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Rosa von Praunheim.

© Jonas Holthaus

Doktor Körners gesammeltes Schweigen: Rosa von Praunheims Altbausinfonie

Was erfährt man über einen Menschen, wenn man nicht mit ihm spricht? Unser Autor besucht Rosa von Praunheim in dessen Wohnzimmer.

Streng blickt Rosa, Augenpaar wie Schraubstock, Zwinge hier, Zwinge da. Wir, ein Fotograf und ein Schreiber, betreten sein Wilmersdorfer Existenzlabyrinth. Im dunklen Flur steht ein zweiter Mann, gebeugt, kramt in Plunder, schaut kaum auf. Der Protagonist steckt im schwarzen Kimono. Sinkt auf einen schwarzen Sessel, schließt die Augen, schweigt. Im Terrarium hinter ihm räkelt sich eine Python. Rosas Unterlippe schroff geschürzt, Trotzkinn, schwere Sorgenfalte auf der Nasenwurzel. Hier ist es bunt und schwarz, schwer und leicht, drei Affen hocken dort, da tanzen tote Schmetterlinge, Spinnen lauern. Wie schön sich Plüsch an Pluto reiht, das geht in Ruh und Schweigen unter. Der Fotograf sieht plötzlich aus wie ein melancholischer Exilrusse kurz vor seinem Duelltod. Rosas Schweigen wirft mit Bildern. Das Zimmer als Geisterbahn. Wer war ich noch gleich? Der Mann im Flur schleicht vorbei, der Schatten eines dritten Mannes huscht hinter Milchglas. Entferntes Husten, Toilettenrauschen, der Fetzen einer Arie, Dielen knarzen, Altbausinfonie.

Wir betrachten einander mit offenen Ohren. Rosas Zunge, ein schwarzer Schlitten, rauscht ins Tal aus Traum und Terror. Seine Züge entspannen sich, wir atmen in Zeitlupe. Vielleicht sind wir alle nur Kaninchen im Magen einer Schlange? Rosa wandert, wer weiß, wohin? Atemreisender ins Seelengebirge, sein Meditieren löscht Laute, frisst Jahrzehnte, verdaut Schläge. Im Zimmer fällt schwarzer Schnee, der Fotograf hat sich aufgelöst. Ist Rosa wirklich abgetaucht oder sieht er durch die geschlossenen Lider alles wie ein missbilligender Gott? Ist das goldfarbener Tau auf seinen Schläfen? Das Schweigen schmeckt wie Stachelbeerkompott, das klingt wie Schubert, das riecht wie ein Disney- und Werner-Herzog-Dschungel. Jemand muss Kerzen in ihm entflammt haben, Weihrauchfässchen werden geschwenkt, er liegt nun dort - oder sitzt er noch? - tausendflammig wie ein Friedhof an Allerseelen. Rosa schweigt, ruht synkretistisch. Die Schlange schlägt die Augen auf. Rosa? Rosa? Wo bist du? Hast du uns verlassen? Warum haben die Wände so große Ohren? Warum haben die Sessel so große Augen? "Entspannt euch, Kinder!", lispelt die Schlange. Ich tippe Rosa an, er schlägt die Augen auf, wir erschrecken aneinander und alle Strenge ist geschmolzen, Sonne spricht.

Rosa von Praunheim ist eine schwule Regie-Ikone. Sein neuer Film „Überleben in Neukölln“ kommt am 23.11. ins Kino - zwei Tage vor Rosas 75.Geburtstag.

Dr. Torsten Körner, geboren 1965 in Oldenburg, ist Journalist und Schriftsteller. Für diese Kolumne führter Interviews ohne Worte.

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