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Kevin Kratz hat für Eintracht Braunschweig 19 Spiele in der Bundesliga bestritten. Seit 2017 trägt der 31-Jährige das Trikot des Atlanta United FC.

© imago/Icon SMI

Zwei Deutsche in der Major League Soccer: Schöne neue Fußball-Welt

Julian Gressel und Kevin Kratz haben in den USA ihre sportliche Heimat gefunden. Die beiden deutschen Profis tragen zum Boom des Atlanta United FC bei.

Julian Gressel hat die Szene noch vor Augen. Er, der junge deutsche Fußballprofi, zusammen auf einer Bühne mit dem großen Arthur Blank; Gressel im verschwitzten Trikot, Blank im grauen Anzug mit seiner typischen gönnerhaften Ausstrahlung. In Atlanta gibt es kaum eine bedeutendere Persönlichkeit als den 75-Jährigen Geschäftsmann. Gründer der größten Baumarkt-Kette der USA, Multimilliardär, Sport-Mäzen. Der Fußballklub Atlanta United ist sein Eigentum, ebenso das milliardenschwere Football-Team der Atlanta Falcons. „Das war schon cool, dass ich da neben ihm stand und 'Happy Birthday' gesungen habe“, sagt Gressel.

Zu feiern gab es einiges an diesem Abend im September 2017. Blank hatte Geburtstag, sein Fußballteam zog dank eines 3:0-Siegs gegen Philadelphia Union sensationell in die Play-offs ein – und das gleich im ersten Jahr in der höchsten amerikanischen Fußball-Liga (MLS). Bester Mann auf dem Platz war Julian Gressel. Das brachte dem damals 23-Jährigen aus Neustadt an der Aisch die Ehre ein, zusammen mit einem der größten Funktionäre im US-Sport auf einem Podest zu stehen. Torte, Handshake und Smalltalk mit dem Big Boss inklusive, die tobende Fankurve im Rücken. „Ich glaube, er hat mir damals gesagt, wie stolz er auf mich und auf das Team ist“, erinnert sich Gressel.

Gressel und Kratz schreiben an einer Erfolgsgeschichte mit

Mittlerweile ist wieder Normalität eingekehrt bei Atlanta United. Die Play-offs endeten unglücklich in der ersten Runde, in die neue Saison startete das Team mit einer Niederlage und zwei Siegen. Die Party an Blanks Ehrentag war der vorläufige Höhepunkt einer außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte, an der neben Gressel ein weiterer Deutscher mitgeschrieben hat: Seit 2017 spielt auch Kevin Kratz für den neu in die MLS aufgenommenen Klub aus der Südstaaten-Metropole. Kratz, 31, hat viele Jahre in der Zweiten Liga gespielt, unter anderem für Aachen und den SV Sandhausen, für Eintracht Braunschweig kam er in der Saison 2013/14 sogar auf 19 Bundesliga-Einsätze. Gressel wechselte dagegen als 19-Jähriger den Kontinent. In Deutschland schaffte er es bis in die Regionalliga, dann war Endstation. Mittlerweile sind Gressel und Kratz fester Bestandteil eines neuen Fußball-Booms in Atlanta.

An einem sonnigen Märztag schlendern beide über den Trainingsplatz in Marietta, einem Vorort, und erzählen von ihrem Abenteuer in der neuen Welt. „Ich fühle mich sehr wohl hier, Atlanta ist eine schöne Stadt“, sagt Gressel. Die USA als Land der Chancen – für Gressel und Kratz ist dieses Klischee Realität geworden, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Gressels Entscheidung etwa hatte nur sekundär mit Sport zu tun. „Ich wollte sichergehen, dass ich einen Schulabschluss habe und weiterhin auf gutem Niveau Fußball spielen kann“, erzählt er. „Als Regionalliga- Spieler wäre es schwer geworden, beides zu vereinen. Deshalb wollte ich in die USA ans College.“ Über das Uniteam der Providence Friars kam er zu Atlanta.

Kevin Kratz dagegen kam als gestandener Profi in die USA. Den Plan, ins Ausland zu gehen, hatte er aber schon länger. „Ich war ein paar mal im Urlaub in den USA und habe einen amerikanischen Spieleragenten kennengelernt. Der hat mir dabei geholfen, darauf hin zu arbeiten.“ Eine erste Möglichkeit während seiner Braunschweiger Zeit ließ er verstreichen, 2016 wagte er den großen Schritt.

Der Zeitpunkt war perfekt. Mit Atlanta United war ein neuer Klub mit großen Ambitionen auf der Suche nach routiniertem Personal. „Wir mussten den Kader von Grund auf zusammenstellen und Kevin war ein wichtiger Baustein“, sagt Vereinspräsident Darren Eales. „Wir wollten einen erfahrenen Mann aus Europa als Ergänzung zu den vielen jungen Spielern.“

Ein unbekannter Zweitliga-Profi, vom Spielertyp eher solider Arbeiter mit ausgeprägten Stärken in der Defensive, soll der Wunschkandidat eines MLS-Klubs gewesen sein? Aus europäischer Sicht klingt das erstmal unglaubwürdig. Für gewöhnlich besteht die Fußball-Philosophie im Land der großen Unterhaltung ja darin, alternde Stars wie David Beckham, Andrea Pirlo oder Bastian Schweinsteiger als Publikums-Magneten zu holen und ein Team um sie herum aufzubauen. „Unser Ansatz ist komplett anders“, erklärt Eales. „Wir denken, dass wir mit dem Standort USA auch junge Spieler anziehen können.“ Der größte Coup gelang dem Präsidenten in diesem Winter: Mit dem 18-jährigen Ezequiel Barko holte sich Atlanta eines der größten argentinischen Talente. „Natürlich haben wir es ihm so verkauft, dass das hier eine Entwicklungsstation für ihn ist“, sagt Eales. „Wenn er zwei, drei Jahre hier spielt und dann für einen guten Preis weiterzieht, sind wir zufrieden.“

Alternde Stars wie Beckham oder Pirlo? „Unser Ansatz ist komplett anders“

Barco und Gressel statt Ballack oder Lampard, ein US-Klub als ernstzunehmende Anlaufstelle für aufstrebende Talente – dieser Trend ist auch bei anderen Teams angekommen. Die MLS wandelt sich vom Rentnerparadies zur Ausbildungsliga. „Das Niveau wird von Jahr zu Jahr stärker“, sagt Kratz. „Ich habe noch gute Kontakte zu meinem Jugendverein Bayer Leverkusen. Die bekommen auch mit was hier passiert und wer verpflichtet wird. Das sind viele Namen, die auch in Deutschland bekannt sind.“

Typ Arbeiter mit ausgeprägter Defensivstärke.
Typ Arbeiter mit ausgeprägter Defensivstärke.

© imago/ZUMA Press

Neben der Aussicht auf Transfererlöse hat Atlantas Jugend-Philosphie noch einen weiteren Effekt. „Unser Spielstil ist aufregend, Pressing-orientiert, torreich“, sagt Eales. Der attraktive Fußball hatte großen Anteil an der Begeisterung, die das Team in Atlanta ausgelöst hat. In der von Football, Baseball und Basketball dominierten Sportwelt der Stadt reden plötzlich alle über Soccer. Allerorten ist das schwarz-rote United- Logo auf Shirts, Trikots, Kappen oder Stoßstangen zu sehen. Dabei hat man stets das Gefühl, dass der Hype auf natürliche Art gewachsen ist und nicht etwa durch aggressives Marketing erzwungen wurde. Der Fußball kam zur richtigen Zeit an den richtigen Ort: Eine Metropolregion mit sechs Millionen Einwohnern, darunter viele Menschen mit asiatischen und lateinamerikanischen Wurzeln – der Markt war vorhanden, und die Zahlen bestätigen es.

Gegen Orlando kamen im September 70 000 Fans in Arthur Blanks neue Hightech-Arena, das bedeutete einen Zuschauerrekord in der MLS. An jenem Wochenende hatten weltweit nur Manchester United, Borussia Dortmund und Bayern München mehr Zuschauer. Auch der Schnitt von 48 200 Zuschauern pro Spiel kann gut mit den europäischen Top-Ligen mithalten – der Gesamtschnitt der MLS lag nur bei 22 000 Besuchern. Das Stadion, in dem 2019 der Super Bowl ausgetragen wird, hat auch bei den Profis aus good old Germany Eindruck hinterlassen. „Das ist wie in einem Raumschiff, ich find's stark“, sagt Gressel. „Wenn es jetzt noch echter Rasen wäre…“

Auch im Umgang mit den Fans des Atlanta United Football Club sind die beiden Deutschen vorbildlich, lobt Darren Eales. „Was war das noch für ein Festival, wo die beiden zur Autogrammstunde waren?“ fragt der Präsident und meint den „German Christkindl Market“, der zur Weihnachtszeit in einem Einkaufsviertel der Stadt aufgebaut wird. „Die Warteschlange hätten Sie mal sehen sollen."

In der zweiten Saison gilt es nun zu zeigen, dass der Erfolg nachhaltig ist. Für Atlanta United als Team, aber auch für Julian Gressel, der in der vergangenen Saison zum „Rookie of the Year“ gewählt wurde, zum besten Neuling also. Mit 24 Jahren hat er noch immer Entwicklungspotenzial, womöglich führt ihn der Weg irgendwann wieder zurück über den Atlantik. „Ich fühle mich hier sehr wohl. Aber wenn man als Fußballfan in Deutschland aufwächst, sich jedes Wochenende die Samstags-Konferenz reingezogen hat, dann hat man natürlich den Traum, irgendwann selbst mal Bundesliga zu spielen.“ Angebote oder Kontaktaufnahmen gab es bisher keine, aber das eilt auch nicht, sagt Gressel. Als kurzfristigeres Ziel wäre die nächste Party mit Arthur Blank zum Saisonende sicher auch nicht schlecht.

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