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Gruppenbild mit Pokal. Lothar Matthäus und Rudi Völler (v.l.) feierten vor 30 Jahren den dritten WM-Titel der deutschen Nationalmannschaft.

© imago images/Colorsport

Vor 30 Jahren wurde Deutschland in Rom Weltmeister: Und dann waren wir drin

Im Juli 1990 fährt unser Autor auf gut Glück nach Rom zum WM-Finale. Am Ende ist er dabei, als die Nationalmannschaft gegen Argentinien den Titel holt.

Wir waren jung und brauchten eigentlich Geld. Ich hatte noch etwa 250 Mark übrig, Marco vielleicht ein bisschen mehr, vielleicht ein bisschen weniger. Wir hatten grad Abi gemacht und es aus der schleswig-holsteinischen Provinz per Anhalter bis nach Freiburg geschafft, saßen in der Jugendherberge vor dem Fernseher, und legten einen Schwur ab. Wenn „wir“ ins Finale kommen, fahren wir nach Rom und sehen das Spiel im Stadion, komme was wolle. „Wir“ kamen ins Finale, und am nächsten Morgen standen wir mit Rucksäcken und unserer schwachen Barschaft an der Autobahn-Raststätte bei Freiburg und hielten den Daumen in den Wind, Richtung Süd.

Spätabends sangen wir wahrheitsgemäß „Wir sind schon auf dem Brenner, wir brennen schon darauf“. Wir taten es schamlos und hörbar, obwohl wir schon damals wussten, dass der von Udo Jürgens komponierte und mit der Mannschaft (sie hieß damals noch nicht „Die Mannschaft“, das kam alles viel später) eingespielte Song als einer der schlechtesten Fußballsongs in die Fußballsong-Geschichte eingehen würde. 

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Eine Mitfahrt unter anderem in einem britischen Lada mit Lenkrad rechts, gesteuert von einem britischen Ladafahrer, dessen Herz sehr links schlug, hatte uns dort hinauf getragen. Auch bei einer nicht mehr ganz jungen Dame hatten wir im VW-Bus gesessen und etwas Mühe gehabt, sie zu überzeugen, dass wir beide wirklich nur mitfahren, aber nicht beischlafen wollten. In einem Ziemlichviele-Tonner schliefen wir dann, während der Diesel gemütlich bis nach Rom tuckerte. Beziehungsweise fast. Der Fahrer ließ uns an einem Abzweig mitten auf der Autobahn raus. Wie wir letztlich in die Stadt und zum Stadion gekommen sind, habe ich vergessen. Aber da waren wir. 

Das günstigste Angebot: 500 Mark für eine Karte

Auf dem Rasen - nicht im, aber immerhin nur 100 Meter vom Stadion entfernt, rollten wir unsere Isomatten aus und machten Abendbrot. Es wird wohl aus Crackern, Dosen-Thunfisch und Majo bestanden haben. Eine Gruppe Kameruner zog vorbei, trommelnd und singend. Die Mannschaft um Roger Milla war im Viertelfinale gegen England nach Verlängerung knapp ausgeschieden, doch die Fans machten weiter. Argentinier waren überall singend und trommelnd zu hören. Deutsche auch, allerdings weitestgehend nur melodiefrei grölend.

Am nächsten Morgen kauften wir billig im Supermercato ein, denn wir brauchten ja auch noch Tickets. Die wurden auch reichlich feilgeboten von Schwarzmarkthändlern. 500.000 Lire, also 500 Mark, war da günstigste Angebot, das wir bekamen. Wir fanden uns mit der Unmöglichkeit, den Rasen jenseits der Stadionmauer oder gar die von Lothar und Diego angeführten Teams zu Gesicht zu bekommen, ziemlich schnell ab. Wir bauten unser Zelt auf, den Carabinieri war es überraschenderweise egal. Und wir wurden zu Rom-Touristen.

Allein im Colosseum

Die Stadt war leer. Jeder fußballverrückte Italiener mied sie, denn das Ausscheiden im Halbfinale schmerzte zu sehr - und die Fans der beiden übrig gebliebenen Mannschaften erwartungsfroh zu sehen, wäre schlicht nicht auszuhalten gewesen. Offenbar aus Hooligan-Angst fehlten auch die üblichen Rom-Touristen. Komplett. Wir leisteten uns den Eintritt ins Colosseum, denn das Final-Ticket hatten wir abgeschrieben. Zusammen mit genau einem Briten waren wir die einzigen Besucher. Marco, der nicht nur einen italienischen Namen hatte, sondern auch vorhatte, nach dem Zivildienst Geschichte zu studieren, referierte Geschichte. Ich guckte herum und dachte, der Name des Gebäudes ist Programm. Und drin zu sein ohne Touristengeschiebe, fand ich, entschädigte uns ziemlich dafür, dass wir in das andere ovale Bauwerk nicht reinkommen würden.  Sogar in eine Pizza im Restaurant und eine Flasche Chianti investieren wir. Aber so recht Ristorante-Stimmung wollte nicht aufkommen. Wir waren die einzigen Gäste.

So vergingen die Tage. Wir lebten von Weißbrot, Tomaten und Bier, feierten mit all jenen, die ebenfalls vor dem Stadion campten - beziehungsweise denen, die nicht allzu sehr grölten die ganze Zeit. Zum Duschen schmuggelten wir uns in die nahegelegene Jugendherberge.

Diego leiden sehen. Unser Autor war im Juli 1990 im Olympiastadion von Rom Augenzeuge, wie Maradona sich mit Silber begnügen musste.
Diego leiden sehen. Unser Autor war im Juli 1990 im Olympiastadion von Rom Augenzeuge, wie Maradona sich mit Silber begnügen musste.

© imago images/Buzzi

Am Morgen des 8. Juli versuchten wir herauszubekommen, wo man das Spiel vielleicht zumindest im Fernsehen würde anschauen können. Gleichzeitig aber machten sich Gerüchte breit, viele Italiener, die sich ein Ticket gesichert hatten, hätten es zurückgegeben und die Karten würden jetzt bald an Kasse Soundso zum normalen Preis verkauft werden. Innerhalb von Minuten war die Schlange etwa tausend, vielleicht auch 3000 Menschen lang, und als wir uns auch anstellen wollten, an Position 3001 und 2, stellte sich heraus, dass offenbar alles Schwindel gewesen war.

Nach einer Stunde wiederholte sich das ganze, diesmal war es eine andere Kasse, die angeblich öffnen würde. Dann hieß es, nein, noch eine andere, das ist die richtige. Oder doch nicht? So verteilten sich die Leute zumindest: Spekulative, aber jeweils nicht ganz so lange Schlangen vor allen möglichen Kassenhäuschen. Weil wir weiter nichts zu tun hatten, ließen wir es auf einen Versuch ankommen. Eine halbe Stunde später hatten wir jeder ein Ticket in der Hand und jeweils nur 99.000 Lire ausgegeben.

Wir schämten uns für die deutschen Fans

Wir kamen rein, ein paar Stunden später, in den unglaublichen Betonklotz, und weil wir Durst hatten, kauften wir Cola im Piccolo-Format für 9000 Lire. Das Spiel selbst war, na ja. Wir sahen Diego spielen, wenn auch nicht gut, des anderen Diego wegen. Wir sahen eine dominierende deutsche Mannschaft. Wir schämten uns für die deutschen Fans, die außer ein bisschen rhythmischer Klatscherei und dem Skandieren des Wortes „Sieg!“ nicht viel zustande brachten. Und wir saßen ziemlich weit oben in Höhe der Strafraumseite, wo das entscheidende Foul passierte. Der Rest ist Fußballgeschichte und Erinnerung an den einsam, die Hände in die Taschen seiner heute etwas peinlich wirkenden Stoffhose vergraben über den Rasen gehenden Teamchef, und an noch mehr peinliches Fan-Gegröle.

Wir trafen in Rom auf dem Weg aus dem Stadion zwei Jungs, die mit Wohnmobil gekommen waren und schon in der Nacht wieder nach Hause fuhren. Sie nahmen uns mit. Schon am nächsten Morgen waren wir irgendwo bei Lörrach wieder im sich seit unserer Abreise der Wiedervereinigung schon wieder deutlich näher gekommenen Deutschland. Ich hatte noch zehn Mark in der Tasche. „Wir“ waren Weltmeister. Und wir waren dabei gewesen. Am wichtigsten für uns beide war aber: Wir hatten uns etwas geschworen. Wir hatten Wort gehalten. Und der zuständige Fußballgott hatte uns dabei geholfen. Ein Sommermärchen.

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