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Immer was los im Zirkus NFL. Tom Brady verlässt den sechsfachen Meister New England Patriots nach 20 Jahren.

© AFP

US-Sport in Zeiten des Coronavirus: Die gallische Liga

Das Coronavirus bringt beinahe den gesamten US-Sport zum Erliegen – nur in der NFL scheint es, als laufe der Betrieb ganz normal weiter.

Mittlerweile sieht Ben Roethlisberger aus, als befände er sich seit Monaten in Quarantäne, völlig abgeschottet von der Außenwelt. Einen Friseur hat der Quarterback der Pittsburgh Steelers aus der National Football League (NFL) in dieser Zeit jedenfalls nicht gesehen – mit seinem Bart könnte er Tom Hanks in „Cast Away“ Konkurrenz machen. Aber vielleicht ist das ja genau die subtile Botschaft, die Roethlisberger, Spitzname Big Ben, gerade unter das Volk bringen will: Optik ist in diesen Tagen überhaupt nicht wichtig. Sondern Zusammenhalt, Vernunft, Solidarität und Familie.

Roethlisberger hat kürzlich ein Video aus seinem Haus getwittert. Er sitzt mit seiner Ehefrau und den drei Kindern am Tisch, die Kids zählen nacheinander ihre temporären Hobbys auf, und er appelliert an alle Menschen da draußen, doch bitte daheim zu bleiben und nur für die notwendigsten Erledigungen vor die Tür zu gehen. „God bless you all“, sagt Roethlisberger, ein streng gläubiger Mensch zum Abschied. Das Video des Star-Quarterbacks und zweimaligen Super-Bowl-Champions, das im Internet millionenfach angeklickt wurde, bildet dieser Tage eine angenehme Ausnahme im Kosmos NFL. Wer das Geschehen rund um die umsatzstärkste Sportliga der Welt verfolgt, fühlt sich zwangsläufig an den Anfang jedes Asterix-Comics erinnert.

Minimal abgewandelt müsste der entsprechende Text lauten: Das Coronavirus bringt die Sportwelt zum Erliegen. Die ganze Sportwelt? Mitnichten! In den USA, genauer gesagt: in der NFL, läuft der Betrieb einfach weiter, als gäbe es aktuell keine dringlicheren Probleme. Sie ist gewissermaßen die gallische Liga, frei von äußeren Einflüssen und Faktoren. Gerade aus europäischer Perspektive wirkt sie derzeit wie eine seltsame Parallelwelt.

Die neue Saison beginnt in einem knappen halben Jahr

Im Moment läuft die sogenannte „Free Agency“, also jene Phase, in der sich vertragslose Spieler nach neuen Arbeitgebern und dicken Verträgen umschauen können. Jeden Morgen werden die neuesten Transfers und Gerüchte sowie deren Einfluss auf die Liga und den jeweiligen Klub besprochen und analysiert.

Am größten war die Aufregung nach dem Wechsel von Star-Quarterback Tom Brady, der den sechsfachen Meister New England Patriots nach 20 Jahren verlässt und künftig Pässe für die Tampa Bay Buccaneers wirft. Immer unter der Voraussetzung, dass die Liga ihren Spielbetrieb wie gewohnt in der ersten Septemberwoche aufnehmen wird.

Das ungebrochene Interesse an der NFL hat verschiedene Gründe. Nachdem die Basketballer (NBA), Eishockeyspieler (NHL) und Baseballer (MLB) bereits frühzeitig in die Coronavirus-Pause geschickt worden sind, ist die NFL im Grunde die einzige der vier großen US-Ligen, aus der es überhaupt noch Meldungen von sportlicher Relevanz und damit so etwas wie Normalität gibt.

Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist zudem die Tatsache, dass die neue Saison offiziell erst in einem knappen halben Jahr beginnt. Bis dahin, so die Hoffnung, wird schon alles wieder seinen halbwegs normalen Gang gehen, auch im US-Sport und in der mit Abstand populärsten Liga des Landes. Neben dem Besuch in der Kirche gehört der Sonntag in den meisten Landstrichen der USA vor allem: dem Geschehen in der NFL. Freunde und Familien treffen sich, verbringen den Tag miteinander, grillen, essen, trinken und fachsimpeln. Allein der Gedanke, in Zukunft möglicherweise darauf verzichten zu müssen, ist vielen Fans fremd.

Der Draft findet ohne Publikum und Athleten statt

Allerdings kommen die Einschläge auch in der NFL immer näher. Nachdem es tagelang, ja, mitunter sogar wochenlang so aussah, als könne die Liga nichts erschüttern, wurden in dieser Woche entsprechende Schutzmaßnahmen verfügt: Die Spieler dürfen die Trainingsgelände ihrer Klubs bis auf weiteres nicht betreten und sind angehalten, daheim zu bleiben und sich in den eigenen vier Wänden fit zu halten.

Darüber hinaus hat die NFL mit Blick auf ihren wichtigsten Termin des Frühjahrs reagiert: den Draft. Bei der traditionellen Talentbörse dürfen die Klubs die besten Nachwuchsspieler des Jahrgangs verpflichten, die Veranstaltung hat sich mittlerweile zu einem gewaltigem Zirkus mit riesigem medialen Interesse entwickelt. In diesem Jahr sollte sie zum ersten Mal in der wohl künstlichsten Metropole des Landes stattfinden: in Las Vegas.

Stand heute wird der Draft auch stattfinden, dieses Mal aber ohne Publikum und Athleten vor Ort – wie sonst eigentlich üblich. Stattdessen werden die Nachwuchsspieler daheim vor ihren Computern sitzen und darauf warten, dass sie via Facetime oder Skype unter Vertrag genommen werden. Wie das eben so läuft im Frühjahr 2020.

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