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Annina Lingens „me/copy“: Aneignung eines Werks von Sarah Lucas.

© Annina Lingens

Studienstiftung des Deutschen Volkes: Die Flexible: Stipendiatin Annina Lingens

Die Fotokünstlerin und UdK-Studentin Annina Lingens macht sich zur Protagonistin ihrer Fotoserien. Doch die zweifache Mutter erlebt den Kunstmarkt als diskriminierend

Eine braune Kommode mit weißen Häkeldeckchen auf der unterschiedlich gerahmte Kinderfotos stehen, auch die weiße Wand dahinter ist Teil dieser Familiengalerie, dazu Trockenblumen, eine Kerze und ein Porzellanfigürchen. Ein Ensemble aus Enkelbildern, wie es wohl viele auch aus dem Wohnzimmer ihrer eigenen Großmutter kennen. Doch etwas irritiert. Die Kinder auf den Fotos lächeln nicht. Sie weinen.

Die großformatige Ablichtung dieser ebenso vertraut wie eigenartig anmutenden Installation hat den Titel „Kinderaltar“ und stammt von Fotodesignerin Annina Lingens. Die Kinder-Porträts hat die Künstlerin für eine Sportreportage während ihrer Ausbildung zur Fotodesignerin am Lette-Verein auf einem Kinder-Wrestling-Turnier fotografiert.

Kinder, die vor Enttäuschung weinen

Statt der Reportage galt Lingens Interesse bald vor allem den im Zweikampf unterlegenen Kindern, sie weinten und schrien vor Enttäuschung. Als Lingens in der Wohnung einer älteren Bekannten die Kommode mit eben jenem Fotorahmen-Arrangement entdeckt, tauscht sie die fröhlichen Familienbilder mit ihren eigenen Fotos aus und lichtet das ganze Ensemble ab. Statt ausgestelltem Familienglück, ein Altar der weinenden Kinder.

2013 erhält sie dafür den Jurypreis des Ausstellungsprojekts „Macht Kunst“ der Deutschen Bank. Die Auszeichnung beinhaltet nicht nur den Ankauf des Werkes durch die Bank, sondern auch eine Einzelausstellung im Studio der KunstHalle Unter den Linden, die 2014 stattfindet.

Preis und Ausstellung hätten für die damals 30-jährige Fotokünstlerin der Startschuss einer Karriere auf dem Kunstmarkt sein können. Und tatsächlich treten erste Galeristen und Kunstsammler an sie heran. Doch plötzlich gibt es da ein Hindernis. Lingens ist junge Mutter und bringt zu den Gesprächen ihren Säugling mit.

Annina Lingens, Ausstellungsansicht „Kinderaltar“, Portland Museum of Art & Sport, 2016.
Annina Lingens, Ausstellungsansicht „Kinderaltar“, Portland Museum of Art & Sport, 2016.

© Annina Lingens

„Das schreckte die Galeristen deutlich ab“, erinnert sie sich bei unserem Gespräch in ihrer hellen Treptower Wohnung. „Da merkte ich, dass Babys im Kunstbetrieb offensichtlich ein Karrierekiller sind.“ Kinder bedeuten nämlich, dass die Künstlerin nicht ständig den Anforderungen des Kunstmarkts zur Verfügung steht.

„Der Markt erwartet von den Künstlerinnen, flexibel zu sein, ist aber selbst nicht dazu bereit“, meint Lingens und kennt auch den Grund dieser Diskriminierung: „Die meisten Galeristen sind Männer. Und mich auf diesen männerdominierten Kunstmarkt einzulassen oder gar davon abhängig zu sein, dazu bin ich nicht bereit.“

Fünfgleisig fahren

Zwar kommt es weiterhin zu Ausstellungen ihrer Fotografien, etwa 2015 im Schöneberger Projektraum World in a Room oder 2017 im Kunstquartier Bethanien. Doch die 1983 in einem niedersächsischen Dorf bei Hamburg geborene Künstlerin fährt längst „mehrgleistig“ oder wie sie sofort korrigiert, „eigentlich ist es ein Gleis mit mehreren Überschneidungen und Haltestellen. So verfolge ich meine Kunstprojekte, habe Fotografie-Jobs, unterrichte Yoga und bin Studentin und Mutter.“ Die Flexibilität, die der Kunstmarkt von Lingens erwartet, die sie ihm aber nicht gewähren kann und will, beweist sie hier lässig – aber eigentlich schon ihr ganzes Leben.

Denn zunächst hatte Lingens ihren künstlerischen Ausdruck im Tanz gefunden. Sie studiert Bühnentanz in Leeds, England, muss aber wegen einer Knieverletzung abbrechen. Sie zieht nach Amsterdam, ursprünglich um Performance Arts an der SNDO (School for New Dance Development) zu studieren.

Ein gebrochener Fuß verhindert allerdings auch das. Erneut zeigt sich Lingens flexibel und wechselt kurzerhand zum Studium der Freien Kunst an die renommierte Gerrit Rietveld Academie, wo sie ihren Fokus auf die Fotografie setzt. Doch das dort fotografisch Erlernte reicht ihr nicht. Um das Handwerk besser zu beherrschen, zieht sie 2009 nach Berlin und studiert am Lette-Verein Fotodesign.

„Mein Leben hat stets so funktioniert“, resümiert Lingens. „Ich habe mir das Knie verdreht, kann also nicht Tänzerin werden, okay, dann mach ich was anderes. Ich studiere Freie Kunst, aber merke, ich brauch mehr Handwerk, okay, dann studiere ich das auch. Doch das Handwerk allein liegt mir nicht, also benutze ich die Fotografie anders.“

Rollenspiele um Identität

Fotografie anders – das zeigt die staatlich geprüfte Fotodesignerin etwa in ihrer Serie „me/copy“. Hier re-inszeniert sie 14 Selbstporträts bekannter und unbekannter Fotografinnen von den frühen Tagen der Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute, darunter auch ikonische Motive von Stars des Genres wie Nan Goldin, Rineke Dijkstra und Tina Bara.

„Ich habe die Bilder danach ausgewählt, wie ich mich in den Bildern wiedergesehen habe, körperlich von der Physiognomie oder inhaltlich von den Aussagen, die da gegeben werden“, erklärt sie.

Die Fotos gruppiert sie dynamisch rund um eins der wohl bekanntesten Motive im Zentrum: Sarah Lucas' „Self Portrait with Fried Eggs“. Doch die Frau, die dort breitbeinig in Blue Jeans auf einem Sessel sitzt und mit zwei Spiegeleiern in Brusthöhe den Betrachter kühl anblickt, ist nicht Lucas sondern Annina Lingens.

Sie hat die einzelnen Motive mit sich selbst als Protagonistin akribisch nachgestellt, sowohl inhaltlich wie auch in den Formaten und genuin bis ins technische Reenactment der jeweiligen Aufnahmetechniken der Originale aus 150 Jahren Fotografie.

Mit dieser Arbeit bewirbt sie sich auch für das Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes, überzeugt mit ihrer (wegen Corona digitalen) Präsentation die Jury und bekommt schließlich den Zuschlag. Denn, ja, inzwischen ist Lingens erneut Studentin, studiert im dritten Semester Bildende Kunst an der Universität der Künste. „Mein Fokus liegt derzeit auf dem Erproben, Aneignen und Ausprobieren“, erklärt sie, „deshalb studiere ich nun wieder.“

Lebenslanges Lernen

So ist Lingens offenkundig ein Paradebeispiel für das bildungspolitische Konzept vom lebenslangen Lernen, immer wieder neu und weiter studieren, auch mit 35 noch mal ein Studium neu zu beginnen. „Ich habe natürlich das Riesenprivileg“, weiß sie, „dass das Jobcenter mir mit zwei Kindern als Härtefall mein erstes Studienjahr finanziert hat und dass ich nun das Stipendium erhalten habe.“

Die Zoom-Konferenzen, mit denen der Unibetrieb während der Corona-Pandemie aufrechterhalten wurde, regen Lingens zum digital-analogen Ausloten von Ebenen und Räumen an. So verblüfft sie einmal ihre Kommilitonen, als sie in ihrer Zoom-Gesprächskachel vermeintlich live, doch in Wahrheit als vorab aufgenommenes Video mittels ihres vor der Laptopkamera gefestigten Handydisplays abspielt.

Zu den Lippenbewegungen ihres tonlosen Filmabbilds spricht sie live aus dem Off. Im Video bewegen sich aber irgendwann die Lippen nicht mehr, doch Lingens Stimme spricht weiter. „Solche Irritationen mag ich setzen“, erklärt Lingens. „Ich möchte diese Effekte aber selbst kreieren, ohne ein Computerprogramm wie OBS-Studio, um so eine Verbindung zwischen dem Digitalen und Analogen herzustellen.“

Freude am Experiment

Auch ihre beiden Töchter, sechs und acht Jahre alt, assistieren inzwischen bei Lingens Kunstprojekten: „Ich hatte ja die Kinder lange zuhause hier im Homeschooling, die mussten dann auch mithelfen, wenn ich Sachen ausprobierte, und etwa Modell spielen bei meinen Zoom-Kachel-Experimenten.“

Lingens Fokus liegt klar auf der Fotografie, aber sie ist auch voller Neugierde, andere Materialien auszuprobieren. „Ich arbeite gern mit Papier“, sagt sie, „Papier als Material, nicht nur als Belichtungsfolie. Aber auch welche Möglichkeiten von Trägermaterial es außer Papier noch gibt.“

So erweitert Lingens, angeregt durch ihre UdK-Seminare bei Professor Jimmy Robert in der Fachklasse für Fotografie und Performance stetig ihre künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Ihre Flexibilität, Experimentierfreudigkeit und Wissbegierde machen sie dabei souverän.

„Das ist das Spannende an der Kunst“, formuliert sie ihr Kredo, „nicht genau zu wissen, was es wird, sondern loslegen und gucken, was dabei herauskommt. Sich also nicht starr auf etwas fixieren, sondern offen und wach für andere sich öffnende Ergebnisse sein.“

So wie die bei einer verunglückten Reportage entstandenen Bilder weinender Wrestlingkinder zur Grundlage einer preisgekrönten Fotoinstallation werden können. Lingens weiß: „Dieses Wissen, am Ende wird es sich doch irgendwie zusammen puzzeln, macht stark.“

Friedhelm Teicke

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