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Vor dem Backshop stehen zwei Männer, sie essen und rauchen gleichzeitig und unterhalten sich über etwas gänzlich anderes als über Wunder.

© Saskia Otto

Menschenmuseum: Warten im Wedding

Fernen Gestaden entgegen: Dirk Gieselmann über eine Weissagung im Taxi.

Über den Wedding gleitet an diesem Morgen tonnenweise Metall hinweg, fernen Gestaden entgegen, als wäre es leichter als Luft. Doch niemand schaut mehr zum Himmel, wo das Wunder geschieht. Die Menschen leben schon so lange mit den Maschinen zusammen, dass sie das Staunen verlernt haben.

Vor dem Backshop stehen zwei Männer, sie essen und rauchen gleichzeitig und unterhalten sich über etwas gänzlich anderes als über Wunder. Laut lachen sie auf, sehen im offenen Mund des anderen das halb zerkaute Brötchen, hören auf zu lachen, als wäre ein plötzliches Verbot ergangen, treten die Kippen aus und gehen ihrer Wege.

Es muss auf seine Chance gelauert haben, denn im gleichen Augenblick biegt ein Fahrzeug der Stadtreinigung um die Ecke und saugt die Krümel auf, die die Männer hinterlassen haben. Es sieht aus wie ein indischer Arbeitselefant, der von seinem Reiter geknechtet wird. Es geht ihm nicht gut, es ist ihm alles zu viel: der Dreck, die Stadt, die Menschen, die unerträgliche Leichtigkeit, eine Maschine zu sein. Es bräuchte eine Pause, es bräuchte Mitleid und Trost. Aber wen kümmert es?

Eine echte Nonne, stellen Sie sich das mal vor

Die Ampel wird grün, rot, wieder grün und rot. Ein Taxi hält, ja, wo soll's denn hingehen, sagt der Fahrer, aha, kenn ich, kein Problem. Das Taxameter springt an, und der Mann beginnt zu reden, als hätte man eine Münze in einen Automaten geworfen, wie er früher einmal auf Jahrmärkten stand: Weissagungen für zehn Pfennig, die alles bedeuten können und zugleich nichts. Aber was sind schon zehn Pfennig, wenn man die Zukunft nicht kennt?

Neulich sei ihm etwas Verrücktes widerfahren, sagt er, da habe er eine Nonne vom Alexanderplatz bis in die Schweiz gefahren. Eine echte Nonne, stellen Sie sich das mal vor. Sie habe ihm das Geld in einem Umschlag überreicht, ein Bündel Hunderter. Die ganze Reise über habe sie kein Wort gesprochen, sondern nur an die Decke gestarrt, und nach zehn Stunden, sagt er, sei sie grußlos ausgestiegen. Das war vielleicht unheimlich, meine Güte. Ich dachte, die murkst mich ab. Auf der Rückfahrt aber habe er seinen Cousin in Hanau besucht, immerhin, sagt er, den sehe ich sonst nur an Weihnachten.

Der Verkehr verdichtet sich, an der Kreuzung Müller-/Sellerstraße kommt er zum Erliegen. Fahrradfahrer ziehen vorüber wie eine Herde Antilopen. Es ist der wärmste November seit August. Im Radio läuft "Sunshine Reggae". Das Taxameter springt auf sieben Euro zehn, die Weissagung ist noch nicht zu Ende.

Denn kaum sei er zurück in Berlin gewesen, sagt der Fahrer, wurde die Geschichte noch verrückter: In der Kneipe habe eine Bekannte ihm berichtet, dass sie ein verlassenes Kloster gekauft habe, im Brandenburgischen, daraus wolle sie ein Hotel machen. Auf Ideen kommen die Leute, es ist nicht zu fassen, sagt er. Sie sei gerade dabei, das Gebäude leer zu räumen, die alten Möbel, die Bücher, die Bilder von Äbtissinnen, die niemand mehr kennt. Im Innenhof stapeln sich jetzt die Holzkreuze in einem Container. Die wolle nun wirklich niemand mehr haben. Am liebsten, sagt er, würde seine Bekannte die Kreuze einfach verbrennen. Aber wie sähe das denn aus? Was würden die Nachbarn denken?

Woher kam das Geld?

Die Autos stehen weiter vor der Kreuzung. Grund dafür ist ein in zweiter Reihe parkendes Auto, groß und falsch wie ein Panzer, der auf eine Kriegserklärung wartet. Niemand sitzt darin, niemand, den man verantwortlich machen könnte für die Verspätung, den Dreck, die Zukunft und den ganzen Rest.

Und da frage ich mich natürlich, sagt der Fahrer: Kam die Nonne, die ich in die Schweiz gefahren habe, etwa aus diesem Kloster? War sie die letzte dort? Musste sie fliehen? Woher kam das Geld? Dann hupt er das leere Auto an.

Auf dem Gehsteig überholt das Fahrzeug der Stadtreinigung die Wartenden, als wollte es sie hänseln. Im Rückspiegel sieht man ein Flugzeug landen. Vielleicht ist es das gleiche wie vorhin, und es hat etwas Wichtiges vergessen.

Dirk Gieselmann, 1978 in Diepholz geboren, schaut auf Berlin mit einer Mischung aus Faszination und Fluchtreflex. Hier erzählt er davon.

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