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Martin Schmidt, 50, war in einem vorigen Leben Besitzer einer Autowerkstatt und einer Bekleidungsfirma. 2015 wurde er Bundesliga-Trainer in Mainz. Mittlerweile betreut er die Auswahl von Wolfsburg.

© Christian Schrödter/Imago

Wolfsburgs Trainer im Interview: Martin Schmidt: "Mein Rucksack ist jetzt voll"

Wolfsburgs Trainer Martin Schmidt über Heimatgefühle und Neuschnee in der Schweiz, Motivationstricks und Spaziergänge in der Toscana.

Von Benjamin Apitius

Martin Schmidt, ist es wahr, dass Sie jeden Tag einmal die Webcam von der Belalp in der Schweiz ansteuern?

Einmal ist untertrieben. Eher zwei- bis dreimal. Auf meinem Smartphone dauert das nur Sekunden, aber das sind dann meine Heimatgefühle, die ich damit stille. Ab jetzt gucke ich natürlich auch, wie es geschneit hat. Diese Woche hat es 22 Zentimeter Neuschnee gegeben, im Moment liegen rund 80 Zentimeter im Skigebiet. Es ist wichtig, dass es da oben jetzt langsam einschneit. Viele aus meiner Familie und Kollegen leben vom Wintertourismus, das ist bei uns im Wallis die Haupteinnahmequelle.

Seit zwei Monaten sind Sie nun Fußballtrainer beim VfL Wolfsburg. Haben Sie sich schon über die Wintersportmöglichkeiten in Niedersachsen informiert?

(Lacht) Ich glaube außer Schlittschuhlaufen in der Autostadt gibt es hier in unmittelbarer Nähe nicht viel, oder?

Im Radio kam kürzlich die Nachricht, im Harz hätte es den ersten Schnee gegeben.

Es müssten dann aber schon richtige Berge und Schneehöhen sein, kein Rutschhügel mit zehn Zentimetern.

Es gibt den Wurmberg, die längste Abfahrt ist der Hexenritt mit 500 Metern.

Hexenritt hört sich schon einmal gut an. Bei mir daheim auf der Belalp gibt es ja die Hexenabfahrt – aber die ist 24 Mal länger.

Wann sind Sie da das letzte Mal runter?

Die Hexenabfahrt bin ich 2005 zum letzten Mal gefahren und konnte dabei meine Alterskategorie Ü35 noch gewinnen. Ich wurde irgendwann 40 Jahre alt und war dann öfter verletzt. Aber wenn ich im Sommer ein paar Wochen daheim bin, suche ich immer noch das Risiko und bin genauso orientiert wie früher. Mit dem Bike nehme ich dann die kleinen Wege durch den Wald und nicht die große Straße den Berg hinunter.

Sie gelten als sehr heimatverbunden. Haben Sie in Wolfsburg schon nach einem Jodlerverein Ausschau gehalten?

Ich glaube, so etwas gibt es hier nicht (lacht). Ich habe auch in Mainz keinen gefunden. Damit reduziert sich mein Jodelgesang wohl aufs Autofahren und Duschen.

Und eine neue Gemeinde? Es heißt, Sie gehen einmal die Woche in die Kirche.

Ja, da hatte ich schon mehr Glück.

Ihr Lebensmotto lautet: Man muss manchmal auch einen Schritt zu weit gehen, sonst verpasst man die schönsten Dinge. Lässt sich diese Einstellung auf Ihren Glauben zurückführen?

Das hat vor allem mit einer positiven Lebenseinstellung zu tun, mit dem eigenen Selbstvertrauen – und irgendwo basiert das sicher auch auf den Grundfesten des Glaubens. Ein Glaube an sich, an die Sache, ein Glaube an das Leben, dass man belohnt wird, wenn man mutig ist und vorangeht.

2010 wechselten Sie als Trainer der zweiten Mannschaft von Thun zur U 23 nach Mainz. Wie mutig war dieser Schritt für Sie?

Wenn man mit 43 Jahren plötzlich seine Heimat verlässt, ist das natürlich eine Grenzerfahrung. Man lässt all die sozialen Kontakte zurück, das Vereinsleben, den Kumpel, den man braucht, wenn man mal ein Bier trinken will, den Kumpel, den man braucht, wenn man mal Sorgen hat, den Bruder, wenn man mal was besprechen muss, die Schwestern, die man braucht, den Vater. Ich glaube, je älter man wird, desto schwieriger ist es auch, sich von der Heimat zu lösen.

Warum haben Sie das gemacht?

Das habe ich mich auch oft gefragt. Ich wusste ja, wenn ich in Thun Geduld haben würde, wäre ich da irgendwann Cheftrainer geworden. Aber ich bin mein ganzes Leben schon so gewesen: Ich war nicht mehr zufrieden nur als Automechaniker und wollte in den Autorennsport, dann war ich nicht mehr zufrieden nur als Chefmechaniker, mit 24 hatte ich dann meine eigene Werkstatt, mit 37 eine zweite Firma, nebenbei Projekte und Dinge, die ich organisiert habe. Der Ehrgeiz hat mich immer vorangetrieben, ich war nie ausgelastet.

Um Öffentlichkeit und Prominenz ging es Ihnen dabei nie?

Ich bin in die Bundesliga gekommen, um den Eigenantrieb und Ehrgeiz in mir zu stillen. Mit den ganzen Begleiterscheinungen der Prominenz habe ich jetzt so meine Mühe – extrovertiert irgendwo ausgestellt zu sein, das mag ich überhaupt nicht. Ich möchte eigentlich, dass jeder im Leben mal die Chance bekommt, prominent zu sein – um dann zu sehen, dass das gar nichts Spezielles ist und man dafür ziemlich viel aufgeben muss.

In Mainz arbeiteten Sie eng mit Thomas Tuchel zusammen, er war auch Ihr Mentor beim Trainer-Diplom. Wann haben Sie gedacht: Den Platz vom Thomas, den hätte ich auch gern mal?

Ich habe nie daran gedacht. Für mich war immer klar, dass da vielleicht mal ein Viertligist oder Drittligist kommen könnte. Als Thomas dann den Verein verließ, fühlte ich mich geehrt, dass ich da zum Kandidatenkreis gehörte und nach der Zeit von Kasper Hjulmand tatsächlich auf diesem Platz sitzen durfte.

Es gibt da diese legendäre Geschichte von Tuchel und Pep Guardiola, wie die beiden nach dem Abendessen mit Salz- und Pfefferstreuern verschiedene Systeme nachstellen. Hätten Sie da auch mitreden können?

Pep und Thomas sind Brüder im Geiste, ihre Ansätze und Spielphilosophien ähneln sich sehr. Aber was sie da reden und besprechen, wäre natürlich für jeden anderen Bundesligatrainer auch verständlich gewesen. Der Unterschied ist nur, dass die beiden das in ihren Klubs auch umsetzen konnten. Man kann ja nicht mit jedem Verein denselben Fußball spielen. Deshalb glaube ich, dass es für einen Trainer weniger um das Fußballverständnis geht, als vielmehr zu schauen, wie kann ich mit diesen Spielern und dieser Vereinsphilosophie das Richtige auf den Platz bringen.

„Für Trainer wie mich wäre ein Titel eine Riesengeschichte. Da hätte sich dann ein Kreis geschlossen.“

Wie schwer war es für Sie in Mainz, sich von Vorgänger Tuchel zu unterscheiden?

Die vier Jahre Zusammenarbeit mit Thomas waren eine sehr intensive und gute Zeit. Ich glaube, dass ich mich damals sehr gut ergänzt habe mit seiner Philosophie. Aber es ist ja so: Man wird nicht als Bundesligatrainer geboren. Man lernt von Trainern, die einen früher trainiert haben, irgendwann ist man selbst Trainer und bringt seine eigene Affinität mit rein. Bei Tuchel habe ich sehr viel über Trainingslehre und Taktik mitbekommen, dann kam Hjulmand, der hatte wieder einen anderen Ansatz. All diese Erfahrungen fließen dann auch in die eigene Philosophie.

Guardiola sagt: „Der Trainer spricht durch seine Mannschaft, durch ihre Spielweise.

Bei Pep und Tuchel sieht man das klar, beim Rangnick-Fußball in Leipzig auch. Und es wäre schön, dass man bei Wolfsburg mittel- bis langfristig auch sagt: Ah, das ist jetzt das Gesicht, das der Trainer Schmidt dem Team verpasst hat. Ich bin ein Trainer, der für Tempofußball, Umschaltfußball steht, ich komme gerne über die Athletik und Fitness.

Guardiola sagt auch: „Titel sind nur Nummern.

Er kann das natürlich sagen. Für Trainer wie mich wäre ein Titel eine Riesengeschichte, und wahrscheinlich werden das nie Nummern sein. Wenn man wie ich über meine Heimat mit Naters, Raron, Thun und dann Mainz als Trainer groß wird, sind Titel ein Lebensziel. Da hätte sich dann ein Kreis geschlossen.

Wie weit sind Sie auf diesem Weg?

Ich habe damals in Mainz gesagt: Ich bin hier, um meinen Rucksack zu füllen. Da kam dann Jugendakademie mit rein, U 23, Aufstieg in die Dritte Liga, dann über Bundesliga-Assistent und Gegnerbeobachter zum Bundesligatrainer, Europa League, am Ende noch Abstiegskampf. Ich glaube, dass mein Rucksack jetzt voll ist.

Jedes Training wird bei Ihnen vollumfänglich dokumentiert. Haben Sie vor dem Start in Wolfsburg Ihre Daten über Yunus Malli, den Sie bereits in Mainz trainierten, noch einmal hervorgeholt?

Ich habe tatsächlich noch die Aufzeichnungen, als Yunus 2011 bei mir zum ersten Mal auf dem Platz stand. Aber die brauche ich jetzt nicht mehr. Ich kenne ihn in- und auswendig. Und trotzdem schafft er es noch, mich immer wieder zu überraschen. Gegen Berlin trifft er plötzlich mit dem Kopf! Ich glaube, bei 22 Toren unter mir war es erst sein zweites mit dem Kopf. Yunus hat sich von Jahr zu Jahr und von Trainer zu Trainer weiterentwickelt.

Können Sie denn auch ihn noch überraschen?

Das muss ich ja jetzt (lacht)! Ich kann nicht immer dasselbe machen, sonst sagt er irgendwann: Dass hast du doch schon in Mainz gemacht. Durch ihn bin ich hier indirekt noch einmal mehr gefordert.

Sie sagen „Motivation beginnt nie und hört nie auf, sie lebt immer“. Wie wird man zum Motivationskünstler?

Ich denke, dass es eben nicht reicht, wenn ich die ganze Woche ein langweiliges Training mache und vor dem Spiel dann AC/DC aufdrehe. Motivation ist bei mir immer dabei, Positivität wirkt immer, das ist ein Dauerspiel, eine Lebensgrundeinstellung. Bei einem Teamentwicklungsprozess muss es einen Spannungsbogen geben, da muss immer eine Herausforderung da sein. Auch eine Zeit der Ruhe kann Motivation sein, indem ich sage: Wenn wir das und das und das machen, dann hauen wir uns mal einen ganzen Tag lang raus. Ich nehme immer auch das Belohnungsprinzip mit rein.

Sie wären doch bestimmt auch ein Mann für müde Manager.

Ich war im Sommer sehr überrascht über die vielen Angebote, ich habe anscheinend in vielen Bereichen Spuren hinterlassen. Großunternehmen aus Deutschland wollten mich für Referate über Krisenmanagement, andere über Motivation, Führung und Visionen.

Wie kommen Sie auf Ihre Tricks?

Das ist viel aus meiner Lebenserfahrung heraus, vieles hat man irgendwo mitbekommen, auch in anderen Sportarten. Wenn einer beim Skirennen zum Beispiel nervös ist, steckt der Trainer ihm kurz vor dem Start eine Handvoll Schnee in den Nacken. So kannst du den Rennfahrer hellwach machen. Das ist so ein Schock – und dann geht es schon los und du bist halb wütend und haust alles raus.

Herr Schmidt, Sie haben vor kurzem erzählt, dass Sie einmal darüber schreiben wollen, was Sie alles erlebt haben. Was ist dabei der gemeinsame Nenner all Ihrer bisherigen Tätigkeiten?

Ich glaube, das ist mein unstillbarer Ehrgeiz. Immer besser werden zu wollen, etwas auszuprobieren, immer vorwärts zu kommen. Wenn man lange genug an sich glaubt, kann alles wahr werden.

Dann endet Ihr Buch mit einem Titel?

Nein, nein. Da folgen dann noch andere Kapitel. Ich will ja irgendwann auch mal ein gemütlicheres Leben führen. Da erzähle ich dann vielleicht von meinen Spaziergängen in der Toscana (lacht).

Also kein Ende in Sicht?

Ich habe ja jüngst in einem Interview gesagt: Der Berg ist nicht bestiegen, wenn man oben ist, sondern wenn man wieder unten ist im Tal, wenn man irgendwann daheim sitzt und glücklich ist. Und das beinhaltet dann vieles, Höhen und Tiefen, Schlechtes und Gutes. Dass ergibt dann das volle Leben, worauf man irgendwann einmal stolz sein kann, dass man das geschafft hat.

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