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Ryan M. verschwand am 20. Dezember 2021.

© Sebastian Leber

Suche nach 39-jährigem Berliner: Ryans Spur führt zur Rummelsburger Bucht

Seit einem Monat ist Ryan M. verschwunden. Wichtige Zeugen widersprechen sich. Die Familie fürchtet ein Verbrechen – und verzweifelt an der Polizei.

An dem Montag vor Weihnachten, als Ryan M. verschwand, ist er hier gewesen. Auf einem Holzsteg am östlichen Ufer der Rummelsburger Bucht. Zur Linken und Rechten hohes Schilf, auf dem Wasser haben Boote geankert. Micki R., die Cousine des Verschwundenen, steht in der Januarsonne auf dem Steg und sagt: „Ich verstehe nicht, warum die Polizei noch nicht hergekommen ist.“

Seit mehr als vier Wochen wird Ryan M. vermisst. Sein Telefon ist ausgeschaltet, die Kreditkarte wird nicht mehr benutzt. Das Gesicht des 39-Jährigen prangt auf hunderten Plakaten, die Familienangehörige und Freunde an Ampeln, Stromkästen und Wände geklebt haben. „Wir tun das, weil wir uns von der Polizei nicht ernst genommen fühlen“, sagt Micki R..

Ryan M. ist einer von durchschnittlich 33 Berlinern, die jeden Tag als vermisst gemeldet werden. Der Großteil taucht nach kurzer Zeit wieder auf. Doch je mehr Ryans Angehörige bei ihrer Suche herausfinden, desto mehr deutet auf ein schweres Verbrechen oder einen vertuschten Unfall hin. Personen, die ihn zuletzt sahen, widersprechen sich gegenseitig massiv.

Was feststeht: Am Abend des 19. Dezember feierte Ryan M. auf einer Party in der Rigaer Straße. Dort befindet sich im Dachgeschoss eines Mietshauses - gegenüber eines stadtbekannten besetzten Gebäudes - eine Wohngemeinschaft, in der regelmäßig gefeiert wird und harte Drogen konsumiert werden. Um drei Uhr nachts versuchte Ryan, seine Ex-Freundin anzurufen. Sie schlief jedoch und bemerkte den Anruf nicht. Sein anwesender Bekannter Marvin J. wird später sagen, dass sie den Absprung von der Party schaffen wollten, weil sie sich unwohl fühlten.

Ryan M. Smartphone loggte sich zum letzten Mal um neun Uhr morgens in eine Funkzelle in der Rigaer Straße ein. Der Bekannte Marvin J. behauptet, er habe die Party gemeinsam mit Ryan verlassen, sie seien dann zum Ostkreuz gefahren und anschließend weiter zur Rummelsburger Bucht spaziert. Marvin J. kenne die Leute dort.

Auf dem Boot kam es zum Streit

Mehrere Zeugen bestätigen, dass beide auf dem Holzsteg am östlichen Ufer ankamen. Mit einem kleinen Ruderboot fuhren sie zu einem der bewohnten Schiffe. Dort wurde unter Deck weiter gefeiert. Es kreiste eine Flasche mit Gammahydroxibuttersäure. Die gefährliche Droge ist auch bekannt als Liquid Ecstasy oder K.O.-Tropfen. Es kam zum Streit, da einer der Anwesenden die Flasche mit der Säure mit einer Wodka-Flasche verwechselte. Ein anderer Mann habe äußerst bedrohlich gewirkt. Die Polizei hat bis heute keine dieser Personen befragt.

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Gegen halb fünf Uhr nachmittags seien Ryan M. und sein Bekannter Marvin J. in ein kleines Beiboot gestiegen und etwa 30 Meter weiter zu einer benachbarten sogenannten „Insel“, einer Ansammlung miteinander verbundener Boote, gepaddelt. Ob sich zu diesem Zeitpunkt sonst jemand auf den Booten befand, ist unklar. Eine halbe Stunde später habe Marvin J. jedoch plötzlich nackt auf einem der Bootsdächer gestanden und einem Zeugen zufolge „wie ein Affe gebrüllt“. Der Zeuge sagt: „Marvin ist komplett durchgedreht.“ Als sich die Wasserschutzpolizei näherte, sei Marvin mit dem Boot zurück ans Ufer geflohen - definitiv ohne Ryan.

Ein anderer Zeuge widerspricht. Er sagt, Marvin sei sehr wohl bekleidet gewesen und auch nicht geflüchtet. Er selbst habe ihn in einem Boot zurück ans Ufer gebracht. Falls das stimmt: Wer war dann der Nackte im Boot? Könnte das Ryan gewesen sein?

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Marvin J. hat Berlin inzwischen verlassen, hält sich derzeit in Freiburg auf. Für den Tagesspiegel ist er nicht erreichbar. Gegenüber Ryans Cousine behauptet er, er sei auf einem der Boote ohnmächtig geworden. Als er wieder zu Sinnen kam, sei Ryan verschwunden gewesen. Gegenüber einem Dritten wiederum soll Marvin angedeutet haben, es habe Streit mit weiteren Personen gegeben. Wörtlich soll er über Ryan gesagt haben: „Ich hoffe, der hat es geschafft.“

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„Nach allem, was wir inzwischen wissen, ist mir unbegreiflich, weshalb sich die Polizei derart inaktiv verhält“, sagt Marcus, ein enger Freund der Familie, der zusammen mit Ryans Bruder und der Cousine die Suche organisiert. Marcus berichtet von einem Beamten, der ihm freitags empfahl, sich am Montag bei einem zuständigen Kollegen zu melden. Dieser Kollege habe dann jedoch verneint, überhaupt zuständig zu sein. Wieder einen Tag später habe sich schließlich ein zuständiger Sachbearbeiter gefunden. Dieser habe jedoch erklärt, sich nun zunächst in die Materie einlesen zu müssen. Marcus sagt: „Wir fühlen uns im Stich gelassen.“

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes will sich die Berliner Polizei gegenüber dem Tagesspiegel nicht zu dem konkreten Fall äußern. Grundsätzlich gilt aber: Jeder Erwachsene hat das Recht unterzutauchen. Wer den Kontakt zu Familie und Freunden bewusst abbricht und nicht gefunden werden will, zum Beispiel, weil er sich eine neue Existenz aufbauen möchte, dem steht dies zu.

„Das verstehen wir“, sagt Micki R.. „Aber in unserem Fall ist diese Annahme absurd.“ Erstens wegen der Vorfälle in der Rummelsburger Bucht. Zweitens weil Ryan weder Geld noch Ausweis noch Klamotten mitnahm oder sonst etwas, das auf ein Untertauchen schließen lasse. Drittens weil er ein sehr enges Verhältnis zur Familie gehabt habe. „Er würde nicht einfach untertauchen, er hatte keinen Grund dazu.“ 

Allerdings, sagt die Cousine, denke so wahrscheinlich jede Familie.

An dem Tag, an dem Ryan M. zuletzt gesehen wurde, sind eine Reihe weiterer Merkwürdigkeiten in der Rummelsburger Bucht passiert. Zeugen berichten, es habe eine Explosion gegeben. Zudem sei ein weiterer Mann namens Marko M. seit diesem Tag verschwunden.

„Meine Hoffnung ist, dass Ryan es irgendwie von der Insel runtergeschafft hat“, sagt die Cousine. „Und dass er uns ein Lebenszeichen gibt.“ Bloß ein kleines Zeichen, dass es ihm gut gehe. Alles andere sei dann unwichtig.

Update vom 15. Februar: Am Nachmittag des 12. Februar wurde Ryan M. tot in der Rummelsburger Bucht gefunden. Laut Polizei gibt es bislang keinen Hinweis auf ein Verbrechen. Die Leiche sollte obduziert werden.

Haben Sie dunkle Gedanken? Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können.

Der Berliner Krisendienst ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern variieren nach Bezirk, die richtige Durchwahl für Ihren Bezirk finden Sie hier.

Weiterhin gibt es von der Telefonseelsorge das Angebot eines Hilfe-Chats. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung. Die Anmeldung erfolgt – ebenfalls anonym und kostenlos – auf der Webseite. Informationen finden Sie unter: www.telefonseelsorge.de

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