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In Marsch. Gewerkschaften machen seit Wochen gegen die Rentenpläne von Emmanuel Macron mobil – doch wie lang die Streikenden noch durchhalten können, ist ungewiss.

© Bertrand Guay/AFP

Streit um die Rentenreform: Sechs Franzosen berichten, wie sie mit dem Mega-Streik umgehen

Anne Versieux kommt nicht ins Büro, weil Eisenbahner wie Stéphane Petit streiken. Der Streit um die Renten spaltet die Franzosen. Sechs Perspektiven.

Knapp sechs Wochen Dauerstreik und keine Ende in Sicht. Der Streit um die Rentenreform legt Frankreich lahm. Etliche Berufsgruppen, Rechtsanwälte, Lehrer und Eisenbahner haben sich dem Ruf der Gewerkschaften angeschlossen. Der Arbeitskampf ist der härteste seit mehr als 30 Jahren. Besonders in Paris bringt er die Bürger an den Rand ihrer Geduld

DIE PENDLERIN, ANNE VERSIEUX

Die Pumps mit den höheren Absätzen hat Anne Versieux im Schrank gelassen. Es könnte ja sein, dass sie zwischendurch wieder einen Fußmarsch einlegen muss. Mit ihrer vierköpfigen Familie lebt sie in Marly-le-Roi, einem Vorort 20 Kilometer westlich von Paris. Der Streik, der vor allem die Bewohner der französischen Hauptstadt und der Umgebung seit mehr als 40 Tagen auf eine Bewährungsprobe stellt, macht ihr zu schaffen. „Es ist ermüdend“, sagt sie. Bis zu ihrem Arbeitsplatz in der Nähe des Eiffelturms braucht sie mit dem „Transilien“, dem Vorortzug, und der Metro normalerweise eine Stunde.

Anne Versieux, Pendlerin
Anne Versieux, Pendlerin

© Albrecht Meier

„Trafic perturbé“ – eingeschränkter Verkehr – meldet ihr die App „Citymapper“ an diesem Morgen. Als sie in der Morgendämmerung den Umsteigebahnhof der Bürostadt La Défense erreicht, steht vor der Treppe zur Metro wie eine Wand eine Masse von grau-schwarz gekleideten Pendlern vor ihr. Niemand beschwert sich, einige machen Fotos von der Menschenmasse. „Damit dokumentieren sie gegenüber ihren Arbeitgebern, warum sie sich verspäten mussten“, sagt Anne Versieux zur Erklärung.

Die 53-Jährige arbeitet als Marketingchefin der Zeitungen „Les Echos“ und „Le Parisien“. Zu Beginn des Streiks – in den etliche Berufsgruppen getreten sind, Rechtsanwälte, Lehrer, am spürbarsten jedoch Eisenbahner im Nah- und Fernverkehr, und der inzwischen länger dauert als jeder andere Arbeitskampf in Frankreich seit mehr als 30 Jahren – hat sie von zu Hause aus gearbeitet. Seit dem vergangenen Wochenende ist die Auseinandersetzung zwischen der Regierung und den Gewerkschaften, die den Staatschef Emmanuel Macron zur Rücknahme oder zumindest zur Veränderung der umstrittenen Rentenreform zwingen wollen, in eine neue Phase eingetreten. Regierungschef Edouard Philippe hat das Angebot gemacht, die geplante Heraufsetzung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre vorerst zurückzunehmen.

Seither hat sich der Verkehr etwas normalisiert, aber die Metros stehen außerhalb der Stoßzeiten weiter still. „Viele Arbeitstermine außerhalb des Hauses müssen daher flachfallen“, sagt Versieux.

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Trotz der Unannehmlichkeiten, die der Streik mit sich bringt, ertragen die Pariser den Ausstand stoisch. Bei den Gesprächen in den Cafés und Restaurants ist „la grève“, der Streik und die Folgen, das alles beherrschende Thema – aber man hört kaum jemanden, der lauthals über radikale Gewerkschaften wie die CGT oder die linke „Force Ouvrière“ schimpft, die für den Ausstand bei der Staatsbahn SNCF und den Pariser Verkehrsbetrieben verantwortlich sind. So geht es auch Anne Versieux. Sie findet durchaus, dass die Rentenprivilegien der Lokführer der SNCF abgeschafft werden sollen, wie es Macrons Reform vorsieht. Andererseits hat sie neulich von einer Statistik gehört, der zufolge 44 Prozent von denjenigen, die in Frankreich im Alter von 55 Jahren arbeitslos werden, anschließend keinen Job mehr finden. „Ich will gern weiter arbeiten“, sagt sie. Aber die Überlegung der Regierung, die Leute zum finanziellen Ausgleich der maroden Rentenkassen länger arbeiten zu lassen, sieht sie skeptisch: „Was macht man im Alter zwischen 55 und 65?“, fragt sie. Sie meint: Gibt es für diese Menschen genug Arbeit?

DER DAUER-STREIKER, STÉPHANE PETIT

Oben am Ausgang der Metrostation „École Militaire“ in der Nähe des Marsfelds müht sich ein älterer Herr. Während er ein kleines weißes Rad zusammenklappt, umkreisen ihn Jugendliche mit den grün-weißen E-Scootern, die im Stadtbild allgegenwärtig sind, ein paar Meter weiter sammelt ein Mitarbeiter der städtischen Verkehrsbetriebe für die Streikkasse. Ein Passant steckt zehn Euro in den Kasten und sagt: „Durchhalten!“

Stéphane Petit streikt weiter. Wie lange noch?
Stéphane Petit streikt weiter. Wie lange noch?

© Albrecht Meier

Auf der anderen Seite des Platzes machen sich Gewerkschafter für einen Abmarsch zu einer Kundgebung quer durch Paris bereit. Unter einem Ballon der Gewerkschaft CGT steht Stéphane Petit. Der Lokführer ist bis jetzt an jedem Tag des Ausstands seit dem Anfang am 5. Dezember dabei gewesen. Auch an diesem Morgen ist er zur Generalversammlung seiner Kollegen zum Bahnhof Montparnasse gekommen, und erneut haben sie sich dabei für eine Verlängerung des Ausstands ausgesprochen. „Wir streiken für die gesamte französische Bevölkerung“, sagt Petit.

Die Regierung argumentiert, dass der Beruf der Lokführer längst nicht mehr so anstrengend ist wie vor 40 Jahren und dass daher auch jene Regelungen für die Eisenbahner entfallen müssen, die einen frühen Renteneintritt möglich machen. „Ich kann das nicht beurteilen, denn damals war ich noch nicht geboren“, sagt der 38-jährige Petit.

Als er bei der SNCF als 18-Jähriger nach dem Abitur anfing, hat er zunächst nachts leere Züge nach Montparnasse gefahren. Heute fährt er Regionalzüge von Paris nach Le Mans im Nordwesten und Granville in der Normandie. Das bedeutet, einmal in der Woche um zwei Uhr morgens aufzustehen. Es bedeutet oft auch, am anderen Ende der Strecke zu übernachten. Nach der jetzigen Regelung könnte er mit 52 Jahren in Ruhestand gehen. „Die Lebenserwartung eines Eisenbahners ist geringer als die eines leitenden Angestellten“, sagt er.

„Jeder Beruf hat seine Eigenarten“, antwortet Petit auf die Frage, warum er für die Beibehaltung des jetzigen verschachtelten Rentensystems mit seinen 42 Spezialkassen ist. Ein universelles Punktesystem, wie es Macron einführen will, müsse jedenfalls vom Tisch.

Jeder Tag, an dem er nicht in eine seiner Loks einsteigt, bedeutet eine finanzielle Einbuße für ihn. Auf ein Monatsgehalt, das netto etwas weniger als 3000 Euro beträgt, hat er seit dem Beginn des Streiks schon verzichten müssen. Wie lange er das noch durchhalten will? Stéphane Petit zuckt mit den Schultern.

DER MEINUNGSFORSCHER, EMMANUEL RIVIÈRE

Auf der Stadtautobahn, dem „Périphérique“, herrscht dichter Verkehr wie immer. Oben im fünften Stock des Meinungsforschungsinstituts Kantar hört man kaum etwas vom Lärm unten, Emmanuel Rivière lächelt, als er sagt: „Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass es bei der Diskussion um die Rentenreform rein rational zugeht. Wer streikt, will diesen Streik auch erhobenen Hauptes beenden.“

Emmanuel Riviére erforscht die Meinung der Franzosen.
Emmanuel Riviére erforscht die Meinung der Franzosen.

© Albrecht Meier

Rivière hat zahlreiche Studien zur politischen Landschaft in Frankreich verantwortet. An dem gegenwärtigen Dauerstreik findet der 51-Jährige vor allem die Widersprüchlichkeit in den Umfragen frappierend: Einerseits wollen die Leute, dass der nervige Ausnahmezustand endlich ein Ende hat. Aber andererseits hat seit dem Beginn des Ausstands Anfang Dezember stets eine Mehrheit der Befragten angegeben, dass sie die Streikenden unterstützen. „Es gibt eine allgemeine Angst davor, durch Macrons Reform zu große Verluste zu erleiden“, sagt er zur Begründung. „Viele denken sich insgeheim: Die Streikenden machen die Arbeit für uns.“

Rivière erklärt, dass das Klischee, dem zufolge seine Landsleute leben wie Gott in Frankreich und sich ein nicht mehr haltbares Rentensystem leisten, nicht mehr ganz zutrifft. „Auch die Franzosen gehen immer später in Rente. Früher gingen sie mit 60 in den Ruhestand, heute im Schnitt mit 62 Jahren.“ Aber im Vergleich mit anderen europäischen Staaten ist das eben immer noch ein früher Eintritt in die Rente. Und wieder lächelt Rivière angesichts der Widersprüchlichkeit der Franzosen: „Die Leute verstehen im Allgemeinen sehr wohl, dass es ein Problem mit der Finanzierung des ganzen Systems gibt. Aber individuell will niemand etwas abgeben.“

Für Macron ist die Rentenreform das entscheidende Projekt in seiner Präsidentschaft, die bis 2022 dauert. Deshalb kann es sich der Präsident im Angesicht seiner Wählerschaft nicht leisten, die Novelle ganz zurückzuziehen. Was der Streik für die politische Zukunft des Präsidenten bedeutet, lässt sich nach den Worten von Rivière noch nicht absehen. „Macron verliert zwar in den Umfragen, aber seine Gegner legen nicht zu.“ Das gilt auch für Macrons ärgste Widersacherin, die Vorsitzende des rechtsextremen Rassemblement National, Marine Le Pen.

DER STREIK-PROFITEUR, WALID
Er kann angesichts des Streiks nicht klagen. Walid, 32 Jahre alt und Uber-Fahrer, bekommt seit Wochen Kundschaft, mit der vor dem Ausstand nicht zu rechnen war. Am Bahnhof „Cité Universitaire“, wo die Schnellbahn RER hält, startet er seinen Citroën und kommt ins Erzählen. An Heiligabend hat Walid einen betagten Herrn von Paris bis Orleans gefahren, weil der Mann das Fest unbedingt im Kreis seiner Familie verbringen wollte. Zwei Jahre lang habe er seinen Sohn nicht gesehen. „Der Mann hat mir leidgetan“, erinnert sich der Fahrer. Am Ende der Fahrt gab es ein großzügiges Trinkgeld als Weihnachtsgeschenk. Die Einladung der Familie, zum Essen zu bleiben, wollte er aber nicht annehmen.

Walid ist Uber-Fahrer. Über den Streik kann er nicht klagen. Er beschert ihm mehr Fahrgäste.
Walid ist Uber-Fahrer. Über den Streik kann er nicht klagen. Er beschert ihm mehr Fahrgäste.

© Albrecht Meier.

Allerdings machen Walid die Staus, die der Streik mit sich bringt, überhaupt keine Freude. Er greift zu seinem Handy und sucht eine Fahrt heraus, die ihn neulich fast zur Verzweiflung gebracht habe. „Hier“, sagt er, „vom fünften Arrondissement bis Blanc-Mesnil“. 22 Kilometer. Die Fahrt habe zwei Stunden gedauert, trotzdem seien am Ende nicht mehr als 45 Euro für ihn herausgesprungen. „So etwas lohnt sich nicht“, sagt er.

Trotzdem will er nicht klagen, Streik hin oder her. 2008 kam Walid von Tunesien nach Frankreich, zunächst kam er bei Verwandten in Lyon unter. Eine Arbeit fand er nicht. Seit knapp drei Jahren hat sich das aber mit Uber geändert. Auch wenn Walid selbst für seine Rente vorsorgen muss und im Gegensatz zu den Lokführern bei der SNCF wohl nicht als Mittfünfziger mit dem Arbeiten wird aufhören können, will er die Streikenden nicht allzu heftig kritisieren. „Jeder hat das Recht auf seine Meinung“, sagt er.

DER POLITIKER, PIEYRE-ALEXANDRE ANGLADE
Das Treffen findet in der „Brasserie Le Bourbon“ statt, einem Restaurant in der Nähe der Nationalversammlung. Gerade hat sich Pieyre-Alexandre Anglade, Abgeordneter im Parlament, mit den Kollegen aus seiner Fraktion „La République en Marche“ getroffen – jener Fraktion, die den Präsidenten Macron stützt. Der 33-Jährige hat ein gewisses Verständnis dafür, dass die Rentenreform bei vielen seiner Landsleute Unruhe auslöst. „Das ist ganz logisch, denn wir stellen von einem altbekannten System auf eine völlig neue Regelung um“, sagt er. Das bisherige System, das nach Berufsgruppen geordnet ist, soll durch eine allgemeine Punkteregelung ersetzt werden, in der für alle jeder in die Rentenkasse eingezahlte Euro bei der Auszahlung der Pension dieselbe Wirkung entfaltet. „Hier geht es nicht um eine Reform, sondern um eine Neugründung.“

"En Marche"-Politiker Pieyre-Alexandre Anglade verteidigt Macrons Reformpläne.
"En Marche"-Politiker Pieyre-Alexandre Anglade verteidigt Macrons Reformpläne.

© Albrecht Meier

Trotz des Widerstands gegen die Reform sieht Anglade keinen Grund, im Grundsatz vom neuen Rentensystem abzurücken. Gerade für Geringverdiener oder Frauen mit kurzen Berufskarrieren sei das bestehende System zutiefst ungerecht, sagt er. Zudem seien die Befürchtungen unberechtigt, dass die Pensionsansprüche im Alter durch Macrons Reform demnächst sinken werden. Laut Gesetzestext sei vorgesehen, dass die Rentenleistungen auch in Zukunft nicht weniger als 14 Prozent des französischen Bruttoinlandsproduktes ausmachen werden.

Im März stehen Kommunalwahlen an, und da könnte die Präsidentenpartei „La République en Marche“ die Quittung für ihren Reformeifer bekommen. Anglade will sich nicht davon beirren lassen. „Als Macron 2017 Präsident wurde, haben viele gedacht, dass es sich bei ,La République en Marche‘ nur um eine vorübergehende Erscheinung handelt“, sagt er, „diese Leute täuschen sich.“

DER RENTNER, CLAUDE MARILL
Vor dem Rathaus des 20. Arrondissements im Nordosten von Paris steht Claude Marill. Der Mann mit der blauen Schiebermütze ist der Älteste in einer Gruppe von Männern und Frauen, die sich hier zu einer Protestaktion gegen die Rentenreform zusammengefunden haben. Die Aktivisten wollen drinnen im Rathaus Flugblätter an die Bediensteten verteilen, was einigen auch gelingt. Als Claude Marill durch die Pforte will, haben Sicherheitsbeamte dies bereits gemerkt und versperren ihm den Weg. „Das zeigt, dass der Staat Angst vor uns hat“, sagt der 82-Jährige.

Claude Marill, 82 Jahre, ist Rentner. Er kämpft gegen Macrons Pläne.
Claude Marill, 82 Jahre, ist Rentner. Er kämpft gegen Macrons Pläne.

© Albrecht Meier

Für diesen Staat hat Marill viele Jahre lang gearbeitet. Bevor er 1998 im Alter von 60 Jahren in Rente ging, arbeitete er als Lehrer und Jugendpfleger. Bei der Berechnung seiner Rente wurde das Gehalt in seinen letzten sechs Arbeitsmonaten zur Grundlage genommen, womit zwangsläufig eine üppige Pension für Marill heraussprang. 1980 Euro beträgt seine Nettorente. „Das ist viel“, sagt er selber. Macron will die Rentenberechnung für den öffentlichen Dienst, bei der nur der Verdienst am Karriereende ausschlaggebend ist, abschaffen.

Marill, sagt, er sei seit Anfang Dezember in Paris bei allen Großdemonstrationen gewesen. „Dieser Kampf wird für die breite Bevölkerung geführt.“ Und was passiert, wenn den Streikenden demnächst irgendwann die Kraft ausgeht? „Selbst wenn es Macron gelingen sollte, seine Reform durchzudrücken, wäre das nur ein Pyrrhussieg für ihn“, sagt Claude Marill.

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