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Der Moment nach dem Wembley-Tor im WM-Finale am 30. Juni 1966. Wolfgang Weber (vorn) hat alles genau gesehen.

© Ullstein Bild

Wolfgang Weber im Interview: "Die 66er WM war ja unglaublich brutal"

Wolfgang Weber hatte die beste Sicht auf das Wembleytor. Ein Gespräch über Deutschland, England und die WM 1966, geführt vor einem Jahr zum 50. Jubiläum.

Von

Herr Weber, beim Wembleytor...

... Pardon: beim sogenannten Wembleytor.

Also gut. Beim sogenannten Wembleytor reden jedenfalls seit 50 Jahren alle über den englischen Schützen Geoff Hurst, den Schiedsrichter Gottfried Dienst oder den Linienrichter Tofik Bachramow. Alles zwielichtige Zeugen. Den besten Blick auf die umstrittenste Szene der Fußball-Weltgeschichte hatten Sie.

Allerdings! Ich habe damals schon gesagt, was heute selbst Wissenschaftler der Universität Oxford bestätigen: Der Ball war nicht im Tor! England war Gastgeber, das Turnier war ein Geschenk zum 100. Geburtstag des Verbandes, die Königin war im Stadion – irgendwie schien alles dafür arrangiert zu sein, dass England Weltmeister wird. Damit wir uns nicht falsch verstehen: England war ein würdiger Weltmeister, eine großartige Mannschaft, die ein großartiges Endspiel gewonnen hat. Aber wir haben es denen schwer genug gemacht.

Das Finale von 1966 war das erste, das in die Verlängerung ging. Weil ausgerechnet Sie 15 Sekunden vor Schluss zum Ausgleich trafen. Die entscheidende Szene spielte sich in der ersten Halbzeit der Verlängerung ab: Hurst schießt, der Ball prallt gegen die Latte und dann nach unten, wohin auch immer...

...auf die Linie!

Sie springen dazwischen und köpfen den Ball ins Aus. Ihnen ist oft vorgeworfen worden, dass Sie den Ball nicht im Spiel gehalten haben. In diesem Fall wäre das Spiel weitergelaufen, und der Schiedsrichter hätte es wahrscheinlich nicht unterbrochen, um seinen Linienrichter zu fragen.

Ja, ja, das war ja klar, das musste ja kommen. Aber es überrascht mich, dass Sie schon so früh in diesem Gespräch damit anfangen.

Sie standen direkt neben dem Engländer Roger Hunt, und während Sie zum Ball gehen, dreht der schon ab und jubelt.

Den Engländern hat man wohl beigebracht, möglichst früh die Hände hochzureißen, auch um die Schiedsrichter zu beeinflussen. So war das auch mit Bobby Charlton...

...dem englischen Spielmacher, der jubelnd durch den Strafraum rannte und dem Sie gleich die Arme nach unten drückten.

Klar, ich hab’ dem gesagt: „Hör’ auf damit! Was soll das?“ Ich hatte ja klar gesehen, dass der Ball nicht drin war. Unser Torwart Hans Tilkowski war ja noch dran, hat den Ball noch ein bisschen berührt, aber es hat leider nicht gereicht, um den Linienrichter nachhaltig zu beeindrucken.

Den Aserbaidschaner Tofik Bachramow, der dem Schiedsrichter signalisierte, er habe den Ball im Tor gesehen.

Der Herr Bachramow hat ja später noch ein Buch geschrieben, da steht drin: „Ich habe den Ball im Netz gesehen!“ Ja, was soll ich denn dazu sagen?!

Sie zählten zu den deutschen Spielern, die nach dieser Entscheidung wütend an die Außenlinie zum Protestieren stürmten.

Wir waren zu dritt. Der Franz Beckenbauer, mein Kölner Freund Wolfgang Overath und ich. Die drei Youngster, alle noch keine 23 Jahre alt. Dann kam aber sofort der Uwe ...

...der Mannschaftskapitän Uwe Seeler.

Uwe hat uns sofort weggejagt, er hat gesagt: „Hört auf zu protestieren, der Schiedsrichter hat entschieden!“ In solchen Kategorien hat man damals gedacht. Aber wir Jüngeren waren eben für die Gerechtigkeit.

Hat Bachramow Sie überhaupt verstanden? Der sprach ja nur Russisch und Aserbaidschanisch.

Wer weiß, was der Schiedsrichter den Linienrichter gefragt hat, und wie seine Antwort gemeint war... Aber dass der Bachramow nun auch noch eine Statue vor dem Stadion in Baku bekommen hat – heute können wir drüber lachen, aber damals war uns nicht nach lachen zumute. Egal, ist vorbei, mit den englischen Spielern verstehen wir uns heute noch prächtig, mal abgesehen von einem.

Wen meinen Sie?

Na, den angeblichen Torschützen. Geoff Hurst behauptet ja heute immer noch, dass der Ball drinnen war. Kann man ja irgendwo auch verstehen, er sieht sich als dreifachen Torschützen in einem WM-Finale und will immer noch dafür gefeiert werden. Aber irgendwann ist ja auch mal gut.

Die Engländer wollen bis heute nicht viel vom Wembleytor hören. Für sie war die umstrittene Szene jene, die Ihrem Tor in der 90. Minute zum 2:2 vorausging. Da war erst ein umstrittener Freistoß, den die Deutschen zugesprochen bekamen. Und dann soll Karl-Heinz Schnellinger noch der Ball an die Hand gesprungen sein, bevor Sie ihn ins Tor kickten.

Tut mir leid, aber das stimmt beides nicht. Schauen Sie sich die Fernsehaufzeichnung an. Schnellinger bekommt den Ball an die Hüfte, die Hand ist weit weg. Und über das Foul von Jackie Charlton an Siggi Held müssen wir wohl nicht reden. Natürlich war das ein Foul! Die Zuschauer haben dann auch kurz gebuht, aber dann haben sie die Entscheidung akzeptiert.

So wie Sie später die Niederlage.

Ja, so schwer das auch fiel. Berücksichtigen Sie bitte: Das dritte englische Tor war keins, und das vierte kurz vor Schluss, als Hurst den Ball mehr aus Versehen trifft, war auch irregulär. Wenn Sie bei der Fernsehaufzeichnung genau hinsehen, dann sind da ein paar Zuschauer zu erkennen, die schon jubelnd auf den Platz laufen und in unseren Strafraum eindringen. Ich vermute mal, die wollten rechtzeitig rüber auf die Tribüne zur Königin.

Was war nach dem Spiel in der Kabine los?

Trauer. Tiefe Trauer. Wissen Sie, wir waren ja in der Kabine der Engländer, weil wir ja offiziell der Gastgeber waren, das hat die Auslosung ergeben. Als wir da reinkamen, hat es unglaublich nach Kampfer gestunken. Da haben die uns das erste Mal benebelt!

Haben Sie sich das Finale vom Wembley später noch mal im angeschaut? Vielleicht auf Youtube?

Youtube? Hab’ ich nicht.

Und im Fernsehen?

Nein. Ein Spiel, das man gespielt hat, noch mal über 90 Minuten plus 30 Minuten Verlängerung anzuschauen, ist eine eher ermüdende Sache. Also, wenn man nicht wüsste, wie es ausgeht, dann könnte ich noch mal in Versuchung geraten. Aber so ein Computerprogramm, das darauf Einfluss nehmen und eine falsche Schiedsrichterentscheidung korrigieren könnte – so etwas gibt es ja leider noch nicht.

Sie haben das Wembleytor also nie wieder gesehen?

Doch, schon. Von der Fifa hab ich einen Film bekommen, da gibt es eine Kameraeinstellung in direkter Verlängerung der Torlinie, und da sieht man, was ich damals schon gesehen habe. Kein Tor! Und was meinen anschließenden Kopfball betrifft: Glauben Sie mir, ich wäre damals schon clever genug gewesen, wenn ich nur den Hauch eines Zweifels gehabt hätte. Aber ich war mir eben sicher und deswegen wollte ich einfach nur klären. Sonst hätte ich den Ball nach hinten köpfen müssen oder zur Seite, aber wenn das misslungen wäre... Himmel!

Aus welchem Anlass hat Ihnen die Fifa den Film geschickt?

Ach, das hatte gar nichts mit dem Tor zu tun. Da ging es um Fouls bei Weltmeisterschaften. Die 66er WM war ja unglaublich brutal. Die Portugiesen haben den Pelé aus dem Turnier getreten, ich hatte im Spiel gegen Argentinien eine sehr unangenehme Begegnung mit einem gewissen José Albrecht. Das ganze Spiel war eine unglaubliche Treterei! Der Albrecht kommt also von links auf mich zugeflogen mit beiden Beinen voraus wie ein Weitspringer, direkt in meine Oberschenkel. Er ist vom Platz geflogen, und ich hatte am nächsten Morgen zwölf Stollenabdrücke, auf jedem Oberschenkel sechs.

Die Argentinier haben später alles auf die Deutschen geschoben. Der große Alfredo di Stefano behauptete, Argentinien hätte gegen ein vom Krieg verrohtes Land gespielt.

So, hat er? Ich hatte immer großen Respekt vor dem Fußballspieler di Stefano, aber dass der so einen Blödsinn erzählt... nun ja. War wohl südamerikanische Solidarität, er selbst war ja auch gebürtiger Argentinier.

Es ging schon hoch her gegen die Südamerikaner.

Oh ja! Ich erinnere mich gut an unser Viertelfinale gegen Uruguay: Fassen Sie mal hier an, direkt auf meinem Unterarm!

Fühlt sich wie eine Kuhle an.

Na, und ob! Da gab es einen Zweikampf im Strafraum, fragen Sie mich nicht, gegen wen, war jedenfalls ein abgewichster Profi. Ich gehe zu Boden, und der tritt zu, natürlich völlig unabsichtlich. Das war ein Spiel! Na gut, wir waren nicht ganz unbeteiligt, der Karl-Heinz Schnellinger hat beim Stand vom 0:0 einen Schuss auf der Torlinie mit der Hand pariert. Und dann sind die Uruguayer völlig ausgerastet. Ich sehe heute noch, wie Horacio Troche vom Platz gestellt wird, der geht an Uwe Seeler vorbei und langt ihm eine. Dachte natürlich, dass der Uwe zurückschlägt, damit wir auch einen Platzverweis bekommen. Wenn ich schon weg bin, dann nehme ich noch einen mit. Uwe hat ihm den Gefallen nicht getan und ist ruhig geblieben. Ein Glück!

Es gab damals einen kleinen Kulturkrieg zwischen Europa und Südamerika. Die Südamerikaner fühlten sich benachteiligt und diskutierten ernsthaft darüber, nie mehr bei einer WM anzutreten. Und nach dem Viertelfinale zwischen England und Argentinien untersagten es die englischen Betreuer ihren Spielern, dem Gegner die Hände zu schütteln, mit dem Argument: Mit den Tieren wollen wir nichts zu tun haben!

Die Südamerikaner waren schon harte Jungs, aber die Europäer waren auch nicht ohne. Pelé hat das zu spüren bekommen gegen die Portugiesen, dabei hatten die das gar nicht nötig, das waren so großartige Fußballer mit Eusebio und Coluna und all den anderen von Benfica Lissabon. Und wir Deutschen haben auch anständig hingelangt. Wir hatten schon kernige Leute wie Schnellinger, Schulz, Höttges, oder – na klar, Weber! Wer an denen vorbeikam, der war selbst schuld.

Dann trügt der Eindruck, die Deutschen wurden 1966 als sehr faire und schön spielende Mannschaft wahrgenommen?

Nein! Wir haben im gesamten Turnier keinen Platzverweis bekommen, wir hatten keine linken und hinterhältigen Spieler dabei. Noch mal: Wir waren keine Lämmer, aber auch keine Treter.

21 Jahre nach dem Krieg war das kein ganz gewöhnliches Gastspiel in England. Sind Sie als Mannschaft darauf eingestimmt worden?

Ich kann mich jedenfalls nicht dran erinnern. Aber Politik ist Politik, und im Spiel sieht es immer alles anders aus, da kann der Verbandspräsident vorher erzählen, was er will. Klar, wir wussten, dass wir Deutschland repräsentierten. Aber in erster Linie wollten wir Fußballspiele gewinnen. Später habe ich von vielen gehört, dass wir unser Land ganz anständig vertreten haben. Überlegen Sie mal, wie brav und harmlos wir das Wembleytor weggesteckt haben. Können Sie sich so etwas heute vorstellen?

Wie haben Sie in diesem Augenblick das Publikum wahrgenommen?

Mehrere Sekunden lang waren die Zuschauer erst mal konsterniert. Die wussten ja auch nicht, was jetzt passiert. Als der Dienst dann zu Mitte zeigte, gab es lauten Jubel. Absolut fair das Publikum. Kann ich nichts gegen sagen. Wir Deutschen waren damals in der Welt ja nicht sonderlich beliebt. Ich bin Jahrgang 1944, Hans Tilkowski als unser Ältester ist 1935 geboren. Wir hatten alle mit dem Krieg nichts zu tun, nur mit den Kriegsfolgen. Aber natürlich gab es damals Vorbehalte gegen die Deutschen.

Haben Sie das während der WM bemerkt?

Nicht so sehr, mal abgesehen von der gewöhnungsbedürftigen Presse mit ihren Schlagzeilen: Jetzt kommen die Deutschen wieder mit ihren Panzern und wollen uns überrollen. Na ja, ich habe während der ganzen WM keine einzige Zeitung gelesen. Und sonst? Wir haben ja sehr abgeschirmt gewohnt, sozusagen in der Prärie, irgendwo nicht weit weg von Sheffield, da hatten wir auch unser Trainingslager. Da war kein großer Auflauf, wir konnten uns in Ruhe vorbereiten.

Gab es Kontakt zur Bevölkerung?

Einmal haben wir so ein öffentliches Training veranstaltet. Da kamen ein paar Leute aus der Umgebung, die waren alle willkommen, es gab ja damals noch kein Geheimtraining.

Sprachen Sie und Ihre Mannschaftskollegen Englisch?

Die meisten Spieler schon, und wer nicht, der hat sich mit Händen und Füßen verständigt. Ganz gut kannte ich aus der englischen Mannschaft die drei Spieler von West Ham United: Bobby Moore, Martin Peters und Geoffrey Hurst, die waren mal zu einem Trainingslager bei uns in Hennef. Und Roger Hunt, mein Gegenspieler vom FC Liverpool, gegen den hab ich in meiner Karriere fünfmal gespielt und er hat nie ein Tor gemacht. Dabei war er damals englischer Torschützenkönig.

England galt damals noch mehr als heute als Mutterland des Fußballs. War es etwas Besonderes, dort zu spielen?

Wahrgenommen haben wir das Phänomen Wembley. Also: Das alte Wembley, das ja leider abgerissen worden ist zugunsten einer dieser Riesenarenen, wie sie jetzt überall auf der Welt stehen. Das alte Stadion war ein Juwel, das Neuschwanstein des Fußballs. 30 Jahre später war ich noch mal da, beim EM-Finale 1996. Ich hab mit zwei Freunden in der Kurve gestanden, genau vor dem Tor, wo Oliver Bierhoff das Tor Golden Goal gegen die Tschechen geschossen hat.

Ganz privat?

Na klar! Mit dem Wohnmobil sind wir vier Wochen durch ganz England, der DFB hat die Karten besorgt, aber die musste ich natürlich bezahlen. Ich bin noch mal in das Hotel, wo wir 1966 wohnten. Im Pub haben wir noch ein bisschen gefachsimpelt. Und natürlich ging es darum, ob der Ball drin war. Wussten Sie eigentlich, dass es im alten Wembley einen Eingang No und einen Yes gab? Also: Tor oder nicht Tor?

Und wo sind Sie rein?

Natürlich bei No.

2010 gab es noch mal eine Art Wembleytor, diesmal mit anderen Vorzeichen: Deutschland spielte im Achtelfinale der WM von Südafrika gegen England, Frank Lampard schoss, der Ball prallte von der Latte deutlich hinter die Linie, aber der Schiedsrichter entschied: kein Tor.

Sie wollen jetzt wissen, ob ich Genugtuung empfinde? Nein. Dafür war Lampards Schuss zu eindeutig. Der Ball war ja einen Meter im Tor. Das hätte wahrscheinlich sogar der Bachramow erkannt.

Das Gespräch führten Sven Goldmann und Markus Hesselmann. Wolfgang Weber, 71, bestritt 53 Länderspiele. Der Kölner schoss dabei zwei Tore, unter anderem das 2:2 kurz vor Schluss beim 2:4 im legendären WM-Finale 1966 gegen England.

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