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Auf dem Handballfeld konnte er sich durchsetzen. Doch abseits davon hatte Wolfgang Böhme (in Weiß, hier im Finale des Europapokals der Landesmeister 1979 gegen den TV Großwallstadt in München) einen größeren Gegner. So erlebte er den Olympiasieg der DDR 1980 in Moskau nur aus der Ferne.

© imago

Wolfgang Böhme und die Stasi: In der Manndeckung des Staates

Wolfgang Böhme, einer der bekanntesten DDR-Handballer, wurde von bis zu zwölf IM beschattet. Der Film "Fallwurf Böhme" zeichnet seine Geschichte nach.

Das Bier will einfach nicht so recht schmecken, aber egal. Noch ’ne Runde! Wenigstens auf den Alkohol muss doch Verlass sein. Darauf, dass er die Wahrnehmung vernebelt, beim Abschweifen und Vergessen hilft. Das ist genau das, was Wolfgang Böhme an diesem Abend braucht. „Ich habe den Frust einfach weggespült“, sagt er heute. Und meint damals, vor 35 Jahren.

Am 30. Juli 1980 sitzt Böhme im „Szczecin“, einer Kneipe im Rostocker Stadtteil Lütten Klein, und wird am Fernseher Zeuge eines sporthistorischen Ereignisses. Zum ersten und einzigen Mal hat es die Handball-Nationalmannschaft seines Heimatlandes ins olympische Endspiel geschafft. Finalgegner der DDR-Auswahl in Moskau sind ausgerechnet die sowjetischen Gastgeber, das offizielle Bruderland. Die DDR ist krasser Außenseiter – und gewinnt trotzdem. Nach einem dramatischen Spiel mit Verlängerung heißt es 23:22 für die Deutschen. Eine Sensation, in der Heimat sitzen die Menschen vor ihren Fernsehern und jubeln.

Bei Wolfgang Böhme in Lütten Klein hält sich die Begeisterung in Grenzen. Einerseits freut er sich mit seinen alten Mannschaftskollegen, die gerade ihre Medaillen bekommen haben. Andererseits geistern diese Fragen durch seinen Kopf: Sollte er da nicht auch auf dem Feld in Moskau stehen, mit goldenem Andenken um den Hals? Er, einer der besten und bekanntesten Handballer seiner Zeit, der 192 Länderspiele für die DDR bestritten hatte, der vier Jahre Kapitän dieses Teams war. Natürlich sollte er! Nur die Staatsorgane sahen das anders.

Spekulationen zur "Sperrung aus dem Reisekader"

Drei Monate vor Beginn der Spiele verfügen sie Böhmes „Sperrung aus dem Reisekader“ und erklären ihn zur „Unperson“, wie das damals heißt. Was sie konkret dazu veranlasst hat, lässt sich heute schwer rekonstruieren – weil das Jahr 1980 in Böhmes 500 Seiten dicker Stasi-Akte unvollständig beziehungsweise geschwärzt ist. Was gewesen sein könnte, dazu gibt es mehrere Theorien, die jetzt in einem 90-minütigen Dokumentarfilm neu aufgerollt werden.

„Fallwurf Böhme“, seit Donnerstag im Kino, erzählt anhand alter Tagebücher die Geschichte des Starhandballers und Lebemanns. Von seiner Kindheit im „streng politischen Elternhaus“ im beschaulichen Heringsdorf auf Usedom bis ins Jetzt beleuchtet Regisseur Heinz Brinkmann den sportlichen und gesellschaftlichen Aufstieg Böhmes im Arbeiter- und Bauernstaat ebenso wie seinen radikalen Fall nach der Degradierung durch die DDR-Organe. Während der 90 Minuten kommen viele Weggefährten zu Wort, Mitspieler, alte Trainer, die Familie und Böhmes fünf Minuten älterer Bruder Mathias, der ihm bis heute so ähnlich sieht wie schon 1962, als sich die Zwillinge eine Rolle im Defa-Kinderfilm „Die Jagd nach dem Stiefel“ teilten.

Zwischen Aufbegehren und Opportunismus

Die Protagonisten reden über ganz private Dinge, Hobbys, Affären, den Sport und wilde Abende – und hangeln sich automatisch an der deutsch-deutschen Geschichte entlang, angefangen bei den großen Duellen mit der Bundesrepublik in den 70ern über den Olympia-Boykott 1980 bis hin zu kontroversen DDR-Themen wie Doping, Überwachung und Bevormundung. „Es ist eine verzwickte Biografie, die zeigt, wie das System funktioniert hat“, sagt Regisseur Brinkmann, der wie Böhme in Heringsdorf aufgewachsen ist, „diese Schwankung zwischen Aufbegehren und Opportunismus, die bei Wolfgang sehr ausgeprägt ist, ist exemplarisch und hat mich fasziniert.“

Böhme kommt früh mit den Vorzügen des kapitalistischen Auslands in Kontakt. Als Auszubildender der Handelsmarine hat er mit 18 Jahren mehr Länder gesehen als die meisten DDR-Bürger in ihrem ganzen Leben, sein Interesse an der Welt ist geweckt. Mitten auf hoher See erhält Böhme dann ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann: Empor Rostock, eine der großen Handball-Adressen in der DDR, will den Linkshänder haben. Böhme sagt zu und steigt schnell zum Stammspieler auf, wenig später wird er ins Nationalteam berufen, mit dem er 1974 bei der WM in der DDR die Silbermedaille gewinnt. Vor allem im athletischen Bereich hebt sich der 1,87-Meter-Mann mit einem Wettkampfgewicht von 98 Kilogramm von den meisten Kollegen ab, seine turnerische Ausbildung kommt ihm dabei zugute. Genau wie bei seinem Markenzeichen, dem Fallwurf.

Bis zu zwölf IM hängen an Böhmes Fersen

Abseits des Handballfeldes wird er allerdings, nach staatlichem Verständnis, auffällig. Ein Eintrag in seiner Stasi-Akte vermerkt „ausgeprägtes Interesse“ an Beatmusik, Feiern und Liebschaften. Böhmes Lebensstil passt einfach nicht ins sozialistische Weltbild des Vorzeigesportlers, der laut offizieller Doktrin „Diplomat im Trainingsanzug“ sein soll. Die Stasi setzt inoffizielle Mitarbeiter auf Böhme an. Zu Höchstzeiten, so erfährt er später, hängen ihm zwölf IM an den Fersen. „Ich war schon immer ein wenig unbedarft und leichtsinnig“, sagt Böhme rückblickend, „ich hätte es nie für möglich gehalten, dass es solch einen Überwachungsapparat gibt.“

Ein paar Jahre hat Böhme noch Glück und darf seinen Beruf weiter ausüben – obwohl er immer wieder leichtsinnig vorgeht. In einem von der Stasi geöffneten Brief an eine Geliebte etwa droht Böhme damit, nach einem Wettkampf in Dänemark nicht in die DDR zurückzukehren. Bei der Handball-WM 1978 in Kopenhagen schleicht er in der Nacht vor dem Finale in das Zimmer der bundesdeutschen Nationalspieler Kurt Klühspies und Heiner Brand und erklärt mit Bierdosen, welche Taktik im Endspiel gegen die Sowjetunion hilfreich sein kann, gegen die die DDR im Halbfinale zuvor verloren hat. Tags darauf gewinnt die BRD das WM-Finale, am Abend feiern die Spieler der vermeintlich verfeindeten Staaten sogar gemeinsam. „Wenn das damals rausgekommen wäre, hätten wir alle ein Problem gehabt“, sagt Böhme.

Später gibt es immer mehr Berührungspunkte zwischen Böhme und dem Klassenfeind. Bei einer Auslandsreise lässt sich Böhme für ein signiertes Mannschaftsfoto bezahlen, die ihm unterbreiteten Angebote der Bundesligisten aus Kiel und Minden meldet er nicht wie vorgeschrieben bei den Staatsorganen. Die Stasi wird immer misstrauischer: Wie würde es denn aussehen, wenn einer der bekanntesten DDR-Sportler rübermacht? Schließlich schiebt sie diesem Szenario einen Riegel vor – und sperrt Böhme.

Der Geschasste fällt in ein tiefes Loch, flüchtet sich in den Alkohol, 1989 wird sein Ausreiseantrag schließlich bewilligt. Er geht in die Schweiz, wo er viele Jahre als Sportlehrer und Handballtrainer arbeitet. Heute sagt Böhme: „Ich bin zufrieden, dass ich zwei politische Systeme kennengelernt habe. Mir kann es nicht schlecht gehen – wenn ich nicht vergesse.“

„Fallwurf Böhme“ läuft unter anderem an diesem Montag um 18.30 Uhr im Babylon Mitte.

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