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Sich mit der Realität zu beschäftigen, das muss der Fan erst lernen: Zoobesuche, Fahrradtouren, Kuchen backen.

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Zoobesuch statt Fußball: Mein Stadionentzug – eine Selbsterfahrung

Das kann ja nicht so schwer sein: Samstag nicht zum Fußball zu gehen, sondern etwas zu unternehmen. Von wegen. Unser Autor hat seine eigenen Erfahrungen gemacht und ein Buch über eine Selbsthilfegruppe geschrieben.

Fußball ist nicht unbedingt ein Vergnügen. Das wurde mir gleich am Anfang klar, am 8. Dezember 1984, damals war ich fünf. Meine Mutter steckte mich und meinen Bruder in einen Ski-Anorak, mein Vater uns in ein Auto, und dann fuhren wir in den Norden Düsseldorfs zum Rheinstadion, das damals auch wirklich noch so hieß. Dort saßen wir 90 Minuten bei Minusgraden auf Plastikstühlen und sahen elf Männern dabei zu, wie sie gegen elf Männer aus Bochum 0:2 verloren. Einen Sinn sah ich nicht: Die Männer fluchten, als ginge die Welt unter, doch meine Mutter fragte zwei Stunden später nicht mal nach dem Ergebnis. Dass das Liebe ist, hat mein Vater mir erst Jahre später erklärt.

Sechs Aufstiege und sieben Abstiege habe ich seitdem mit der Fortuna erlebt. Der Gedanke, auszusteigen, war häufig da. Das erste Mal, als ich vor 13 Jahren aus Düsseldorf wegzog. Doch dann stand ich beim Praktikum in München an einem Freitag beim Mittagessen wortlos auf, verließ das Büro und stieg wie ferngesteuert ins Auto, um 600 Kilometer später das 0:4-Heimdebüt der Fortuna gegen Chemnitz zu erleben. Am Montag darauf sprach mich niemand an, es war wohl allen etwas unangenehm.

Wahrscheinlich kennt jeder Fan diese Zweifel: Zu häufig scheint es eine furchtbar nutzlose und kindische Begeisterung für elf Männer zu sein, die einen weder kennen, geschweige denn lieben, die einem vollkommen egal sein könnten, die man aber dennoch anbrüllt, dass sie ihren Beruf besser ausüben sollen. Vor zwei Jahren versuchte ich es erneut: Beim ersten Spiel gegen Bochum folgte ich einer Einladung ins Theater, gegen den FSV Frankfurt ging ich einkaufen, Saisonanfang – das ging. Danach war Schluss: Schon das Spiel gegen Ingolstadt musste ich sehen. Wir gewannen 4:1. Alleine war an einen Ausstieg nicht zu denken, an den Aufstieg schon. So kam mir die Idee mit dem Roman über die Selbsthilfegruppe.

Zu häufig scheint es eine furchtbar nutzlose und kindische Begeisterung zu sein

Ein Jahr lang ließ ich Clubberer Daniel, Hertha-Fan Ralf, den Bremer Sven und Alt-Fortune Karl sich jeden Samstag um 15.30 Uhr treffen, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Um ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben, zumindest ihren Samstagen. Leicht hatten sie es nicht. Denn Fußball ist vor allem eine Realitätsflucht, eine Verlockung, eine Mischung aus Nostalgie und Sehnsucht: In der Vergangenheit liegen die großen Erfolge, die man meist nicht erlebt hat, sie speisen die letzte Hoffnung auf große Europapokalspiele – oder zumindest mal eine Auswärtsfahrt nach Rumänien.

Sich mit der Realität zu beschäftigen, das muss der Fan erst lernen: Zoobesuche, Fahrradtouren, Kuchen backen. Etwas unternehmen, was Millionen Menschen in Deutschland samstags eben so machen. Als Fußballfan fragt man sich: Warum, wenn jeder Anpfiff das Spiel des Lebens bedeuten kann? Die Realität dagegen ist oft trist und brutal, an Samstagen besteht sie aus Allwetterjacken und gut gelaunten Menschen mit umgeknoteten Pullovern. Das größte Problem ist, dass man das Leben da draußen selbst in der Hand hat, oder man sollte es zumindest. Dort kann man nicht wie im Stadion an der Linie stehen und über das Versagen der anderen schimpfen, die Hölle, das sind plötzlich wir.

Für einen Fan ist die Liebe zu einem Verein ein Teil der Identität, eine zweite Haut, in die man ständig schlüpfen kann. Die Männer auf dem Rasen können einem fast leidtun, sollen sie doch die Ehre einer Stadt verteidigen, die sie häufig noch gar nicht fehlerfrei buchstabieren können. Natürlich, der Fußball ist auch ein großer Spaß, ein Lacher, ein munteres Spiel, ein Bier, ein Plausch mit alten Freunden auf der Tribüne. Fußball funktioniert auch als spannendes Spiel für die Fernsehcouch, kurz bevor Markus Lanz kommt und alte Nationalspieler zu früher befragt.

Die meisten Spiele sind aber leider alles andere als spannend, deswegen werden sie ja auch nicht live im Free-TV übertragen. Die meisten Spiele sind öde Kicks minderbemittelter Deppen, die nicht schaffen, was der Fan auf der Tribüne oder auf der Couch locker könnte. Selbst Bayern-Fans sollen zuweilen daran verzweifeln, dass ihre Mannschaft nicht das 3:0 schießt, weil ein 2:1-Anschlusstreffer ja immer gleich die Gefahr eines unvorstellbaren Unentschiedens bedeuten könnte.

Was bringt die schönste Fahrradtour, wenn bei der Überfahrt mit der Fähre der Fährmeister die Zwischenergebnisse durchsagt?

Wer auf all das verzichten will, muss aufpassen. Fußball ist schließlich weder verboten noch ungesund, da ist die Rückkehr ins Stadion oder auf Videotexttafel 252 vorprogrammiert. Auch eine Selbsthilfegruppe will gut vorbereitet sein. Was bringt die schönste Fahrradtour, wenn bei der Überfahrt mit der Fähre der vorwitzige Fährmeister die Zwischenergebnisse durchsagt und die Fußballsüchtigen einem uneinholbaren Rückstand hinterherradeln müssen? Was bringt der Ausflug auf den Trödelmarkt, wenn selbst die ältesten Radiomodelle noch die Schlusskonferenz übertragen?

Sich mit der Realität zu beschäftigen, das muss der Fußballfan erst lernen

Fußball hat inzwischen alle Lebensbereiche erfasst. An der Bushaltestelle grüßt Bastian Schweinsteiger vom Werbeplakat, die Politiker biedern sich mit Phrasen an und der Fußballanteil an den Tagesthemen ist sogar für einen Fan verstörend. Für einen Süchtigen auf Entzug ist er natürlich die Hölle. Die Jungs aus der Selbsthilfegruppe vereinbaren deswegen einen Strafenkatalog, auf den Felix Magath stolz wäre. Für jede Begegnung mit dem Ball müssen sie in den Liegestütz, so erfüllt das Ganze zumindest noch den Sinn einer körperlichen Ertüchtigung.

Stefan Tillmann ist seit 1984 Fan von Fortuna Düsseldorf und leidet seitdem mit seinem Verein. Sechs Aufstiege und sieben Abstiege hat er schon erleben dürfen und müssen.
Stefan Tillmann ist seit 1984 Fan von Fortuna Düsseldorf und leidet seitdem mit seinem Verein. Sechs Aufstiege und sieben Abstiege hat er schon erleben dürfen und müssen.

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Die Selbsthilfegruppe muss einige Rückschläge verkraften und greift zwischenzeitlich zu härteren Mitteln, um den Fußball zu bekämpfen. Ich selbst bin in der Zeit mal wieder ein Mal auf- und ein Mal abgestiegen. Der Auswärtssieg beim Relegationsspiel bei Hertha gehörte dabei – sorry – zu den schönsten Fußballerlebnissen überhaupt. Das Flutlicht. Das Tor. Das Bier des Nachbarn im Nacken. Wegen dieser Momente werde ich nie aufhören, zum Fußball zu gehen. Auch wenn es zweifellos schönere und wichtigere Dinge auf der Welt gibt. Fußball mag kindisch sein, und dämlich und alles. Besser als Fahrradtouren ist er allemal. Das Spiel am Samstag bei FSV Frankfurt werde ich trotzdem nicht sehen. Ich heirate. Dass das Liebe ist, muss ich hoffentlich niemandem erklären.

Der Autor ist Redakteur beim Berliner Stadtmagazin „Zitty“. „Nie wieder Fußball!“ ist im Verlag Die Werkstatt erschienen.

Stefan Tillmann

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