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Monica Seles nach dem Messerangriff beim Hamburger Rothenbaum

© picture alliance / dpa

Vor 25 Jahren: Wie der Messerangriff auf Monica Seles das Tennis veränderte

Den Täter trieb die Verehrung für Steffi Graf, während des Seitenwechsels stach er zu: An diesem Montag jährt sich das Attentat auf Monica Seles am Hamburger Rothenbaum.

Seitenwechsel. Die Schiedsrichterin verkündet den Spielgewinn für Angelique Kerber. Applaus brandet auf. Die Deutsche hat es eilig, zu ihrem Stuhl zu kommen. Mit dem Tennisschläger in der einen und einem Handtuch in der anderen Hand nimmt sie Platz. Sie trinkt einen Schluck und atmet kräftig durch. Kurze Ruhepause. Hinter ihr hat sich unterdessen ein Mann erhoben. Im schwarzen Anzug patrouilliert er langsamen Schrittes ein paar Meter hin und her und wieder her und hin. In seinem Ohr blitzt ein Knopf auf, aufmerksam blickt er in die Zuschauerränge. Alles sicher. Angelique Kerber erhebt sich, das Spiel geht weiter.

So wie am Mittwoch dieser Woche beim Turnier in Stuttgart sieht es überall aus, wenn heutzutage in großen Arenen Tennis gespielt wird. Das Thema Sicherheit ist für die Veranstalter längst zu einer gewaltigen Herausforderung geworden. In Zeiten ständiger Terrorgefahr sind Sportveranstaltungen ein potenzielles Anschlagsziel. 150 Sicherheitsleute sind in Stuttgart täglich im Einsatz, nicht nur hinter beiden Spielerbänken, sondern auch an jedem der vier Eingänge zum Hauptplatz sind sie postiert.

Als der Porsche Grand Prix noch in Filderstadt ausgetragen wurde, waren in den Anfangsjahren Ende der 1970er gerade mal zehn Polizisten vor Ort. Es heißt, dass die sich damals extra für das Turnier Urlaub genommen hätten, um ein bisschen Tennis zu schauen und nebenbei für Recht und Ordnung zu sorgen.

Undenkbar in der heutigen Zeit und vor allem undenkbar seit jenem Ereignis, das sich am 30. April 1993 am Hamburger Rothenbaum zutrug. An einem milden Freitagabend standen sich seinerzeit die Weltranglistenerste Monica Seles und die Bulgarin Magdalena Maleeva im Viertelfinale des traditionsreichen deutschen Frauenturniers gegenüber. Seles führte 6:3 und 4:3, als sie zum Seitenwechsel ging. Sie setzte sich auf die Bank, trank einen Schluck und wischte sich mit dem Handtuch den Schweiß ab.

Die Klinge misst 13,1 Zentimeter

Zum gleichen Zeitpunkt hatte sich Günter Parche von seinem Sitz erhoben. Mit einer Plastiktüte in der Hand schritt er die Stufen von der Tribüne hinab Richtung Platz. Nur eine Werbebande trennte die Tennisprofis von den Zuschauern. Parche hatte leichtes Spiel. Aus seiner Tüte zog er ein Ausbeinmesser mit einer 13,1 Zentimeter langen Klinge. Er umklammerte es mit beiden Händen und stach auf Monica Seles ein.

Die hatte sich gerade ein bisschen vorgebeugt, war im Begriff sich zum Weiterspielen zu erheben. Womöglich rettete ihr das das Leben. Die scharfe Waffe drang nur knapp zwei Zentimeter in den Rücken von Seles, zu einem zweiten Stich kam es nicht, weil Parche schnell überwältigt werden konnte. Seles schrie auf, halb vor Schmerz, halb vor Schock. Sie griff sich über die Schulter an den Rücken, klappte dann kurzzeitig zusammen. Rasch war Hilfe für die 19-Jährige zur Stelle.

Hans-Jürgen Pohmann kommentierte damals das Spiel live für die ARD. Bis heute erinnert sich der einstige Profi und spätere Pressesprecher des Deutschen Tennis-Bundes (DTB) ganz genau an das, was an jenem Abend in Hamburg geschah: „Wir waren bei der ARD auch während des Seitenwechsels auf Sendung. Ich muss irgendwas zum Spiel erzählt haben, als ich den Schrei hörte. Die Szene selbst habe ich nicht gesehen, aber ich bekam natürlich mit, dass Seles verletzt war. Erst einmal habe ich daran gedacht, dass sie den Mann festnehmen müssen. Und dann war natürlich die Frage, was ist mit Seles los?“

Für Monica Seles änderte sich an jenem 30. April 1993 alles. „Ich wurde niedergestochen. Auf dem Platz. Vor 10 000 Zuschauern ... Es hat sehr wehgetan. Es war ein schlimmerer Schmerz, als ich ihn mir je hätte vorstellen können. Sobald ich begriffen hatte, was gerade geschehen war, verfiel ich in einen Schockzustand. Während ich im Krankenwagen die Hand meines Bruders umklammerte, bewahrte mich der Schock vor der Erkenntnis, dass meine Welt gerade in Stücke brach. Dem musste ich mich später stellen“, schrieb sie in ihrer 2009 erschienen Autobiografie „Getting a Grip“.

Parche verehrte Steffi Graf

Mit den körperlichen Folgen des Attentats wurde die heute 44-Jährige bald fertig, psychisch hat sie es zumindest während ihrer Tenniskarriere nie überwunden. Wie sich später herausstellte, war Parche glühender Verehrer von Steffi Graf. Er konnte es nicht ertragen, dass Monica Seles die Deutsche als Nummer eins der Tenniswelt entthront hatte, und griff deswegen zum Messer. Erst mehr als zwei Jahre später gab Seles ihr Comeback auf der Tour, sie gewann noch einen Grand-Slam-Titel gegenüber weiteren elf von Graf, die fortan auch noch 187 Wochen lang die Nummer eins im Frauen- Tennis war. Günter Parche hatte sein Ziel erreicht. „Dieser Typ hat die Tennis-Geschichte verändert, daran habe ich keinen Zweifel. Monica hätte noch so viel gewonnen“, sagte Martina Navratilova einmal. Vor Gericht wurde Parche eine psychische Störung attestiert, er erhielt nur eine Bewährungsstrafe. Heute lebt Parche nach mehreren Schlaganfällen zurückgezogen in einem Heim.

Monica Seles bestritt danach nie wieder ein Turnier in Deutschland, auch wegen des aus ihrer Sicht viel zu milden Urteils. „Er hat mit voller Absicht auf mich eingestochen und ist dafür nicht einmal bestraft worden. Damit bin ich nie wirklich klargekommen“, erklärte sie einmal. Auch eine Klage gegen den Deutschen Tennis-Bund auf Schadenersatz in Höhe von 24,5 Millionen D-Mark wurde abgewiesen. Begründung: Da es keinen vergleichbaren Präzedenzfall in der Tennisgeschichte gegeben habe, sei die Möglichkeit eines derartigen Ereignisses für die Veranstalter nicht vorhersehbar gewesen.

„Es gab keinerlei Einlasskontrollen. Da wurde nicht mal die Garderobe geschützt“, erinnert sich ARD-Kommentator Pohmann. Allerdings wurden Spieler und Zuschauer in Hamburg auch 1993 nicht völlig sich selbst überlassen. Der Veranstalter hatte eine Firma engagiert, die mit insgesamt 74 Ordnungskräften im Einsatz war. An jenem Freitagabend befanden sich immerhin 52 dieser Ordner auf dem Center Court. Und gerade Spiele mit der Jugoslawin Monica Seles standen in Zeiten des Balkan-Konfliktes unter besonderer Beobachtung. Wirkliche Sicherheitsstandards, wie es sie heute gibt, existierten damals aber zunächst nicht.

Roger Federer kam glimpflich davon

Schmerz. Monica Seles hält sich nach der Attacke den Rücken.
Schmerz. Monica Seles hält sich nach der Attacke den Rücken.

© dpa

Das änderte sich dann allerdings schlagartig. Das Thema Sicherheit war schon am Tag nach dem Angriff auf Monica Seles plötzlich allgegenwärtig. „In Hamburg saß nun hinter jeder Spielerin ein Sicherheitsbeamter. Die haben einen Extra-Stuhl bekommen und schauten nur ins Publikum. Dazu wurden die Spielerbänke 1,50 Meter weiter nach vorn in den Platz reingeschoben“, erzählt Pohmann. Dass das Turnier seinerzeit überhaupt weiterging, verwundert aus heutiger Sicht. „Aber das kam damals völlig aus dem Niemandsland. So etwas hatte es ja noch nie irgendwo auf der Welt gegeben“, sagt Pohmann.

Selbst das Wimbledon-Turnier stand 1993 noch im Zeichen des Ereignisses von Hamburg. Die Profis saßen mit dem Rücken zum Schiedsrichterstuhl, also seitlich zum Publikum. Allerdings war das kein Dauerzustand. Seles kritisierte später: „Seitdem ich 1993 niedergestochen worden bin, hat sich in Sachen Sicherheit nichts geändert. Ich hoffe nur, dass kein anderer Sportler das durchmachen muss, was ich erlebt habe.“

Seles litt an Depressionen, wurde übergewichtig und war, als sie wieder spielte, oft verletzt. Später zog sie sich aus der Öffentlichkeit zurück, inzwischen geht es ihr besser, auch wenn sie über die Ereignisse von damals nicht mehr sprechen mag. Lieber redet sie über ihre Jugendbücher, die sie inzwischen schreibt. Auch Tennis spielt darin eine Rolle.

Die Fans sollen dicht dran sein

Aber sie wird aufhorchen, wenn wieder mal ein Zuschauer einem Spieler zu nahe kommt. So wie 2009 im Finale der French Open, als Roger Federer Opfer des bekannten Flitzers Jimmy Jump wurde. Der kletterte über die Bande auf den Court und versuchte dem Schweizer seine berühmte Mütze überzustülpen. Erst nach Sekunden wurde er von Sicherheitskräften festgehalten. „Das ist dein Arbeitsplatz, hier möchtest du dich sicher fühlen. Ich bin froh, dass nichts passiert ist“, sagte Federer Jahre später nach einem ähnlichen Vorfall in Paris. Diesmal war es ein Teenager, der es auf die Anlage geschafft hatte und in aller Ruhe ein Selfie mit seinem Idol machen konnte. „So ein Tennisplatz ist 23,77 Meter lang, dazu kommen noch mehrere Meter Auslauffläche. Und das auf beiden Seiten. Das kannst du nicht alles permanent überwachen“, glaubt Hans-Jürgen Pohmann.

Allerdings sind die Voraussetzungen heute auch andere als noch vor 20 oder 25 Jahren. In Stuttgart in dieser Woche gibt es beispielsweise – wie bei vielen anderen Sportveranstaltungen inzwischen auch – strenge Sicherheitsauflagen für die Veranstalter seitens der Women’s Tennis Association (WTA). So dürfen Zuschauer keine Taschen, die größer als Din A4 sind, mit in die Halle bringen. Auch eigene Getränke sind verboten. Dazu werden die Topspielerinnen vor allzu aufdringlichen Fans durch Bodyguards abgeschirmt. Als Angelique Kerber nach ihrem Triumph bei den Australian Open 2016 in Stuttgart antrat, hatte sie regelmäßig zwei streng blickende Begleiter an ihrer Seite. Das Wohlbefinden der Spielerinnen steht ganz oben auf der Liste der Veranstalter – und das gilt nicht nur für das Turnier in Stuttgart.

Und doch sollen die Fans möglichst dicht dran sein an ihren Idolen. Keiner möchte, dass Tennis im Käfig gespielt wird. Das Hautnah-Erlebnis soll bleiben, auch wenn damit Risiken verbunden sind. Die zu minimieren, Präsenz zu zeigen und dennoch dem Zuschauer das Gefühl zu geben, er wäre ein Teil der Show, das schaffen sie in Stuttgart übrigens seit Jahren besonders gut: Neunmal schon ist das Turnier von den Spielerinnen zum beliebtesten auf der Frauen-Tour gewählt worden.

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