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Stimmen des Exils: Das Böse darf nicht ungestraft bleiben

Es kam alles noch viel schlimmer: Erfahrungsbericht einer ukrainischen Journalistin

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Ich bin schon seit einem Monat in Deutschland, aber ich habe immer noch Angst, wenn ich das Geräusch einer sich nähernden Straßenbahn höre. Es hört sich an, als würde gleich eine russische Rakete in mein Haus einschlagen.

Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich beschloss, Kiew zu verlassen. Es war nicht am 26. Februar, als ein russischer Panzer und ein mit Waffen beladener Lastwagen einen Kilometer von meinem Haus entfernt in der Nähe der Metrostation „Beresteiska“ zerstört wurden. Nein, es war am 1. März, als eine russische Rakete in den Kiewer Fernsehturm einschlug, nur zwei Kilometer von meinem Haus entfernt, wobei fünf Zivilisten getötet wurden.

Es schien, als wäre die Zeit stehen geblieben

In der Morgendämmerung des nächsten Tages packte ich eilig meine Sachen. Als ich bereits in Deutschland war, stellte ich fest, dass ich statt eines Ersatzpaars Sneaker nur einen einzigen Schuh mitgenommen hatte. Und dann schien es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich erinnere mich noch sehr gut an das Gespräch mit meiner Chefredakteurin Svitlana. Sie und ihre Familie lebten in Dymer in der Region Kiew. Die russischen Truppen waren bereits dort.

Dymer liegt nur 30 km von Bucha, wo die Russen ein Massaker anrichteten, entfernt. Das gesamte Gebiet war mehr als einen Monat lang vorübergehend von russischen Truppen besetzt. Nach diesem Gespräch konnte ich zwei Wochen lang keine Verbindung zu Svitlana mehr herstellen. Wir wussten nicht, wie es ihr geht und ob sie noch am Leben war. Zwei Wochen später, als Svitlana wie durch ein Wunder Dymer verlassen konnte, sagte sie, dass sie selbst schon nicht mehr daran geglaubt hatte, zu überleben.

 Ich weigerte mich zu glauben, dass eine solche Hölle auf Erden möglich ist

Nach dem Sieg der ukrainischen Streitkräfte im Norden und in der Region Kiew erfuhr die ganze Welt von den blutigen Gräueltaten und dem Völkermord, den Putins Truppen dort begangen hatten. Ich weigerte mich schlicht zu glauben, dass eine solche Hölle auf Erden im 21. Jahrhundert möglich ist. Als die USA vier Monate lang davor warnten, dass Putin sich auf einen groß angelegten Krieg gegen die Ukraine vorbereitete, versicherte ich allen, dass das nicht wahr sein könne.

Kriege, so schien es mir, sind nur im Cyberspace oder im Weltraum möglich, aber doch nicht in meinem Land und unter Einsatz von Flugzeugen, Bomben und schwerer Artillerie. Was ich hörte und las, klang immer eher so nach Zweitem Weltkrieg. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so schlimm kommen würde.

 Um 5 Uhr morgens begann die Bombardierung

In dieser Nacht, am 24. Februar, konnte ich nicht schlafen. Ich saß bis zum Morgen am Computer, als ich die Ankündigung von Putins dringender Videoansprache um 4.30 Uhr sah. Wegen der schlaflosen Nacht konnte ich nicht verstehen, wovon er sprach. Mein Gehirn weigerte sich zu verstehen, dass dies der Beginn eines Krieges war. Als ich die Explosionen hörte, begann Putin, Kiew um 5 Uhr morgens zu bombardieren, wie einst Hitler.

Ich rief sofort meine Mutter an, nahm meinen Laptop und ein paar Sachen mit und fuhr zu meinen Eltern. Ich beschloss, in ihrer Garage zu arbeiten, weil es mir dort sicherer erschien als im siebten Stock eines Hochhauses mit einem nicht funktionierenden Aufzug und wo ich in einen Luftschutzkeller laufen müsste, in dem es kein Internet gibt.

 Alle 40 Millionen Ukrainer Nazis?

Jetzt ist diese Garage durch die Splitter einer russischen Granate, die das Haus eines Nachbarn getroffen hat, fast vollständig zerstört. Meine Eltern wohnen in der Nähe des Antonov-Werks in Kiew, das ebenfalls von Russland bombardiert wurde. Die Russen haben in Gostomel in der Region Kiew das Antonow-Werk zerstört. Dort wurde das größte Transportflugzeug der Welt, die „Mrija“, gebaut.

Moskau hat seine eigene „Goebbels-Welt“ erfunden und behauptet, den „Nazismus“ in der Ukraine zu vernichten, wie im Zweiten Weltkrieg. Alle 40 Millionen Ukrainer sind also „Nazis“, die nach der Logik der russischen Propaganda getötet werden sollten?

Die russische Propaganda verbreitet diese Lüge auch in Deutschland, indem sie mit der Schuld der Deutschen am Zweiten Weltkrieg spielt. Der Slogan „Wir können (es) wiederholen“, der am 9. Mai unter Russen beliebt ist, obwohl doch die ganze Welt am 8. Mai „Nie wieder“ sagt, ist wahr geworden.

 Nachts nähte ich kugelsichere Westen

Nachdem ich Kiew verlassen hatte, verbrachte ich weitere drei Wochen im Haus von Freunden in Chmelnyzky. Sie haben eine eigene kleine Näherei. So lebten wir dort drei Wochen lang: Tagsüber schrieb ich Artikel und Interviews, und nachts nähte ich kugelsichere Westen für die ukrainischen Soldaten. Eines Abends, als ich dort im Keller saß, dachte ich, dass Putin wohl geplant hatte, seine Eroberung der Ukraine am 9. Mai zu verkünden, wenn die Russen den so genannten „Tag des Sieges“ feiern. 

Aber das hat nun nicht geklappt. Die westlichen Geheimdienste gaben uns nur ein paar Tage. Doch jetzt hält die Ukraine schon seit drei Monaten durch. Wir sind sehr dankbar für die enorme und unschätzbare Hilfe und Solidarität aus Deutschland, der EU und dem gesamten Westen. Sie haben unsere Stabilität und den Kampf für die territoriale Integrität und Unabhängigkeit der Ukraine gestärkt.

Auch die ukrainischen Journalisten sind für die Unterstützung und Hilfe dankbar; denn, wenn wir nichts tun, wenn wir schweigen, wird die Geschichte dieses Krieges vom Aggressor – Russland – geschrieben werden. Jetzt arbeite ich auf Einladung Deutschlands weiter für mein Medienunternehmen im Exil. Warum im Exil? Weil Russland auch ukrainische Journalisten angreift.

 Nun kämpfe ich in Deutschland weiter

Im Februar wollte mein Unternehmen die Kennzeichnung meiner Autorschaft in meinen Interviews und Artikeln entfernen, da meine berufliche Tätigkeit mein Leben gefährden könnte. Da ich als politische und internationale Beobachterin arbeite, schreibe ich vor allem über die EU, die NATO, Russland, die Verbrechen von Putins Regime und jetzt auch über den Krieg.

Nun kämpfe ich in Deutschland weiter an der Informationsfront, denn alle Journalisten sind jetzt „Informationssoldaten“ in diesem Krieg. Jeden Tag entlarve ich Mythen der russischen Propaganda, die tonnenweise über uns ausgeschüttet werden. Aber wenn der Krieg seit drei Monaten andauert, wenn weiterhin Ukrainer sterben und Russland weiterhin die Geschichte von der Vernichtung des „Nazismus“ verzerrt, arbeiten wir dann überhaupt genug?

 Sprungbrett für einen Angriff auf Europa?

Haben Sie sich jemals gefragt, warum Russland ukrainische Dörfer und Städte von der Erde fegt? Warum hat Putin Mariupol zerstört und dort einen noch größeren Völkermord verübt als in Bucha? Immerhin beweisen Satellitenbilder bereits, dass in einem einzigen Massengrab bei Mariupol bis zu 9.000 unschuldige Ukrainer begraben sein könnten.

Das Verteidigungsministerium der Ukraine hat geantwortet, dass Putin die Infrastruktur der Ukraine wahrscheinlich nicht braucht. Vielleicht braucht Russland aber die Ukraine als Sprungbrett für einen Angriff auf Europa? Nein, nicht jetzt, denn die russische Armee ist geschwächt und hat fast die Hälfte ihres Raketenarsenals abgefeuert. Aber niemand weiß, was in fünf bis zehn Jahren unter Putin oder nach ihm passieren wird, wenn das Böse ungestraft bleibt.

Die Autorin ist politische und internationale Beobachterin und arbeitet für die ukrainische Website TSN.ua

Aus dem Englischen von Lingua World GmbH. Dieser Text erscheint im Rahmen des gemeinsamen Projekts "Stimmen des Exils" von Tagesspiegel und Körber-Stiftung. Der Tagesspiegel hat seit 2016 regelmäßig Texte von Exiljournalist:innen unter dem Titel #jetztschreibenwir veröffentlicht. Die Körber-Stiftung führt Programme durch, mit denen die journalistischen, künstlerischen und politischen Aktivitäten exilierter Menschen in Deutschland gestärkt werden. Dazu zählen Kooperationen mit den Nachrichtenplattformen "Amal, Berlin!" und "Amal, Hamburg!" Am 16./17. Mai 2022 findet in Hamburg das Exile Media Forum mit dem Young Exile Media Forum statt, die größte Fachkonferenz in Deutschland zum Exiljournalismus. Zum Livestream am 16. Mai geht es hier.

Kristina_Zelenyuk

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