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Weit das Land, hoch der Himmel: Manche bekommen hier Beklemmungen, manche fühlen sich angesichts von Ausblicken wie diesem hier bei Baruth erst richtig frei.

© Thilo Rückeis

Thema Brandenburg: Die große Weite um Berlin

Luxus der Leere: Während Politiker düstere Szenarien für bevölkerungsarme Landkreise in Brandenburg entwerfen, begreifen andere den Platz als Chance. Was sie dort finden? Vor allem Freiheit. Eine Geschichte von Pendlern, Zugezogenen und Dagebliebenen.

Prenzlauer Berg, Pappelallee, hoch verdichtetes Stadtgebiet: 3528 Menschen pro Quadratkilometer. Aber im „Butter“ sind nachmittags noch ein paar Tische frei. Schweren Schrittes, die Hände in der Jackentasche, betritt Wolfgang Kil das Lokal. Der kompakte Mann hat Betonwerker gelernt, Architektur studiert und sich als Kritiker und Publizist selbstständig gemacht. Auf Kil stößt irgendwann, wer sich fragt, was denn werden soll aus dem schönen Land Brandenburg, dem langsam, aber stetig die Bevölkerung abhanden kommt. Kil hat vor zehn Jahren in einem Essay den schönen Begriff vom „Luxus der Leere“ geprägt. Da beschreibt er „die vom Industriezeitalter entlassenen Ländereien als Paradiese für Gärtner und Bastler, für Denker und Träumer und Forscher und Genießer. Für die Kundschafter einer völlig neuen Lebensweise“.

Stimmen wie jene Kils hört man bis dato selten. Die Leere als Luxus – das widerstrebt der Politik. Dort herrscht seit Jahren ein besorgter Ton, ein Diskurs über das Weniger, die Schrumpfung: weniger Kinder, junge Leute, die fortziehen, Dörfer, die verfallen. Da wird es immer teurer, für den verbleibenden Rest die Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Man denkt an texanische Geisterstädtchen. Der Wind pfeift durch Fensterhöhlen aufgelassener Bauernhäuser, Traktoren verrosten auf platten Reifen. Die Politik bekämpft die Angst vor der Leere, indem sie versucht, Leerräume mit Konzepten zu füllen und Flächen in irgendeiner Form zu nutzen – als Prinzip für eine Region, in der vieles schrumpft. Die These vom Luxus der Leere hat da etwas Befreiendes.

1. Der Pendler

Was Wolfgang Kil – eine Wohnung in Prenzlauer Berg, eine Hütte in der Uckermark – beunruhigt, ist dieser „Nutzungswahn“, von dem er befürchtet, dass er sich im menschenleeren Brandenburg umso leichter ausbreiten kann. Etwa quadratkilometerweise Monokulturen zur Produktion von Biosprit: Warum, fragt Kil, sollen urlaubende Radler irgendwo herumfahren, wo drei Meter hoch der Mais wächst? Oder quadratkilometerweise Solarfarmen: „Da wachsen nicht mal mehr Sträucher“, sagt Kil und pflügt gleich die Illusion unter, dass sich in Brandenburg Maximalleistungen bei den erneuerbaren Energien mit Tourismusangeboten für betuchte Berliner vertrügen: „Wenn man Wellness will, dann muss man Landschaftszerstörung zähmen.“ Dieser Mann, der Brandenburg von Berlin aus immer wieder neu entdeckt und mit immer neuer Aufmerksamkeit bedenkt, sieht Entwicklungen ablaufen, die nichts mit idyllischen Berliner Vorstellungen von einer kleinen Landpartie am Wochenende zu tun haben.

Wolfgang Kil wünscht sich ein lebenswertes Brandenburg.
Wolfgang Kil wünscht sich ein lebenswertes Brandenburg.

© Thilo Rückeis

Aber was will Brandenburg? Kil erzählt, wie er mal auf einer Zugfahrt aus dem Oderbruch in Richtung Berlin fast den Hauptbahnhof verpasst hätte, weil er sich festgelesen hatte in den „Szenarien für das Oderbruch“. Die handeln von den verschiedenen Möglichkeiten, Naturräume zu nutzen – zum Beispiel durch Intensivierung der Landwirtschaft zur Produktion von Biomasse: Mais, Mais, Mais, wohin das Auge blickt. Oder durch einen Rückzug auf „Kulturlandschaft“ mit Biolebensmitteln und ein wenig Tourismus. Oder dem Absaufen einer ganzen Landschaft in einer Flutkatastrophe, mit Flüchtlingen in Notaufnahmelagern. Zweierlei macht diese Szenarien so spannend: Sie gehen vom Jetzt aus und zeigen, wie die Zukunft einer ganzen Landschaft jetzt beeinflusst wird. Und: Die Landschaft, um die es geht, grenzt fast an die Berliner Stadtgrenze.

Kils Art, auf Brandenburg zu blicken, ist eine andere. Er schätzt das Land, wie es ist: leer, weit und vor allem frei. Diese Freiheit ist es, die den Städter Kil nach Brandenburg zieht. Er habe so ein „großes Bedürfnis nach Himmel“, sagt er, „und nach weiten Blicken“. Und dann noch das Wasser. Er habe das Segeln, das er als Junge mal gelernt habe, wiederentdeckt, erzählt er. Und weil er kein Naturschwärmer ist, sondern Kritiker und Publizist und ein Mann des Geistes, nimmt er das angebotene Banalwort „Gegenpol“ auf und bringt seine Hütte in einem uckermärkischen Dorf auf den schönen Begriff, sie sei für ihn „das notwendige Zweite“: In der Vorstellung des Stadtmenschen, Fußgängers, Zeitung-im-Café-Lesers Kil immer mit Arbeit und Reparaturbedürftigkeit verbunden. „Aber wenn ich da bin, schnappt es sofort zu“: das Gefühl von Freiheit unter hohem Himmel.

So spricht, wer in der Leere einen Wert sieht. Kil hat sich mit schrumpfenden Städten und der Demontage der DDR-Industrie befasst. „Wir sind mit dem geordneten Rückzug beschäftigt“, stellt er fest – und sagt damit mit einem Satz, wofür die Verfasser des „Gutachtens zum demographischen Wandel im Land Brandenburg“ 64 Seiten gebraucht haben. Doch anders als die Politiker, die leere Räume stets mit etwas füllen müssen und sei es mit Plänen und Versprechungen, kann der Kritiker und Intellektuelle, den seine Arbeit in der Stadt hält, sich in Bezug auf das „notwendige Zweite“ der Vorstellung vom Luxus der Leere hingeben: Was derzeit stattfinde in Brandenburg, sagt Wolfgang Kil, sei Schrumpfung – aber es sei auch eine „Bewegung ins Offene“. Seine Gegenidee hat etwas anarchisch Freies: Ausnahmesituationen schaffen – Gebiete, in denen Menschen Ideen testen und nicht gleich von der nächsten Bauordnung gebremst oder nach dem Sozialstaatsprinzip mit Geld vor infrastrukturlosen Zuständen geschützt werden.

2. Die Stadtflüchtigen

Christine Hoffmann hat sich auf Dauer ins Offene bewegt. Die Künstlerin ist aus Berlin nach Steinhöfel im Landkreis Märkisch Oderland gezogen. Wer Leute sucht, die sich auf dem Land Gedanken machen über den Umgang mit der Leere und den freien Räumen, findet am ehesten Leute wie sie: Künstler, Lebenskünstler, Projekterfinder. Manche nennen sich „Raumpioniere“ – sie füllen offene, ungenutzte Räume mit Aktionen, Ideen, Nutzen. Und gucken mal, was daraus wird. Christine Hoffmann hat das Projekt „LandKunstLeben“ erfunden – sie würde wohl eher sagen: entwickelt.

Christine Hoffmann ist im Landkreis Märkisch Oderland heimisch geworden.
Christine Hoffmann ist im Landkreis Märkisch Oderland heimisch geworden.

© Thilo Rückeis

Wie sich Dinge beim Reden entwickeln, oder beim Leben. Geboren auf dem Land, oben in MeckPomm, aufgewachsen in Westfalen. Dann West-Berlin. In einem kleinen Katalog hat sie geschrieben: „1973–1994 Studium und Projekte Berlin“. 21 Jahre Studium und Projekte – das ging nur in West-Berlin. „Eine Art Wohnzimmer“ sei die Stadt für sie gewesen, erzählt sie im Büro von „LandKunstLeben“ in Steinhöfel. Hoffmann ist es in Berlin schon kurz nach dem Mauerfall zu voll geworden. Sie hat sich in Brandenburg umgetan und fand Steinhöfel: Ein Straßendorf im flachen Land unter der hochgewölbten hellgrauen Himmelskuppel des Oderlandes. Da sitzt man auf der ersten Etage eines alten Bauernhauses, trinkt Kaffee und kommt ins Erzählen, ohne Blick auf die Uhr, ohne Terminkalender.

So ist es immer, wenn man Leute auf dem Land besucht, die Projekte machen. Man kann über das reden, was das Land mit einem macht. „Freiraum. Erdung. Platz um mich rum“, sagt Christine Hoffmann. In der Berliner Innenstadt, das war ihr Gefühl, stimme das Verhältnis zwischen Menschenmenge und Raum nicht mehr. Dieses Land da um Steinhöfel herum, die Felder und Wälder, die vielen Möglichkeiten, einfach zu gehen, gäben ihr die Empfindung „Ich bin wirklich auf der Welt“, sagt sie. Zu pathetisch? Ach was, Christine Hoffmann hat es nicht mit Pathos, sie ist bloß gewohnt, offen zu sagen, was sie empfindet. Deshalb kommt sie von Freiheit – den Begriff teilt sie mit dem Pendler Wolfgang Kil – und Erdung auf direktem Weg zu einer anderen, ungleich prosaischeren Komponente des Landlebens: Finden, entdecken, weiß Christine Hoffmann, muss man nicht nur das Gefühl von Freiheit, sondern auch Wege zum Geldverdienen.

Da ergibt sich, beim Blick auf Christine Hoffmanns Geschäftsmodell, ein neuer Berlin-Bezug, der an alte Zeiten erinnert, als das Umland die Stadt ernährte. Hoffmann bewirtschaftet heute einen Garten. Von einer rot-braunen alten Ziegelmauer umgeben warten 20000 Quadratmeter Fläche mit alten Obstbäumen auf Besucher aus Berlin, zum Apfelfest oder zu Kochkursen unter freiem Himmel, logisch: mit regionalem Bezug. Parallel dazu wird der Garten für Kunstprojekte, für Installationen und Aktionen genutzt, die werden fotografiert, gefilmt, ausgestellt. Land, Kunst, Leute bekochen – Christine Hoffmann und Freunde fügen es so zusammen, dass es zum Leben reicht, draußen in Steinhöfel, östlich von Berlin.

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Die Wittkes, Auswanderer aus Kreuzberg, haben den Bezug zur Außenwelt, der vielen hier die Freiheit erst finanzierbar macht, noch stärker institutionalisiert: Karsten Wittke und seine Frau Annette Braemer-Wittke sind Künstler, Projekterfinder, Netzwerker in Baruth/Mark. Wittke exportiert von hier, aus einer alten Schule, in deren Erdgeschoss die Familie seit 2005 mit ihren Kindern dauerhaft lebt, Kunst am Bau in die ganze Republik. Das Geld, das dafür bezahlt wird, sei vor allem in Südwestdeutschland zu finden, sagt er. Baruth, der kleine Ort mit Bahnanschluss, ist dafür die logistische Startbasis und für beide Wittkes ein selbstbestimmter Lebens-, Arbeits- und Atelier-Ort. Weite, Freiheit, Spaziergänge mit dem Hund, Wildvögel am Himmel – das ist, auch für sie, das Schöne am Landleben. „Schöner Ort nirgendwo“ ist der Titel eines Kunstkatalogs über Projekte im Baruther Schlosspark, den Wittke mitherausgegeben hat. Zugleich ist Baruth für die beiden auch Aktionsraum. Ihr „Institut zur Entwicklung des ländlichen Kulturraums“ (I-KU), eine Art freier Forscherverbund, versteht sich als Ideen-Erzeuger im ländlichen Raum. Da ist auch wieder das Selbstverständnis des Stadtflüchtlings als Raumpionier, als Erfinder: Wie gehen wir mit der Landschaft um? Wie nutzen wir Raum, Fläche, Klima?

Die Wittkes bauen in Baruth Wein an.
Die Wittkes bauen in Baruth Wein an.

© Thilo Rückeis

Die Wittkes haben darauf auch eine originelle Antwort gefunden: 2007 pflanzten sie die ersten 550 Weinreben auf einem Hang in Baruth, im September des Jahres organisierten sie das erste Baruther Weinbergfest: Kultur auch das, auf dem Land, 40 Kilometer südlich der Berliner Stadtgrenze. 400 Leute seien bei dem Fest gewesen, sagt Annette Braemer-Wittke. Das Ganze nur für eine Berliner Event-Veranstaltung zu halten, wäre ein Irrtum in der Perspektive. Karsten Wittke bezeichnet den Weinberg als „wirtschaftliches Konzept“, Baruther Mikroökonomie aus Künstlerhand – eine Marke, die, da klug platziert, schnell ihr Publikum gefunden hat. Was kann daran falsch sein? Zumal es für die Wittkes nicht nur das ist: Der Weinberg sei das Projekt, „mit dem wir uns hier verankert haben“, sagt Wittke: „Wir sind jetzt so quasi Landwirte.“ Was bedeutet: Die Ex-Berliner aus dem alten Schulhaus haben die Chance, zugleich jenseits der Stadtgrenze kulturbezogen zu leben und von den Ur-Baruthern, von den Leuten vom Land, wirklich ernst genommen zu werden. Das ist kein Modell für das große Ganze, aber es kann eine Existenzgrundlage werden: So könnte es gehen mit dem Leben ganz weit draußen.

Und die Nachteile? Die beiden grübeln ein wenig in ihrer Wohnküche mit den hohen Schulklassenfenstern. Der Himmel leuchtet hellgrau. Annette Braemer-Wittke sagt, die Suche nach einer guten Schule sei nicht ganz einfach gewesen. Zur Musikschule in Wünsdorf musste sie die Kinder fahren. Ärzte? Zwei gebe es im Ort. Das Altwerden? „Wir müssen wahrscheinlich sowieso neue Modelle erfinden“, sagt sie. Das Alter wäre jedenfalls kein Grund für den Rück-Zug in die Stadt, meinen beide. „So richtig kann ich mir das mit Berlin gar nicht mehr vorstellen“, sagt Karsten Wittke. Annette Braemer bringt das Landleben auf den eigenartigen Satz: In Baruth sei es, „als wäre man durch einen Zeittunnel durchgefallen“.

3. Der Bewahrer

Rote Ziegel, stapelweise. Dachziegel in verschiedenen Formen. Alte Dachbalken. Eiserne Türangeln, Schlösser, Beschläge. Alte Fenster: Peter Herbert sammelt das alles, ordnet es – und gibt es weiter an Leute im Oderbruch, die alte Häuser wiederaufbauen. Wenn irgendwo ein Schuppen zusammengestürzt, eine Ruine abzuräumen ist, kommt Herbert mit seinem zweiundzwanzig Jahre alten VW-Transporter vorbei, lädt alles auf, fährt zu seinem Hof in Neulewin und sortiert. Meistens helfen ihm Mitglieder der „Hofgesellschaft“ – so heißt der Verein, dem Herbert vorsteht. Die haben dann exklusiven Zugriff auf das Materiallager. Nichts soll verloren gehen, was seit der Kultivierung des Oderbruchs im 18. Jahrhundert mal verbaut worden ist.

Peter Herbert sammelt Baustoffe im Oderbruch.
Peter Herbert sammelt Baustoffe im Oderbruch.

© Werner van Bebber

Peter Herbert ist eine Art freischaffender Baukultur-Bewahrer, einer, der hier auf dem Land nicht die „Bewegung ins Offene“ sondern die Spuren des Gestern sucht. Als Eigentümer eines kleinen alten Hofes, den er als Werkstatt, Sitz der Hofgesellschaft, Lager und außerdem Herstellungsort einer von ihm erfundenen Senfmarke nutzt, ist er ein „Raumpionier“ von anderem Schlag – einer, der einen dezidiert alten Raum mit neuem Sinn und Zweck erfüllt. Herberts Faszination für Brandenburg ist die des ehemaligen Rand-Berliners, der hier nicht nur Leere, sondern auch ein Stück Beschaulichkeit und vor allem eine Aufgabe gesucht hat. Herbert ist ein Stadtauswanderer, der, wie er sagt, nicht wusste, ob er die Fremdheit auf dem Land und Leere des Oderbruchs aushalten und mit Lebensinhalt füllen könnte, als er 1995 sein Grundstück samt Ruine in Neulewin erwarb. Ein Jahr lang habe er gemeinsam mit dem damaligen Vormann des Heimatvereins und dessen Sohn jedes Wochenende an der Ruine gearbeitet, die sein Haus werden sollte. Vier Jahre habe das Ankommen gedauert, sagt Herbert. Aber er sagt auch, noch immer begeistert: „Mir wurde hier so was von geholfen!“ Wer die Ruinen-Fotos von 1995 sieht, hält Herbert für einen mutigen Mann. Mut? „Ahnungslos“ sei er gewesen, sagt Herbert trocken. Man sitzt auf alten Holzstühlen zwischen nunmehr drei wiederaufgebauten Ziegelgebäuden unterschiedlicher Größe. Draußen ist es wärmer als in den alten Häusern, und Herbert füllt, ohne das Wort zu gebrauchen, den Begriff „Kreislaufwirtschaft“ mit neuem Sinn. Seine Hofgesellschaft sei ein Verein, „der Geld nicht braucht und auch nicht haben will“, sagt er. Sie funktioniere über Tauschgeschäfte, Freundschaftsdienste, Nachbarschaftshilfe, „so dass Ruinen ganz allmählich schön aussehen“. Und warum das alles? Auf einen einzigen Begriff mag Peter Herbert sein Gefühl für das Leben auf dem Land nicht bringen. Die Idylle sei es nicht, sagt er – zumal im Winter sei der Alltag „heftig“. Doch habe er sein Wohlbefinden „immer schon aus der Ruhe gezogen“. Die ist in Neulewin allerdings fundamental. Und es sei ihm wichtig, mit „wenig Geld“ auszukommen. Das könne er nur hier. Außerdem neige er dazu, „das, was ich mache, bis zum Exzess durchzuprobieren“ – zum Beispiel bei der Senfproduktion, seinem Ein-Mann-Unternehmen. Das alles fügt sich für Peter Herbert im Oderbruch zu einem – und da ist das große Wort dann doch wieder – freien Leben. In Berlin seien ihm „die Grenzen“ näher gewesen „als hier“. Die Sehnsucht nach der Weite teilt Herbert mit den anderen Raumpionieren – ebenso wie das Problem, dass auch das beste Leben als selbstbestimmter Siedler früher oder später Fragen nach der Zukunft aufwirft. Den Familienverbund, der das Landleben in der Vergangenheit bis ins hohe Alter möglich machte, kennt gerade einer wie Herbert nicht. Wie lange er so leben kann, wie er lebt – das weiß er nicht. Holz hacken und sägen zu können sei aber eine Voraussetzung.

4. Der Dagebliebene

Marienfließ in der Prignitz, 10 Einwohner pro Quadratkilometer: Noch lockerer ist Brandenburg nirgends besiedelt. Ralf Knacke, der ehrenamtliche Bürgermeister des Amts Marienfließ, muss sich um sein Alter keine großen Sorgen machen: Im Hauptberuf leitet er im Dörfchen Stepenitz, das zum Amtsbezirk gehört, ein Altenpflegeheim, untergebracht auf dem Gelände eines ehemaligen Zisterzienserklosters. In Stepenitz ist Knacke geboren, aufgewachsen, Vater und Bürgermeister geworden, und er hat jetzt, mit 42 Jahren, nicht vor, den Wohnort zu wechseln. Was nicht bedeutet, dass er politisch ein Konservativer wäre. Er habe sich den Piraten angeschlossen, sagt er. Ihn überzeuge nicht, was die Landesregierung gegen die Entwicklung aufbiete. Zu Manfred Stolpes Zeiten war es die Fördergelderverteilung nach dem Gießkannenprinzip: für jeden etwas. Es folgte das Konzept „Dezentrale Konzentration“. Ministerpräsident Matthias Platzeck kam dann mit „regionalen Wachstumskernen“: Fördergelder dahin, wo sich etwas entwickelt hat. Außerdem will man Musterland in Sachen Bioenergie werden. Aber von den erforderlichen Monokulturen ist man höchstens in Potsdam begeistert– da, wo sie sprießen sollen, hadern viele damit. Kurzum: die eine Lösung gibt es nicht.

Putenfarmen oder Biogasanlagen waren für Knacke ein Motiv, politisch mitzumischen. Jetzt kommt er aus einer Mitarbeiterbesprechung im Heim. Zum Reden hat er gute anderthalb Stunden Zeit, bis die Kita im Ort um 17 Uhr schließt. Dann will er dort seinen Sohn abholen. Für den Mann, der nie weggegangen ist aus seiner Heimat, bedeutet das Leben im Dorf ein Maximum an Nähe. Auch seine Mutter wohne mit im Haus, sagt er. Drei Generationen unter einem Dach, das sei seine „soziale Ader“.

Dass die demografische Entwicklung für die Randzonen Brandenburgs zum Problem wird, sieht er natürlich auch. „Wir sind noch die Generation, die hier geblieben ist“, stellt er fest – von neun Klassenkameraden seinen acht im Dorf geblieben. Danach aber seien viele weg gegangen. Die Infrastruktur ist eben auch lockerer geworden. Die nächste Grundschule liegt rund zehn Kilometer entfernt in Meyenburg, dreißig Kilometer sind es bis zu den weiterführenden Schulen in Pritzwalk. Um halb sieben morgens fährt der Schulbus ab Stepenitz. Wer seinen Kindern was bieten wolle, sagt Knacke, der müsse fahren. Und „die Jugend muss weiter fahren, wenn sie was erleben will“. Seine fast erwachsene Tochter mache ihre Ausbildung in Greifswald, erzählt Knacke. Auch wer arbeiten wolle, der müsse fahren – meist nach Meyenburg, Wittstock oder Pritzwalk.

Ralf Knacke lebt schon sein Leben lang in Marienfließ.
Ralf Knacke lebt schon sein Leben lang in Marienfließ.

© Promo

Stepenitz – das ist Land, Felder, Wald. Ein paar Seen in der Nähe. Und auch hier, beim dagebliebenen Knacke, scheint alles auf einen Begriff hinauszulaufen: Sein Sohn, sagt Knacke, fahre mit dem Fahrrad allein durchs Dorf, seit er vier geworden sei. Das hat für ihn mit Freiheit zu tun. Immerhin gebe es noch einen Dorftreff, wo sich Leute abends zum Tischtennisspielen verabredeten, und eine Kneipe, wo man später Bier trinken gehe. Man sehe sich auf der Straße, man treffe seine Freunde, „es ist auch immer noch so, dass sich gegenseitig geholfen wird“, sagt Knacke. Das alles macht für ihn Lebensqualität aus: „Ich finde die Gemeinschaft schön.“ Draußen herrscht jetzt fast perfekte Stille. Nur drei Hunde bellen miteinander.

Erschienen auf der Dritten Seite.

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