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Neue Beziehungen: Die Liebe schlägt ein, zwischen zwei Menschen, sie ist ausschließlich - oder?

Die Kolleginnen heiraten, sich einen Bruder aussuchen, eine Ehe öffnen: Endlich können wir die Beziehungen führen, die zu uns passen. Das macht glücklich. Aber anstrengend ist es auch.

Mein Bruder ruft mich an, um bisschen zu plaudern. Neue Crossmaschine. Und ein neues Mädchen, vielleicht. Er wisse nicht genau, ob das eine Beziehung werde, ob er das wolle. Die beiden kennen sich seit kurzem, beide sind 16. „Was heißt denn Beziehung“, will ich wissen. „Na, Beziehung halt“, sagt er. „Ja, aber was soll das sein?“ Nachdruck in meiner Stimme. „Be-zie-hung“, sagt er, meinen Ton imitierend, „zusammen sein halt“. Und ich: „Aber was bedeutet das?“ Dann er: „Also, wenn ich hier Beziehung sag, dann wissen alle, was ich meine. Nur, weil du das da anders machst in Berlin, heißt das nicht, dass sich das alle fragen. Hier ist Beziehung Beziehung. Zwei Leute, man gehört zusammen, fertig, aus.“

Ich erinnere mich an eine Zeit, in der mein Freundeskreis fast ausschließlich aus Paaren bestand. Wir waren immer zu sechst in der WG, statt zu dritt, weil wir immer alle unsere Schmusis da hatten. Oft kamen Freund*innen vorbei und die hatten auch ihre Schmusis dabei. Oder die Schmusis kamen noch nach. Oder die Schmusis kamen ihre Schmusis abholen. Es wurde viel Hand in Hand gegangen und in Bars auf einanders Schoß gesessen und das Auto hatte immer einen Platz zu wenig. Paare waren füreinander gebucht, zuständig und hauptverantwortlich. Große Irritationen dann, wenn Dings mit Dings gesehen wurde oder Dings nicht wusste, wo Dings ist, weil: Warum weißt du nicht, wo deine Freundin ist, seid ihr nicht mehr zusammen?

Be-zie-hung, ey

Man macht es, wie man es kennt. Man macht es, wie die anderen es machen, wie man es beobachtet hat, bei den Eltern, den Freund*innen der Eltern, den Leuten in Filmen, in Büchern, bei Jay-Z und Beyoncé. Die Liebe schlägt ein. Sie findet statt zwischen zwei Menschen. Sie ist ausschließlich. Sie muss beteuert, bewiesen und zur Aufführung gebracht werden. In Form einer Be-zie-hung. Unser*e Liebespartner*in erfüllt darin all unsere Bedürfnisse: nach Zärtlichkeit, nach Nähe, nach Sex, nach Event, nach Gespräch, nach Sicherheit, nach leckerem Essen, nach Ritual, nach Abenteuer. Diese Liebe wird zum Zentrum des Lebens. Bestenfalls mündet sie in die Ehe, zu zweit wird für die Ewigkeit eingetütet. Bestenfalls erwächst aus ihr ein Kind (#keimzelledergesellschaft).

Warum ist so viel Nähe erstrebenswert?

„Zwischen uns passt kein Blatt Papier“, lautet ein Sprichwort, das einen glücklichen Zustand beschreiben soll. Mit jemandem so einig, so nah und so verbunden sein, dass kein Blatt dazwischen passt. Kein. Fucking. Blatt. Um jemanden so nah zu haben, dass kein Blatt zwischen den eigenen Körper und den der anderen Person passt, muss man diese so fest an sich drücken, oder sie einen an sich, dass es auf jeden Fall weh tun muss, mindestens eine von beiden keine Luft bekommt und beide insgesamt sehr unbeweglich sind. Und schwitzen. Warum ist das erstrebenswert?

Die Liebe regiert. Nur die Staatsform wird überprüft.
Die Liebe regiert. Nur die Staatsform wird überprüft.

© Daniel Hofer

„Lebe, wie ich denke, dass ich es will, oder wollen sollte, statt mich ernsthaft zu fragen, wie ich wirklich leben will. Nicht aus Blödheit. Sondern aus Gewohnheit.“, schreibe ich irgendwann 2012 in mein Notizbuch. Dann kommt der Sommer, in dem T mit mir schimpft, weil ich Eva Illouz' „Warum Liebe weh tut“ mit in den Urlaub gebracht habe, und damit droht, es ins Meer zu werfen. Dann kommt der Winter, in dem immer „Diamonds In The Sky“ von Rihanna läuft. Dann kommt der Sommer, in dem ich Simone de Beauvoirs Briefe an Sartre lese. Dann kommt der Winter, in dem Amazon Prime die Serie „Transparent“ herausbringt. Dann kommt der Sommer, in dem ich mit S zusammen bin, die in einer langjährigen Partnerschaft mit G ist und es ist kein Geheimnis. Dann kommt der Winter, in dem die zweite Staffel von „Transparent“ rauskommt. Dann kommt der Sommer, in dem mein Date auf einer poshen Hochzeit einen Jute-Beutel mit der Aufschrift „FUCK MARRIAGE“ trägt; die Wedding-Planerin nickt nervös grinsend. Dann kommt der Winter, in dem mein Bruder anruft und sagt: Be-zie-hung, ey.

Die Liebe regiert. Aber die Staatsform wird überprüft

Das ist jetzt. Nicht nur mein Bruder, sondern auch ich und mein Freundeskreis haben sich verändert. Wo früher alle ordentlich zu Paarsocken zusammengebunden waren, leben alte und neue Menschen jetzt als Einzelpersonen, Duos, Gruppen und Teams. Paar oder Kein-Paar sind nicht mehr die primären Ordnungssysteme. Und das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass alle sich aus dem Love-Business zurückgezogen hätten. Im Gegenteil, alle küssen nach wie vor sehr gern und haben weiterhin ein großes Interesse daran, die Liebe regieren zu lassen.

Aber die Staatsform wird überprüft. Die Vorstellung von der romantischen Liebe in Form der monogamen (heteronormativen) Zweierbeziehung, die wir als Anfang-20-Jährige als Maxime des Erwachsenenlebens noch gekauft haben, immer wieder rein in den Korb und zieh durch die Karte, hat sich als Allheilmittel und Hort des Friedens und der Fröhlichkeit und des everlasting orgasm nicht bewährt.

Aha. Und stattdessen? Wie ist es also jetzt?

Zwei Leute, man gehört zusammen, fertig, aus.
Zwei Leute, man gehört zusammen, fertig, aus.

© Daniel Hofer

Zum Beispiel: Mit meinem Theaterkollektiv Henrike Iglesias auf Gastspiel in Leipzig, Ausflug in den Botanischen Garten. Wir reden über den One-Night-Stand der einen und die anstehenden Proben für unsere nächste Produktion, ich hab ein Eis in der Hand, wir haben alle Jogginghosen an und eine macht ein Foto von den Sukkulenten und ich schreib in mein Notizbuch: viel näher dran an wie ich leben will als 2012.

Vor zwei Jahren haben wir geheiratet. Unsere Hochzeit fand in einer Hinterzimmer-Kapelle in der Kantine der Berliner Sophiensaele statt. Ein schöner Mann mit Rauschebart in einem Hochzeitskleid eskortierte uns zum Ritual. Die Trauung wurde vollzogen durch das Schlager-Duo Xiroi. Es gab Ringe, Gesänge („Unter den Palmen der Liebe“) und Tränen - wie bei einer echten Hochzeit. Viele Menschen wurden an diesem Abend in Zweier-, Dreier-, Vierer-, Fünfer-Konstellationen getraut, während im ganzen Haus ein rauschendes Fest gefeiert wurde.

Drei Frauen als Lebenspartnerinnen

Diese drei Frauen sind meine Lebenspartnerinnen, meine Wahlfamilie. Sie kennen meine Brüste, meine Eltern, meine Ängste. Sie kennen mich mit Clown gefrühstückt und kurz vorm Nervenzusammenbruch. Wenn ich einen Witz mache, der auch von meinem Vater sein könnte, nennen sie mich Papi. Wir teilen nicht die Ansichten über Monogamie in romantisch-erotischen Beziehungen, wir haben unterschiedliche Nahrungsmittelvorlieben, manche von uns lieben Yoga, manche lehnen es ab. Unsere Beziehung hatte zu keinem Zeitpunkt eine erotische Ebene - romantisch kann es allerdings schon mal werden: unsere Hochzeitsnacht endete in einem 24-Stunden-Burger-Laden. Kurz nach der Hochzeit haben wir eine GbR gegründet, ein gemeinsames Konto eröffnet und uns beim Finanzamt gemeldet.

Das Open-Office-Dokument, in dem ich diesen Text schreibe, trägt den Titel „LEBEN - BUT HOW“, weil mich von jedem Punkt in meinem Arbeitszimmer der pinke Rücken des Aktenordners mit dieser Aufschrift anleuchtet. Eine lebenspraktische Sammlung, die ich angelegt habe, als ich mein Studium beendet habe und in die Selbstständigkeit gestartet bin. Der Ordner ist, bis auf einen Leitfaden zur Steuererklärung für Selbstständige im Kulturbetrieb, leer geblieben. Dabei ist es, mit wem auch immer ich mich unterhalte dieser Tage, die Frage der Stunde.

Beruflich ist vieles erreicht - was kommt jetzt?

Zu Besuch bei den Eltern: Wie wollen wir leben, die Kinder fast verabschiedet? Eine Freundin auf einer Hochzeit: Ich hab zum zweiten Mal den Brautstrauß gefangen, aber nicht mit mir, Freunde, nicht mit mir! In der Küche einer Loverin: Jetzt, wo ich beruflich erreicht habe, was ich erreichen wollte, womit fülle ich mein Leben sonst so? Eine Bekannte, frisch getrennt: Das Problem ist doch: Man macht Schluss und dann steht man da, hat alle Freund*innen vernachlässigt und weiß nicht mal mehr, wo das Waschmittel bei Rewe steht, weil das hat G immer gekauft. Mit einer anderen Freundin auf dem Tempelhofer Feld: Wovon es abhängig machen, an welchem Ort ich lebe? Ich könnte mit meinem Pass fast überall auf der Erde leben. Warum ausgerechnet hier? Im Internet: Was ist das für 1 life? Auf dem Balkon eines Freundes: Ich will kein Leben ohne Verbindlichkeiten führen, aber ich will entscheiden, welche Verbindlichkeiten ich eingehe und welche nicht.

Zusammen durch den Monsun eiern

Konservative und Reaktionäre fürchten das Ende der Familie durch Feminist*innen, Hedonist*innen und Sexualpädagog*innen. Alle anderen fürchten einen Backlash in die 1960er. „Generation Beziehungsunfähig“ ist zum Begriff geworden. Die Gesellschaft altert, aber ob Reproduktion überhaupt eine gute Idee ist, in Anbetracht des Zustands der Welt, ist eine weitere Frage.

Ein günstiger Moment, eigentlich, um die Strukturen unseres Zusammenlebens zu hinterfragen, anzupassen, zu verändern, neu zu erschaffen, wie sie uns individuell passen und im Großen wie im Kleinen zu fragen: Wie wollen wir zusammenleben, verantwortungsvoll und möglichst friedlich? Wie können wir aktiv die Systeme gestalten, von denen wir uns wünschen, dass sie uns auffangen und in denen wir andere auffangen? Wie soll sie aussehen, die Familie meiner Träume? Muss sie zwei Erwachsene haben und ein bis drei Kinder? Kann sie nicht vielleicht auch fünf Erwachsene haben und ein bis drei Kinder? Oder fünf Erwachsene und keine Kinder? Können wir uns miteinander verbinden, aufeinander zählen, einander halten, schützen und unterstützen, füreinander sorgen, ja: einander verpflichtet sein in guten wie in schlechten Zeiten, durch den Monsun eiern und ein Auto teilen, ein Konto, eine Vision für eine gemeinsame Zukunft, eine Rente, aber nicht ein Bett, eine Stadt, einen Hund?

Was bedeutet es, wenn man einander Familie nennt?

Es kann passieren, dass andere Frauen und Männer schön sind.
Es kann passieren, dass andere Frauen und Männer schön sind.

© Daniel Hofer

Ich schreibe diesen Essay gut gelaunt. Ich bin fast euphorisch an manchen Tagen, über die Möglichkeiten, Leben zu führen, Beziehungen zu gestalten, die es schon gibt und die noch gefunden und gelernt und ausprobiert werden können.

Zum Beispiel: Meine Freundin E, deren bevorzugte Lebensform nie die konventionelle Zweierbeziehung war, die aber immer wusste, sie will Kinder, und zwar nicht als alleinerziehende Mutter. Hat da jemand „Pech gehabt“ gemurmelt? Inzwischen hat sie eine Tochter, zusammen mit O, der auch immer Kinder wollte, aber seine Partner nie. S ist jetzt zwei Jahre alt und sehr heiter. Sie sieht sowohl Mama als auch Papa jeden Tag. Letztes Weihnachten haben sie zusammen mit Os neuem Partner bei Es Familie gefeiert. „Die Grundidee dieser freundschaftsbasierten Elternschaft“, sagt sie, „ist eben explizit keine getrennte Elternschaft, sondern eine gemeinsame, in der wir alle zusammen Zeit verbringen und S Mutter und Vater als respektvoll und herzlich miteinander umgehende Menschen kennenlernt. Nur, dass wir eben kein Liebespaar sind.“ Der schwierigste Faktor ist dabei die Zeit, weil beide arbeiten. Und vielleicht der Berliner Wohnungsmarkt.

Eltern, die keine Beziehung miteinander haben

Einmal in der Woche gibt es den „Elterntag“, den sie immer zu dritt verbringen, und jetzt hat E auch endlich eine Wohnung gefunden, die nur ein paar Straßen von Os Wohnung entfernt ist. Das erste Jahr nach der Geburt hatte O bei E gelebt. Im Moment bringt er am Morgen S zu E, wo sie den Tag verbringt und übernachtet, und am nächsten Morgen bringt E dann S zu O und so weiter. Bald kommt S in die Kita, dann wird sich ein neuer Rhythmus finden. Das Elternschaftsmodell entwickelt und verändert sich - es wächst mit. Denn als E und O sich entschieden, zusammen ein Kind zu zeugen und sich ihr Modell auszudenken, kannten sie ihr Kind ja noch nicht. Und sich selbst noch nicht als Mutter und als Vater. „Viele Schwierigkeiten, die wir haben“, sagt E, „haben klassische Elternpaare auch. Einfacher macht es, das wir nicht emotional miteinander verstrickt oder gar abhängig voneinander sind, wie man es in romantischen Liebesbeziehungen oft ist. Wir sorgen beide für uns selbst. Und zusammen für S.“

Grautöne akzeptieren lernen

Anderes Beispiel: Immer, wenn ich M sehe, reden wir über die Liebe. M ist seit über 20 Jahren mit ihrem Partner C zusammen. Sie waren 30, als sie sich kennenlernten, sie haben Kinder zusammen großgezogen, in unterschiedlichen Städten gelebt, eine Wohnung gekauft und immer gewusst: Es kann passieren, dass andere Frauen und Männer schön sind. Lass es passieren und lass uns drüber reden, nennt M ihre Absprache. In den letzten zwei Jahren war Ms Lover P ein großes Thema. Und vor ein paar Jahren wär fast alles in die Brüche gegangen, weil C zehn Jahre lang irgendwie J hatte, aber keine Sprache dafür. Grautöne akzeptieren lernen, sagt M, und: Erfahrungen machen mit der Liebe. Beide haben ihre Leben als eigenständig handelnde Menschen gelebt und einander berichtet, was sie erlebt haben. Es gab Zeiten von einseitiger und beidseitiger Monogamie, Zeiten mit gemeinsamer Sexualität und Zeiten ohne. Am Ende zeigt die Loyalität sich darin, dass man nicht voneinander weggeht, wenn es schwierig wird, sondern dass man da bleibt und die andere Person kennenlernt, mit allem, was da ist, sagt sie. Ich seufze.

Oder: Ich sag zu T (Jahre, nachdem Eva Illouz uns den Urlaub versaut hat): „Ich bin froh und dankbar, dass du gesagt hast: Du darfst gehen. Aber ich will, dass du bleibst.“ T sagt: „Aber du bist ja gegangen.“ Und ich sag: „Aber ich bin auch noch da. Und du bist auch noch da.“ Ich durfte ihre neue Freundin kennenlernen, ich erzähle ihr von meinen Liebschaften, und wenn ich irgendwo eine Giraffe sehe, schicke ich ihr ein Foto, nach wie vor, und wenn sie einen lebenspraktischen Rat von mir braucht, laufe ich zu Hochform auf, nach wie vor. Wenn sie anriefe und sagte, ich brauche dich hier in zehn, dann wär ich da in zehn. Zu was macht uns das?

"Wir haben uns gegenseitig adoptiert"

Oder: Was macht B und W zu Geschwistern? Als ich B kennenlerne, sagt sie manchmal: Mein Bruder macht das und das. Und ich sag dann: Mein Bruder macht das und das. Irgendwann wundere ich mich über die Elternkonstellationen und unterschiedlichen Nationalitäten in ihrer Familie, und sie sagt: „We adopted each other“. Und ich wundere mich weiter, weil ich nicht wusste, dass das geht. Dann erzählt sie mir, wie sie ineinander verliebt waren, zuerst, aber eine romantische Partnerschaft kam für ihn nicht in Frage. Dann ist Zeit vergangen, in der sie trotzdem eng verbunden blieben, dann hat sich die Beziehung verändert. Seit fünf Jahren sind sie Bruder und Schwester füreinander. Eine gemeinsame Entscheidung, die über den Zeitraum von einem Jahr gewachsen ist, ausgelöst durch Gespräche über ein Kunstprojekt über queere Versionen von Familienstammbäumen. Wie sähe ein Stammbaum aus, der nicht auf „geboren durch“, sondern auf „gewählt von“ beruht? Was bedeutet es, wenn man einander „Familie“ nennt? Welche Bedeutung hat es, „Bruder von“ oder „Schwester von“ zu sein, und welche Funktion gibt man einander damit?

„We both know we are alone in this world. But we can try and be together in that“, beschreibt B das Verhältnis zu ihrem Bruder. Wesentlicher Teil dieser Geschwisterbeziehung ist die Vereinbarung: Auch wenn wir zehn Jahre nicht gesprochen haben und du rufst an vom anderen Ende der Welt, weil du zum Beispiel stirbst, dann steig ich in ein Flugzeug und bin da.

Was bedeutet es, wenn man einander »Familie« nennt?
Was bedeutet es, wenn man einander »Familie« nennt?

© Daniel Hofer

Heute, bei Google Hangout (ein Videochat-Tool, in dem man mit mehr als zwei Personen videochatten kann). Halbe Stunde Henrike-Business-Talk, dann haben wir keine Lust, zurück in unsere jeweiligen eigenen Alltage zu gehen und hängen weiter ab. Eine wäscht ab nebenbei, eine schreibt E-Mails, wir bringen uns auf den neueste Stand in den Lebensbereichen Romance, Sex, Gesundheit und andere Jobs. Ist immerhin fünf Tage her, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und dann sag ich noch: Ich schreib auch über euch in diesem Essay, und eine sagt: Jaja, schlachte ruhig unsere Liebe in den tabloids aus.

Niemand konnte ahnen, wie sich das entwickeln würde, als wir uns vor einigen Jahren zum ersten Mal in einem Probenraum in der Uni Hildesheim an einen Tisch setzten und sagten: Naja, fangen wir mal an. Und es ist überhaupt nicht leicht, ein Kollektiv zu sein, mit vier Personen jeden Tag aufs neue knallhart Demokratie durchzuziehen, Konflikte auszutragen, die Bedürfnisse und Gefühle der anderen genauso ernst zu nehmen wie die eigenen. Es ist Arbeit. Wie jede Beziehung. Wie in jeder Familie, wie eigentlich immer, wenn mehr als eine Person im Raum ist, kann das Zusammenleben nerven, anstrengend sein und weh tun. Alle brauchen Platz. Alle wollen was. Alle haben Angst zu sterben.

Stimmungsrunde, anyone?

Wir haben in den letzten Jahren verschiedene tools für unser gemeinsames Leben entwickelt. Ein Beispiel: die Stimmungsrunde. Als vier feinfühlige Personen merken wir im Durchschnitt nach 5 bis 50 Sekunden, wenn es emotional in unserer Runde klumpt, sei es durch Ärger, Enttäuschung, Genervtheit oder einfach Traurigkeit wegen #life. Damit solche Verstimmungen sich nicht zu Blockaden, Vorwurfs-Battles oder Magengeschwüren entwickeln müssen, kann in solchen Momenten (oder auch jederzeit sonst, klar) eine Stimmungsrunde einberufen werden. Jemand sagt dann: Ich hab das Gefühl, wir brauchen ne Stimmungsrunde. Oder: Wir haben lange keine Stimmungsrunde mehr gemacht! Oder: Stimmungsrunde, anyone? Dann legen alle die Handys weg und sagen, was abgeht. Manchmal dauert's dann ein paar Stunden, oder es wird geweint, oder wir proben nicht mehr, sondern trinken Schnaps, aber manchmal kommt's auch vor, dass einfach alle hungrig waren oder lieber auf Fuerteventura wären.

Es war schon als Kind schön, allein oder mit anderen etwas zu bauen und es dann anzuschauen und zu denken: „Geil. Das hab ich, oder das haben wir, gebaut. Sieht toll aus. Und dieses Detail gefällt mir besonders.“ Und vielleicht später weiterzubauen, und wieder zufrieden zu sein, oder nicht ganz zufrieden zu sein und noch Dinge zu verändern, nochmal die tragenden Elemente zu überprüfen, einen Fehler in der Konstruktion zu finden oder eine Kleinigkeit zu ergänzen für einen großen Effekt. Oder manchmal auch: alles einzureißen und neu aufzubauen. Und dann sieht es entweder ganz anders aus oder genau wie vorher. Oder wie man es sich nie hätte vorstellen können.

Laura Naumann, geboren 1989 in Leipzig, studierte an der Universität Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Sie schreibt Theaterstücke und ist Teil des Autorinnen-/Performerinnen-Kollektivs Henrike Iglesias. Ihr Essay erschien zuerst im Magazin "Tagesspiegel Berliner", das Sie hier online lesen und herunterladen können.

Mehr LGBTI-Themen finden Sie auf dem Queerspiegel, dem queeren Blog des Tagesspiegels.
 

Laura Naumann

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