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Moderne Gemütlichkeit. Beyza Özler in ihrem Laden in Prenzlauer Berg.

© Patrick Desbrosses

Türkische Teppiche als Kulturgut: "Wird ein Kilim nass, riecht er wieder nach Schafwolle und Sonne"

Türkische Teppiche sind wahnsinnig angesagt. Für Beyza Özler sind sie aber mehr als gemütliche Einrichtung - sie bewahrt sie als kulturelles Erbe.

Beyza Özler tänzelt über die Teppiche.

Es ist ein sonniger Herbsttag, noch hängen die Blätter golden und weinrot in den Bäumen der Sredzkistraße in Prenzlauer Berg, noch hat der Wind etwas entfernt Spätsommerliches, Melancholisches, und noch nicht diese beißende, nasse Kälte. Özler, dunkelblonde Haare, große, grüngraue Augen, ist ein bisschen aufgekratzt, tigert von ihrem Schreibtisch zur Fensterfront und zurück, nippt am Lavendeltee, der ihren kleinen, in warme Farben getränkten Laden mit einem sanften Duft erfüllt, und schaut auf ihr Telefon: Gleich soll es so weit sein. Gleich soll, mal wieder, eine Ladung mit elf etwa quadratmetergroßen Säcken voller Kilims aus der Türkei ankommen, 450 Kilo, insgesamt 300 Kissen, 300 Sitzsäcke und 50 Kilims. Schreibtisch, Fensterfront. Dann endlich - endlich! - hält vor dem Laden ein weißer Lieferwagen, die Tür springt auf, und da sind sie: "Meine Babys!", ruft Özler.

Die Lieferung kommt, wenn es nach Beyza Özler geht, keinen Tag zu früh: Bald wird es draußen so ungemütlich sein, dass man den Kragen hochschlägt, die Schals ganz eng zieht und darüber nachdenkt, wie man es sich zu Hause vielleicht noch ein bisschen gemütlicher machen kann. Es ist die beste Zeit überhaupt, um bunte, fröhliche Teppiche zu verkaufen. Und das gilt sowohl für die Jahreszeit als auch für den Zeitgeist.

Das Nonplusultra der modernen Gemütlichkeit

Noch vor wenigen Jahren waren Teppiche aus der Türkei wahlweise etwas für Spießer oder, Pardon, für Idioten. Denn entweder war man zu einem gekommen, weil die eigene Vorstellung von einem herzeigbaren Wohnzimmer noch immer einen etwas düsteren und immer weinrot gemusterten Teppich vorsah. Oder man hatte sich einen bei einer Pauschalreise durch Anatolien andrehen lassen, am Ende einer sogenannten Fabrikbesichtigung.

Seit einigen Jahren aber sind Kilims das Nonplusultra der modernen Gemütlichkeit: Die Farben strahlen hell und kräftig rot, lila, gelb, ocker und orange. Die Formen sind grob und klar und doch verspielt. Sie zeigen die Elibelinde, eine stark abstrahierte Frau, die die Hände in die Hüften stemmt. Sie zeigen Kurt Agz und Akrep, Wolfsmaul und Skorpion, alte Schutzzeichen der Hirten. Oder Göz und Musaka, das Auge und das Amulett, kleine

Beyza Özler träumt davon, eines Tages eine Schule für Kilim-Weberei zu eröffnen.
Beyza Özler träumt davon, eines Tages eine Schule für Kilim-Weberei zu eröffnen.

© Patrick Desbrosses

Drei- und Vierecke, die Schutz vor dem bösen Blick und generell Glück versprechen. Vor allem aber sehen die Kilims, die Özler nun aufgeregt aus den Säcken zieht, aus, als hätten sich Mark Rothko, Paul Klee und die Teppichweber der Navajo-Indianer zusammengesetzt, zwei Fläschchen Schampus geköpft und gemeinsam entworfen.

Tatsächlich, erzählt Özler, habe Kemal Pasha Atatürk einst eine Expedition nach Amerika geschickt, um erforschen zu lassen, woher die Ähnlichkeiten zwischen den Mustern der Teppiche der türkischen Nomaden und denen der Azteken und Mayas kämen - mit unklarem Ausgang.

Nichtdestotrotz fügen sich die alten türkischen Webarbeiten verblüffend nahtlos in das ein, was in der Welt der Inneneinrichtung California Style genannt wird: weiße Wände ohne Tapete, großblättrige Pflanzen, große Schalen, viele Kissen, Kitsch aus Indien und Afrika, Dekoration aus Makramee und Ästen - und eben knallbunte Teppiche, wie Özler sie verkauft.

Die Türkei? Weit weg

Dass jedoch gerade Beyza Özler, deren Eltern in den 70ern aus der Türkei auswanderten und ins Stuttgarter Umland kamen, türkische Teppiche verkauft, nun, das war nicht so absehbar, wie es von heute aus scheint. "Meine Eltern kamen nach Deutschland, um ein neues Leben anzufangen", erzählt Özler mit leicht schwäbischem Zungenschlag. "Das hat mich auf jeden Fall geprägt. Meine Mutter hat immer gesagt, ich solle auf keinen Fall einen türkischen Mann heiraten."

Özlers Verhältnis zur Türkei blieb ambivalent: Sie ging, einerseits, auf eine türkische Nachmittagsschule, andererseits waren ihr, sagt sie, "die lauten Jungs, die in der letzten Reihe im Bus saßen, immer etwas peinlich". Ihre Eltern betrieben da bereits drei Modeboutiquen in Stuttgart, und Özlers weiterer Weg schien vorgezeichnet: Nach der Schule nach, klar, Paris, dann zum Studium der Textilwirtschaft nach Nagold im tiefen Schwarzwald, um dann bei der kleinen, aber exquisiten Modemesse "Ideal" in Berlin anzuheuern. Die Türkei? Weit weg. Ab und an legte sie türkischen Psychedelic-Rock in der legendären King Size Bar oder im kleinen Kabuff des Club Picknick in der Dorotheenstraße auf. Das war's.

Özlers kleiner Laden in Prenzlauer Berg ist auch eine Brücke zwischen den Kulturen, hinweg über Politik, Rassismus und Klischees
Özlers kleiner Laden in Prenzlauer Berg ist auch eine Brücke zwischen den Kulturen, hinweg über Politik, Rassismus und Klischees

© Patrick Desbrosses

Özlers Weg führte weiter und weiter weg - von den Eltern, die ihr kleines Stuttgarter Modeimperium gerne der Tochter vermacht hätten, auch von der Mode, von deren Eitelkeit und Rücksichtslosigkeit Özler zunehmend enttäuscht und genervt war, und erst recht von der Türkei, die in all den Jahren höchstens durch politische Großmaulerei auf sich aufmerksam machte. Özler ließ sich in Indien zur Yogalehrerin ausbilden, dann wurde sie schwanger. "Zu der Zeit war mein Türkisch wirklich katastrophal. Ich konnte nicht mal richtig zählen, kannte nicht einmal die Wochentage - weil's mich bis dahin einfach nicht wirklich interessiert hat", erzählt sie "Aber ich habe gemerkt: Wenn ich's nicht lerne, dann kann ich es auch nicht an meine Kinder weitergeben und der Faden reißt bei mir ab."

Hier geht eine Tür auf

Özler berappelte sich, schrieb sich für Turkologie ein, besuchte mit ihrer neu geborenen Tochter Vorlesungen, lernte Türkisch, las sich in die Literatur ein, begann sich mit Sufismus und Mystik zu beschäftigen. Aber es war alles nicht genug. Im Sommer reiste Özler in die Türkei, zu einer Freundin nach Kas - als aber nach zwei Wochen der Urlaub vorbei war, wusste sie: Das hier ist zu Hause. Das hier ist ein Neuanfang. Hier geht eine Tür auf.

Also mietete sie sich eine Dachgeschosswohnung in Çerçeler, einem Ort oberhalb von Kas. In einem Teppichladen im Dorf kaufte sie ihren ersten eigenen Kilim. An einem heißen Tag im Sommer 2013, nachdem Özler bereits mehrere Teppiche für ihre Wohnung gekauft hatte, nahm der Händler sie mit in die Berge von Gömbe, wo die Teppiche gewebt werden. Özler verliebte sich auf der Stelle in die steinige und doch mächtige Landschaft.

Vor allem aber verliebte sie sich in drei kleinen Schäferhütten aus Naturstein und Holz, die der Teppichhändler ausgebaut hatte und, vermutet Özler, gerne an sie verkauft hätte. "Ich kann mich noch genau an diesem Moment erinnern, wie ich da eingetreten bin: dieser Duft von Zedern und Wacholder!"

Die steinige, mächtige Landschaft der Berge von Gömbe.
Die steinige, mächtige Landschaft der Berge von Gömbe.

© Beyza Özler

Özler hatte den nächsten Schritt sofort vor Augen: Ein spiritueller Retreat in den Bergen Anatoliens, ein bisschen entspannen, ein bisschen die türkische Küche kennenlernen, vor allem für Mütter mit kleinen Kindern auf der Suche nach ein bisschen Ruhe, ein bisschen Entspannung und ganz viel Natur. Der Name: "Wild Heart, Free Soul", Özlers Lebensmotto. Dazu lud sie Freunde und Bekannte ein, gab Yogaklassen - aber so begeistert die Besucherinnen von der Natur und der Erholung auch waren: Noch begeisterter waren sie von den Kissen und Teppichen, mit denen Özler die kargen Hütten wohnlich gemacht hatte.

Yörük heißt Nomadin

Özler tingelte über die Dörfer, kaufte die Kilims, die ihr mit ihrem geschulten Geschmack am schönsten erschienen, und veranstaltete im April 2014 den ersten Basar in Berlin, der sofort ein voller Erfolg war. Und sie begann, sich näher mit den Teppichen zu beschäftigen. Mit ihrer Geschichte. Begann, nicht mehr in Läden an der türkischen Küste zu kaufen, sondern direkt bei den Frauen in den Bergen, die die Kilims webten. Begann, auf Märkten auch alte und kaputte Teppiche zu kaufen, sie nach Istanbul zu liefern, zu reinigen und zu restaurieren, die unrettbaren Teppiche ließ sie zu Kissen umnähen. "Das Besondere an Kilims ist, dass sie traditionell von den Frauen für die eigene Familie gewebt wurden", sagt Özler. "Die Gestaltung ist unbeeinflusst von Kundenwünschen, von Zeitgeist oder Politik."

Die Kilim-Weberinnen machen Kunst, ohne sich als Künstlerinnen zu verstehen.
Die Kilim-Weberinnen machen Kunst, ohne sich als Künstlerinnen zu verstehen.

© Beyza Özler

Und die Teppiche stellten sich als ein Stück Herkunft heraus, das perfekt in Özlers Leben passt. "Wenn ein Kilim nass wird, riecht er wieder nach Schafwolle und nach Sonne", sagt sie. "Das erinnert mich an die Sommer bei meinen Großeltern in Anatolien."

Langsam, Stück für Stück, baute sich Özler so ihre eigene Idee von Heimat: aus der Abneigung ihrer Eltern gegen den türkischen Machismo. Aus der Liebe zur Mode, zu Stoffen und Mustern. Aus der Spiritualität, aus Yoga, Tee und Kissen. Aus dem türkischen Sufismus und den jahrtausendealten Mustern und Traditionen der Kilims, die schon von Frauen gewebt wurden, als es den Islam und die Türkei noch gar nicht gab. Und aus türkischen Begriffen, die sie in alles, was sie sagt und schreibt, immer wieder einwebt: Yolcu heißt Passagier. Nur heißt Licht. Sevgilerle heißt zärtlich. Öpücükler heißt Küsse. Und Yörük, so bezeichnet sich Özler selbst. Das heißt Nomadin.

Längst bieten die Möbelriesen ähnliche Muster an

Aber die Suche nach der Heimat ist für Özler längst zu einem Wettlauf mit der Zeit geworden: Immer weniger Frauen im Gebirge nördlich von Kas setzen sich an die großen Webstühle; Teppiche sind billig geworden, die Arbeit auf dem Feld ist ertragreicher. Für Özler aber sind die Frauen, die zwischen Gömbe und dem Berg Akdag schon immer Teppiche weben, nicht einfach nur Handarbeiterinnen. Es sind Künstlerinnen, deren Arbeiten nur deshalb nicht ausreichend gewürdigt werden, weil sie einfache Frauen aus bäuerlichen Familien sind.

Die kleine Nachbildung von „Die Teppichhändler” des iranischen Malers Jafar Petgar ist für Özler Inbegriff ihrer Familie und Herkunft.
Die kleine Nachbildung von „Die Teppichhändler” des iranischen Malers Jafar Petgar ist für Özler Inbegriff ihrer Familie und Herkunft.

© Patrick Desbrosses

Özler träumt davon, eines Tages eine Schule für Kilim-Weberei zu eröffnen. Vielleicht einen Bildband zusammenzustellen, eine Sammlung der großen Kunst der Kilims. Vorsichtshalber lässt sie alle Kilims, die sie in ihrem Laden verkauft, aufwendig fotografieren. An einem Dokumentarfilm über die Kilim-Weberinnen arbeitet sie bereits. Vielleicht, sagt Özler, schaffe sie es ja, dass die Kilims für die Frauen Anatoliens irgendwann wieder lukrativer würden als die Felder. Aber das wird schwer: Längst haben die großen Einrichtungshäuser ähnliche Muster im Sortiment. Die Teppiche kommen aus Fabriken, wer schaut schon so genau hin?

Manchmal, sagt Beyza Özler, habe sie mittlerweile das Gefühl, dass es ihr gar nicht mehr darum gehe, die Teppiche zu verkaufen. Sondern vor allem darum, diese Kunstwerke zu retten, ehe sie verschwinden oder, auch das passiert, auf dem Müll landen. "Mein Vater erzählte mir, dass meine Großmutter und meine Tanten noch selbst Teppiche gewebt haben", sagt Özler ganz am Ende des Gesprächs, als die kleinen Gläschen mit dem Lavendeltee leer sind. "Ich habe nach ihnen gesucht. Aber es war alles weg."

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