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Zeigt her, eure Künste. Kinder werden heute sehr früh auf ihre fußballerischen Qualitäten untersucht.

© Getty Images/iStockphoto

Wie Daten das Talentscouting verändern: Karriere nach Maß

Ein Berliner Start-up will errechnen können, welches Kind vor einer großen Fußballkarriere steht. Der 1. FC Union kooperiert bereits – andere warnen.

David* stellt sich hinter die gelbe Linie. Dann geht er ein bisschen in die Knie und sprintet los. Das Leibchen über dem weiß-grünen Trikot flattert von der ersten bis zur zweiten Lichtschranke. Natürlich ist das Leibchen für den zehn Jahre alten Jungen ein bisschen zu groß. Ein paar Sekunden lang scheinen die Turnschuhe von David über den grauen Hallenboden der Yuri-Gagarin-Schule in Fürstenwalde zu fliegen. Nach der zweiten Lichtschranke bremst der Junge ab, und sofort leuchtet seine Laufzeit auf dem Tablet der Firma „4talents analytics“ auf, die an diesem Abend im Mai zu Besuch bei der E-Jugend des Fußballvereins Union Fürstenwalde ist.

Es ist kein Training wie sonst für die Jungen, die alle im Jahr 2008 geboren sind: Heute soll sich herausstellen, wer von ihnen weiter von der Bundesliga träumen darf. Mit verschiedenen Tests, der Sprint ist einer davon, will das Berliner Start-up „4talents analytics“ Daten über die Leistungen der Kinder sammeln und für jedes einzelne analysieren, ob die Voraussetzungen für eine Karriere als Fußballprofi vorhanden sind.

„Wir wollen dem Zufall so wenig Macht geben wie möglich“, sagt Daniel Heidrich, der Gründer des Start-ups. Er wagt sich damit an eine der größten Fragen dieses Sports. Warum werden manche Nachwuchskicker später zu Fußballprofis und andere nicht? Ist es wirklich nur eine Sache von ausreichend Training, wie die brasilianische Legende Pelé meinte?

Heidrich widerspricht Pelé: „Dass jeder mit gutem Willen Fußballprofi werden kann, ist Schmarrn.“ Stattdessen gäbe es Leistungswerte, die schon bei kleinen Kindern zeigen, wie weit die Reise als Fußballer noch gehen kann. Diese Daten sammelt Heidrich mit seiner kleinen Firma – zum Beispiel in der Sporthalle in Fürstenwalde – und wertet sie am Computer aus. Im Industriegebiet von Adlershof hat er ein Büro eingerichtet, wo er mit einem Entwickler und zwei Sportwissenschaftlern an einem Modell arbeitet, um fußballerisches Potenzial vorhersagen zu können. Denn Heidrich ist überzeugt: „Sie wurden zu Fußballern geboren, nicht gemacht.“

Auf der Suche nach dem Modell. Denny Ruprecht (l.) und Gründer Daniel Heidrich in ihrem Büro in Adlershof.
Auf der Suche nach dem Modell. Denny Ruprecht (l.) und Gründer Daniel Heidrich in ihrem Büro in Adlershof.

© Schreiner

Er möchte mit seiner Firma von den technologischen Entwicklungen im Fußball profitieren. „Alles wird getrackt. Es gibt so viele Werte und Daten, aber in der Auswertung tun sich alle schwer“, sagt Heidrich. Er sieht genau da seine Stärken. Denn seit mehreren Jahren führt er ein Unternehmen für wirtschaftliche Datenanalysen. Sein Wissen überträgt er jetzt. „Wir machen Industrie 4.0 für den Fußball.“

Heidrich will errechnen, wie oft gewisse Werte im Jugendfußball vorkommen

Doch das Fußballspiel scheint deutlich komplexer zu sein als ein mittelständisches Unternehmen für Brandmelder, das die Verkaufszahlen steigern möchte. Wie kann das also funktionieren? Wenn Heidrich vor einer Leinwand im Foyer des Unternehmens steht – Kunstrasen und kleine Tore sorgen hier für die passende Atmosphäre – und seinen Ansatz präsentiert, wirkt es auf einmal recht simpel.

Heidrich schaut sich das Zielsystem an. Er analysiert also, welche statistischen Werte die Spieler in den oberen Ligen aufweisen: wie groß sie sind, wie schnell sie laufen, wie oft sie den Ball spielen. Und zugleich errechnet er mit verschiedenen Tests – Physis und Körpergröße, Schnelligkeit, Koordination sowie Kognition sind die Komponenten – den Leistungsdurchschnitt für verschiedene Jahrgänge. „Das ist Statistik erstes Semester“, sagt Heidrich. 900 Kinder sind bereits in der Datenbank des Start-ups, sie spielen für Brandenburger oder Berliner Vereine, von der Kreis- bis zur Landesliga, fast alle sind zwischen 10 und 13 Jahren alt. „Das ist das goldene Lernalter“, sagt Heidrich. Außerdem beeinflussten die Trainingseffekte hier noch nicht spürbar die Messergebnisse.

Um eine möglicherweise spätere körperliche Entwicklung zu berücksichtigen, werden die Spieler nach ein paar Monaten erneut getestet. Letztlich könne „4talents analytics“ zeigen, wie oft die Werte eines einzelnen Spielers im Amateurfußball vorkommen und ob er zu den 20 Prozent gehört, die den statistischen Werten der Profifußballer am nächsten kommen.

Hau den Lukas in der Sporthalle. Denny Ruprecht (l.) von "4talents analytics" leitet die Messungen in Fürstenwalde.
Hau den Lukas in der Sporthalle. Denny Ruprecht (l.) von "4talents analytics" leitet die Messungen in Fürstenwalde.

© Schreiner

In Fürstenwalde wird David Teil der Datenbank. Noch kickt er mit seinem Team erfolgreich in der Brandenburger Landesliga, aber er träumt von der Bundesliga. Wo er gerne mal spielen würde, ist für David klar: beim 1. FC Union, wie sein Vorbild Sebastian Polter. An der nächsten Station wird Davids Größe gemessen. Er gehört zu den kleineren Jungen im Team. „Ist es schlimm, wenn man klein ist?“, fragt David. Nein, sagt sein Trainer. Dabei ist es eigentlich schon schlimm – oder besser: Die Wahrscheinlichkeit, Fußballspieler zu werden, wäre höher, wenn er größer wäre. Das sei eine seiner ersten Erkenntnisse gewesen, sagt Heidrich. Denn auch wenn es immer wieder kleine Weltklasse-Spieler wie Lionel Messi gebe, seien sie doch die Ausnahme. Tatsächlich zeigen Statistiken des Schweizer Forschungsprojekts „CIES Football Observatory“, dass Spieler unter 1,80 Meter deutlich seltener den Sprung zum Fußballprofi schaffen.

Nur 0,01 Prozent aller Spieler eines Jahrgangs schaffen es in den Profibereich

Ohnehin ist es extrem selten, dass das passiert. In jedem Jahrgang spielen in Deutschland etwa 150.000 Kinder Fußball. Nur 3800 bis 4000 von ihnen dürfen zu einem der bundesweit 366 Stützpunkte des Deutschen Fußball- Bunds, wo speziell geschulte Trainer Lehrgänge anbieten. Die Scouts der größeren Vereine schauen da genau nach besonderen Talenten, die sich für die Nachwuchsleistungszentren der jeweiligen Klubs eignen. Etwa 800 Jungen schaffen diesen Schritt, doch auch hier wird noch einmal fein gesiebt, sodass am Ende nur eine zweistellige Zahl im professionellen Fußball landet. Das sind weniger als 0,01 Prozent der 150.000 Kinder eines Jahrgangs.

Einer, der sich mit dem System der klassischen Talentsuche im deutschen Fußball bestens auskennt, ist Henry Rehnisch. Er leitet beim Berliner Fußballverband (BFV) die Talentförderung. In seinen 14 Jahren als Verantwortlicher hat er unter anderem die jetzigen Hertha-Profis Jordan Torunarigha, Maximilian Mittelstädt und Arne Maier ausgewählt. „Arne war überragend“, erinnert sich Rehnisch.

Die drei von der Trainerbank. Beim Sichtungstag gucken Henry Rehnisch (l.) und seine Kollegen nach den Talenten.
Die drei von der Trainerbank. Beim Sichtungstag gucken Henry Rehnisch (l.) und seine Kollegen nach den Talenten.

© Schreiner

An einem Morgen im Frühling sitzt er neben zwei Kollegen auf einer kleinen Bank auf dem Gelände des Sportzentrums Hohenschönhausen. Vor ihnen spielen einige der besten Kinder aus dem Jahrgang 2006, „der Sommermärchenjahrgang“, sagt Rehnisch. Der Sichtungstag läuft, die Mannschaften der sechs Berliner Stützpunkte und von Hertha BSC sowie dem 1. FC Union spielen gegeneinander. Von den insgesamt 150 Jungen dürfen 24 zum kommenden Lehrgang und sollen die Berliner Auswahlmannschaft bilden. „Die anderen werden aber weiter gefördert“, sagt Rehnisch.

Hinter einem hohen Zaun stehen die Eltern und ein paar Männer, die mit Sonnenbrillen und Kappen ein bisschen wie Scouts aussehen und es wahrscheinlich sind. Gespielt wird ohne Schiedsrichter. Tablets gibt es hier nicht, Rehnisch macht sich handschriftliche Notizen zu einzelnen Spielern. „Die 11 ist sehr auffällig“, sagt er und kritzelt etwas auf seinen Zettel. Als eine Windböe kommt, fliegen ein paar Zettel an der Seitenauslinie entlang. „Pass auf, die fliegen noch bis zu den Eltern“, sagt Rehnisch und lacht.

"Ein gefährliches Pflaster, was da betreten wird"

Was er von Start-ups wie „4talents analytics“ hält, ist nicht schwer zu erkennen. „Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sich eventuell hochtalentierte Kids aufgrund vermeintlich schlechter Scores frühzeitig vom Fußball abwenden“, sagt Rehnisch. „Es ist ein gefährliches Pflaster, das betreten wird.“ Er ist überzeugt davon, dass Fußball nicht konkret messbar sei und Kinder mit einer besonderen Persönlichkeit oder einer hohen Spielintelligenz körperliche Nachteile ausgleichen können. Die Meinung von Experten wie ihm sei ausreichend, „eigentlich ist es sicher“, dass niemand durchs Raster fällt.

Kurze Ansprache. Henry Rehnisch redet beim Sichtungstag, die jungen Spieler hören zu.
Kurze Ansprache. Henry Rehnisch redet beim Sichtungstag, die jungen Spieler hören zu.

© Schreiner

Als Experte hätte sich Start-up-Gründer Heidrich früher nicht bezeichnet. „Ich hatte keine Ahnung von Fußball“, sagt er offen. Das änderte sich durch seinen Sohn, der mit neun Jahren im Jugendteam herausragte. Der 1. FC Union wurde auf ihn aufmerksam und wollte ihn verpflichten. „Meine Frau hat mich gefragt: Sollen wir das machen? Keine Kindheit mehr? Und ich konnte ihr nicht antworten“, erzählt Heidrich. Also habe er angefangen, sich über die mathematischen Chancen von Nachwuchsfußballern zu informieren. Und über Baseball in den USA, wo Statistiken eine so große Rolle spielen wie in keinem anderen Sport. Zeitgleich begann Heidrich als Aushilfstrainer bei Germania Schöneiche und las viele Bücher. „Ihr macht doch Beobachtungsfehler“, habe er über die Fußballscouts gedacht.

Diese Fehler will er verringern und mit Profivereinen kooperieren. Doch die Akquise ist mitunter schwierig. Denn er ist nicht der einzige, der mit seiner Datenanalyse der Kinder auf ein goldenes Geschäft hofft. „Jede Woche kommt jemand bei mir vorbei und will mir was vorstellen“, sagt ein Leiter der Scoutingabteilung eines Bundesligaklubs, der anonym bleiben möchte. „Alle wollen mitmischen, weil so viel Geld im Spiel ist.“ Für ihn käme das nicht infrage. „In dem Alter Entscheidungen von physischen Daten abhängig zu machen, ist Quatsch“, sagt er.

Manche Vereine sehen das anders. Seit einigen Monaten ist „4talents analytics“ Partner des Zweitligisten Dynamo Dresden und des neuen Bundesligisten 1. FC Union. Für die Klubs führt das Start-up die Begabungsdiagnostik im Jugendbereich sowie zukünftig flächendeckendes Scouting durch. Heidrich und sein Team wollen die Vereine mit ihren Tests dabei unterstützen, die begabtesten Jungen aus der Region zu finden. Mit Einwilligung der Eltern, die fast ausnahmslos zustimmen würden, gibt das Start-up die Daten der Kinder weiter. Wie stark sich die Kooperationen finanziell für seine Firma auszahlen, will Heidrich nicht sagen.

Mentalität sei entscheidend, sagt ein Bundesliga-Scout

Den Klubs müsse er immer wieder klar machen, was von ihm erwartet werden kann. „Wir sind keine Zauberer“, sagt er, „wir können nicht den nächsten Profi entdecken.“ Aber mit seiner Firma könne er die hochbegabten Spieler filtern und den Klubs sagen: „Beobachtet nur noch die.“ Was die Spieler aus ihren Veranlagungen machen würden, sei offen. Das Netzwerk, die Trainer, Verletzungen, Freunde und der Wille der Jungen sei letztlich entscheidend. Der Bundesliga-Scout sagt: „Alle, die wir geholt haben, sind nicht an ihrem Talent gescheitert, sondern an ihrer Mentalität.“

Doch was passiert mit Kindern, die nach einem Test gesagt bekommen, dass sie nur zu den Durchschnittskickern gehören und nie nach oben gelangen werden? Heidrich ist da pragmatisch. Das Versprechen, Bundesliga-Spieler zu werden, könne man den Kindern wegen der so geringen Wahrscheinlichkeit sowieso nicht geben. Trotzdem würde er das vor den Eltern und Kindern „so formulieren, dass es nicht so schlimm ist“.

In der Turnhalle kniet David nun vor einer Bank und hat einen Stift in der Hand. Denn auch wenn die physischen Anforderungen immer stärker wachsen, brauchen Fußballer gewisse kognitive Fähigkeiten. Die soll David beweisen, indem er innerhalb von 30 Sekunden verschiedene Zahlen zwischen 1 und 99 miteinander verbindet. Es ist ein psychologischer Grundlagentest. Oben links auf dem Blatt steht „Patient’s Name“, Doppelpunkt, Linie. „Patient’s Name?“, fragt David, „bin ich ein Patient?“

Wenig später liegt sein Ergebnis aus dem Industriegebiet von Adlershof vor. David hat in den einzelnen Tests gute Werte erzielt, aber seine Körpergröße könnte zum Problem werden. Aktuell hat er „mittelmäßige Chancen“, ein Wachstumsschub würde ihm sicher helfen. Im November wird er erneut vermessen. Der Traum vom 1. FC Union könnte dann ein paar Zentimeter näher rücken.

*Name von der Redaktion geändert

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