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Unter dem belarussischen Diktator Lukaschenko sind mehr als 1000 Menschen als politische Gefangene inhaftiert - unter unmenschlichen Bedingungen.

© Markus Schreiber/AP/dpa

Stimmen des Exils: Mit 15 Frauen in einer Zelle

Sie wollte über eine Gerichtsverhandlung berichten - und wurde verhaftet. Unsere Autorin erlebte mehrere Wochen Gefängnis in Belarus

Heute vor genau einem Jahr bin ich wegen starken Schmerzen aufgewacht. „Aufstehen!“, - befahl der Mann hinter der Tür streng und schlug mit der Faust darauf. Ich versuchte, mich zu bewegen, aber konnte nicht aufstehen: Meine rechte Seite war taub, weil ich auf einer kahlen Holzpritsche schlafen musste.

In der Zelle stehen drei Betten - und sechs Personen sind dort untergebracht. Das grelle Licht der Lampen leuchtet ununterbrochen und wird in den nächsten zwei Wochen weder bei Tag noch bei Nacht erlöschen. Mir gegenüber sitzt Tatjana, Mutter von sieben Kindern. Nach einem kurzen Kennenlernen stellt sich heraus, dass ich vor einem Monat über ihren Prozess geschrieben habe. In der Ecke auf dem Boden liegt Kira, eine Notärztin, neben mir sitzen eine Jurastudentin und eine junge Künstlerin, später werden noch eine Squashtrainerin, eine Kunstmanagerin und zwei Radfahrerinnen in die Zelle gebracht. Zwei Tage später werden wir alle zu 15 bis 30 Tagen Gefangenschaft verurteilt, die wir unter unmenschlichen Bedingungen verbringen werden.

Ich wurde von fünf schwarz gekleideten Männern überfallen

Am 14. Mai 2021 begann in Minsk der Prozess gegen zwölf politische Gefangene, die an den Studentenprotesten im Herbst 2020 teilgenommen hatten. Als Journalistin des Internet-Portals TUT.BY, des größten Medienunternehmens in Belarus, schrieb ich über den Fall und plante, der Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Am Vorabend erhielt ich meine Akkreditierung, kam im Voraus, sprach mit Verwandten und erkundete die Lage: Vor dem Gerichtsgebäude war Polizei im Einsatz, und im Hinterhof standen Kleinbusse, welche normalerweise die Bereitschaftspolizei benutzt. Dies waren die Umstände, unter denen in Belarus Recht gesprochen wurde.

Den Gerichtssaal habe ich nicht betreten: Journalisten waren nicht zugelassen. Ich schrieb ein paar Absätze für einen Bericht und ging im Grunde mit nichts in die Redaktion zurück. Aber bis dahin schaffte ich es nicht: Auf dem Weg zur U-Bahn wurde ich von fünf unbekannten, schwarz gekleideten Männern überfallen und zur Polizeiwache gebracht. Dort habe ich die nächsten zehn Stunden verbracht. Danach wurde ich in das Untersuchungsgefängnis Okrestina gebracht, ein Ort, der während der Präsidentschaftswahlen 2020 berüchtigt wurde. Dorthin kamen die während der Proteste festgenommenen Personen, wo sie gefoltert und weiterhin verprügelt wurden.

Niemand erklärte mir, warum ich im Gefängnis war

In den ersten drei Tagen wusste ich nicht, weshalb ich festgehalten wurde. Niemand hielt es für angebracht, mir zu erklären, warum ich unrechtmäßig im Gefängnis war, und alle meine hartnäckigen Fragen wurden einfach ignoriert. Erst vor Gericht erfuhr ich, dass ich angeblich in einer Menschenmenge vor dem Gerichtsgebäude gestanden und „Empörung geäußert“ hatte. Dafür müsse ich mit 15 Tagen Haft bestraft werden, so entschied das belarussische Gericht.

Die ersten Tage waren für mich als Journalistin sehr interessant. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wovon mir die Protagonisten meiner Veröffentlichungen dutzende Male berichtet hatten. Hier gab es die Stehkammer, „Becher“ genannt - ein 1 Meter mal 1 Meter großer Raum mit Betonwänden, in dem man untergebracht wird, bevor man einer Zelle zugewiesen wird. Und hier sind die Metallbetten, auf denen es weder Matratzen noch Bettzeug gibt, sodass ich die nächsten 12 Tage auf dem Boden schlafen muss. Und jeden Morgen wird bei den Inspektionen ein Eimer Chlorlösung auf den Boden geschüttet, so dass man eine Zeit lang nicht atmen kann.

15 Frauen in einer Zelle

Nach dem Gerichtsverfahren werden alle Häftlinge in eine andere Haftanstalt verlegt, die sich im nächsten Gebäude befindet. Mit der Erkenntnis, dass mir 15 Tage des Frühlings gestohlen worden waren, schaute ich mich auf dem Weg dorthin gierig um: das verspätet grün gewordene Gras, die blühenden Apfelbäume. An den Fenstern des Gefängnisses, zwischen den Stockwerken, bemerkte ich künstliche Schmetterlinge und wunderte mich, wieso man versuchte, diesen unheimlichen Ort zu „vermenschlichen“.

Am Eingang wurden mir alle Hygieneartikel abgenommen, die mir meine Kollegen auf wundersame Weise mitgeben konnten, als ich auf der Polizeiwache war. Festes Shampoo und Seife, ein Kamm, Zahnpasta und eine Zahnbürste, Binden - diese minimalen Dinge erwiesen sich als „zu viel“, so der Beamte der Haftanstalt. Und er nahm mir alles weg, ließ nur Unterwäsche zum Wechseln, medizinische Masken und eine - eine! - Binde.

In der 12-Meter-Zelle, in die ich gebracht wurde, befanden sich 15 Frauen. Menschen waren überall: auf und unter dem Bett, auf und unter dem Tisch, auf dem Nachttisch und auf der Bank. In der Ecke saß eine obdachlose Frau, von der sich viele von uns Läuse geholt hatten. Spaziergänge für die „Politischen“ sind verboten, ebenso wie Mitbringen von Sachen durch Angehörige. Ich verbrachte die ganzen 15 Tage wie die anderen Frauen in denselben Kleidern, in denen ich festgehalten wurde, ohne Dusche, ohne Hygieneartikel, ohne frische Luft. Die Jeansjacke war meine Decke, und die Kapuze war sowohl ein Kissen als auch eine Schlafmaske, um mich vor dem grellen Licht zu schützen.

Ein blau-gelbes Band kann dich ins Gefängnis bringen

Aber am stärksten erinnere ich mich daran, wie wir uns umarmten, um uns in der Nacht vor der Kälte zu schützen. Ich hatte nicht gewusst, dass der menschliche Körper so warm sein kann.

Nach Angaben von Menschenrechtlern wurden seit Sommer 2020 mehr als 40.000 Menschen ähnlichen Bedingungen ausgesetzt. Heute kann man schon für eine Kleinigkeit in Okrestina landen: für weiße Socken mit einem roten Streifen, ein blau-gelbes Band im Haar, für ein „Like“ unter einem Medienbeitrag, den die belarussischen Behörden als extremistisch bezeichnen (heute haben fast alle unabhängigen Medien diesen Status). Das Lukaschenko-Regime hat den öffentlichen Protest in Belarus mit Gewalt unterdrückt, nicht aber dessen Ursachen.

Die Belarussen leisten weiter Widerstand

Im Jahr 2021 wurden mehr als 300 NSO (nichtstaatliche Organisationen) abgeschafft und fast alle unabhängigen Medien geschlossen. Während ich festgehalten war, erschienen Vertreter der Machtstrukturen zur Durchsuchung von TUT.BY und nahmen 15 Personen fest. Davon sind sechs Personen seit fast einem Jahr im Gefängnis, ebenso wie mehr als 1.100 politische Gefangene. Dennoch erlosch der Protest nicht: Im Februar 2022 gingen die Kriegsgegner erneut auf die Straßen von Minsk. Die „Eisenbahnguerilla“ zerstörte Bahngleise, um zu verhindern, dass russische Truppen über Belarus in die Ukraine vordringen. Die Belarussen leisten weiterhin Widerstand, trotz des hohen Risikos, inhaftiert zu werden. Nicht mehr nur für 15 Tage, sondern möglicherweise für Jahre.

Aus dem Russischen von Lingua World GmbH. Dieser Text erscheint im Rahmen des gemeinsamen Projekts "Stimmen des Exils" von Tagesspiegel und Körber-Stiftung. Der Tagesspiegel hat seit 2016 regelmäßig Texte von Exiljournalist:innen unter dem Titel #jetztschreibenwir veröffentlicht. Die Körber-Stiftung führt Programme durch, mit denen die journalistischen, künstlerischen und politischen Aktivitäten exilierter Menschen in Deutschland gestärkt werden. Dazu zählen Kooperationen mit den Nachrichtenplattformen "Amal, Berlin!" und "Amal, Hamburg!" Am 16./17. Mai 2022 findet in Hamburg das Exile Media Forum mit dem Young Exile Media Forum statt, die größte Fachkonferenz in Deutschland zum Exiljournalismus. Zum Livestream am 16. Mai geht es hier.

Ljubou_Kaspjarowitsch

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