebatte lernen wollen, ohnehin. Aber wie stehen Sie zu solchen Ideen? Vielleicht schauen Sie sich die beiden im vorherigen Absatz verlinkten Beispiele oder eine Analyse des "Nieman Journalism Lab" dazu einmal an und schreiben uns Ihre Meinung.

Auf der anderen, sich weniger um die Debattenqualität als um die Meinungsfreiheit sorgenden Seite kommen immer wieder Beschwerden über vermeintliche "Zensur" bei Tagesspiegel.de. Ich schreibe "Zensur" in Anführungsstrichen, weil der Begriff zwar häufig verwendet wird, ich ihn aber in unserem Zusammenhang nicht für angebracht halte. Der Tagesspiegel ist keine Instanz, die die Öffentlichkeit kontrolliert. Eine Zensur findet in Deutschland nicht statt, jeder darf seine Meinung frei äußern. Das heißt nicht, dass sich jeder überall und jederzeit und zu allem auf jede beliebige Art äußern kann. Der Tagesspiegel lädt Leserinnen und Leser ein, auf seiner Online-Seite mitzudiskutieren. Das heißt nicht, dass wir dort jede Äußerung zulassen müssen. Wir haben eine presserechtliche Verantwortung für das, was auf unserer Website erscheint. Erst unlängst wurden wir vor den Presserat zitiert, weil ein Leser den Kommentar eines anderen Lesers so interpretiert hat, dass der in Syrien schwer verletzte ARD-Reporter Jörg Armbruster als "bescheuert" dastand. Das Ergebnis des Verfahrens steht noch aus, wir sind gespannt.

Neben dieser rechtlich fixierten Verantwortung haben wir ein Interesse an einer anregenden und flüssigen Debatte. Und wir gehen von diesem Interesse auch bei Ihnen aus. Deshalb moderieren wir Ihre Beiträge. Moderieren bedeutet nicht zensieren. Das Internet ist zum Glück freier und interaktiver als eine Leserbriefseite oder eine Fernsehtalkshow. Doch auch ein Online-Forum braucht ein Mindestmaß an Diskursstruktur, wenn die Debatte nicht ins Chaos oder Nirwana abgleiten soll. Deshalb halte ich es für richtig, neben Beleidigungen und persönlichen Attacken auch Kommentare, die nichts mit dem Diskussionsthema zu tun haben, also "off topic" sind, sowie endlose Wiederholungen von bereits Diskutiertem oder Trollkommentare, die einfach nur eine Debatte stören, statt sich argumentativ mit einem Thema auseinanderzusetzen, nicht zuzulassen. Aber vielleicht sind Sie da ja ganz anderer Meinung und haben dafür gute Argumente. Hier und jetzt haben Sie wieder die Chance, diese auszutauschen. (Argumente sind immer das Wichtigste, werden aber leider oft vernachlässigt.)

Ein Beitrag zur Verbesserung der Debattenkultur sollte auch diese Kolumne sein. Immer freitags habe ich in den vergangenen Wochen und Monaten hier Themen aus unseren Leserforen aufgegriffen - "vom Netz genommen" -, immer mit dem Ziel, die Debatte noch einmal zu reflektieren. Ob dies gelungen ist, müssen Sie entscheiden. Mir hat es jedenfalls großen Spaß gemacht und ich habe viel dabei gelernt. Die Kritik zum Beispiel, dass bestimmte Kommentatoren im Forum sich über Regeln hinwegsetzen dürfen, während andere sich an die Regeln halten müssen, ist angekommen. Ich hoffe, dass sich da bereits etwas zum Guten gewendet hat.

Zuletzt kamen allerdings immer weniger Leserkommentare zu der Kolumne, es schien, als sei das Konzept erst einmal erschöpft. Der wöchentliche Turnus ließ zudem manches Thema doch schon recht alt aussehen. Künftig möchten wir uns auf Tagesspiegel.de deshalb spontaner und frei vom Wochenrhythmus der Debattenkultur widmen. So wie wir an neuen Tools und Moderationsformen arbeiten (siehe oben), mit denen wir die Debatte zu verbessern hoffen, so denken wir auch über eine neue Art der redaktionellen Reflexion über unsere Leserdebatten nach. Ihre Anregungen dazu sind wie immer willkommen. Bis hierhin in jedem Fall vielen Dank!

Und was meinen Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser? Wie schätzen Sie die Debattenkultur auf Tagesspiegel.de ein? Und wie können wir sie verbessern? Wie finden Sie die genannten Vorschläge zur Strukturierung der Debatte? Zum Beispiel die besten Kommentare nach oben zu stellen oder die Debatte mit Hilfe von inhaltlichen und persönlichen Filtern zu strukturieren? Kennen Sie noch weitere Beispiele von anderen Websites? Und was wären wichtige Themen für weitere Reflexionen über unsere Debattenkultur? Kommentieren und diskutieren Sie mit! Bitte nutzen Sie dazu die einfach zu bedienende Kommentarfunktion etwas weiter unten auf dieser Seite.

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