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Start in das Rennen seines Lebens. Bei den Olympischen Spielen 1972 von München lief John Akii-Bua über 400 Meter Hürden zum Weltrekord.

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Ugandas Olympiaheld: John Akii-Bua und die Hürden seines Lebens

John Akii-Bua holte 1972 in München sensationell den ersten Olympiasieg für Uganda. Heute wäre er 70 geworden.

Er startet auf der Innenbahn, dort, wo die Kurven am schärfsten und die Aussichten auf den Sieg am geringsten sind. Doch er hat einen Vorteil. Während die meisten anderen Läufer auf ein Sprungbein festgelegt sind und ihre Schritte zwischen den Hürden zählen müssen, um nicht aus dem Takt zu kommen, kann er sowohl mit rechts als auch mit links abspringen. John Akii-Bua nimmt die Hürden, wie sie kommen.

Das Leben hat ihm von Anfang an Hürden in den Weg gestellt. Geboren vor genau 70 Jahren, am 3. Dezember 1949, im Norden Ugandas, wächst er mit 42 Geschwistern auf. Von klein auf muss er die Viehherde der Familie hüten und dabei ständig auf der Hut sein, dass sie nicht Löwen, Pavianen oder Riesenschlangen zum Opfer fallen. Ab und an veranstaltet der Vater unter seinen Kindern Wettrennen um Süßigkeiten. John geht dabei stets leer aus. Er ist nicht schnell genug. Noch nicht zumindest.

Im Porsche zum Starnberger See

Mit 16 zieht er in die Hauptstadt Kampala, wo er zunächst in einer Bar arbeitet und später zur Polizei geht. Dort entdeckt Ugandas Leichtathletiktrainer, der Brite Malcolm Arnold, das Talent. Anfangs läuft Akii-Bua noch die 110 Meter Hürden, doch nachdem er die Qualifikation für Olympia 1968 verpasst hat, überzeugt ihn sein Trainer, auf die 400-Meter-Distanz zu wechseln. Mit Erfolg: 1970 wird Akii-Bua Vierter bei den Commonwealth-Spielen, im Jahr darauf läuft er mit 49,0 Sekunden Afrikanischen Rekord. Von Jahr zu Jahr wird er schneller.

Die 400 Meter Hürden werden auch „Mankiller“ genannt. Vielen gelten sie als die anspruchsvollste Bahndisziplin überhaupt; sie erfordern Ausdauer, Schnell- und Sprungkraft sowie Timing. Um seine Ausdauer zu erhöhen, läuft Akii-Bua bis zu 1500 Meter am Stück. Um seine Muskeln zu stärken, trainiert er mit einer elf Kilogramm schweren Bleiweste. Um seine Sprungkraft zu steigern, verwendet er Hindernisse, die zehn Zentimeter höher sind als die genormten Wettkampfhürden. Und um sich stetig zu verbessern, trainiert er zweimal täglich, sieben Tage die Woche.

Dennoch genießt er auch die Stunden abseits der Rennbahn, wie Dieter Büttner weiß. Der heute 70-Jährige reist damals als amtierender Deutscher Meister über 400 Meter Hürden zu den Olympischen Spielen. Beide verstehen sich auf Anhieb, in München verbringen sie gemeinsam viel Zeit im Olympischen Dorf oder fahren mit Büttners orangefarbenem VW-Porsche 914 an den Starnberger See.

Eine Medaille traut ihm kaum einer zu

Er sei ein lebenslustiger Bursche gewesen, sagt Büttner, aber auch ein begnadeter Athlet. „Viele Hürdenläufer haben sich die Füße so getapet, dass sie nur mit dem Ballen aufsetzen, um schneller zu sein.“ John habe das nicht nötig gehabt. „Er hatte keine dicken Waden, hob die Knie beim Sprung kaum an. Seine Achillesfersen waren wie Stahlfedern.“

Obwohl Akii-Bua im Halbfinale in München die schnellste Zeit gelaufen ist, traut ihm kaum einer eine Medaille zu. In der Nacht vor dem Finallauf findet er keine Ruhe. Immer wieder versucht er, sich das Rennen vor dem inneren Auge vorzustellen, aber jedes Mal sieht er David Hemery vor sich.

Der Brite gewann bei den Spielen in Mexiko-Stadt 1968 die Goldmedaille in 48,12 Sekunden. Nie zuvor ist ein Athlet der magischen Grenze von 48 Sekunden so nahe gekommen wie er. Akii-Bua wälzt sich hin und her. Am nächsten Tag kann er nichts essen, die Aufregung ist zu groß. Bis sein Trainer zehn Minuten vor dem Start zu ihm kommt und nur diesen einen Satz zu ihm sagt: „Eine von den Medaillen ist deine.“

Auf den ersten 200 Metern des Finallaufs läuft Hemery noch schneller als bei seinem Weltrekord vier Jahre zuvor. Akii-Bua muss den Nachteil der Innenbahn aufholen. Doch als sie aus der letzten Kurve auf die Schlussgerade einbiegen, liegen sie schon gleich auf. Hemery fällt immer weiter zurück, Akii-Bua zieht davon. Mit weitem Vorsprung erreicht er das Ziel und rennt einfach weiter. Er nimmt die erste Hürde erneut und läuft gedankenversunken wie ein spielendes Kind voran.

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Erst nach einer Weile wird er langsamer, dreht sich um, blickt dann zur Anzeigetafel – und kann es kaum fassen: „47,82“ steht dort, dahinter blinken drei Buchstaben auf: „NWR“. Neuer Weltrekord. Noch nie ist ein Mensch über die 400 Meter Hürden so schnell gerannt. Noch nie hat ein Afrikaner sie gewonnen. Und noch nie hat ein Athlet aus Uganda überhaupt Olympisches Gold geholt. „Vor den Spielen waren wir gleich schnell“, sagt Dieter Büttner, „danach war er Weltrekordler. Er ist von sich selbst überrascht worden.“

Nicht mal eine Minute hat John Akii-Bua gebraucht, um weltberühmt zu werden. Es ist der 2. September 1972. Noch sind es die heiteren Spiele von München. Und wenn einer stellvertretend für diese Stimmung steht, dann ist es der schlanke, ständig lächelnde Sprinter aus Uganda. „Nach dem Ende der Spiele, die geprägt waren von Gewalt, Trauer und Abscheu“ schreibt später das US-Sportmagazin Sports Illustrated, „da schien es, als symbolisiere Akii-Bua am meisten das, was sie hätten sein können.“

John Akii-Bua wird zum Volkshelden

In seiner Heimat ist er nun ein Volksheld, obwohl das Rennen nicht im Fernsehen gezeigt wurden. Idi Amin hat es verboten. Seit einem Jahr beherrscht der Diktator das Land mit Gewalt und der Gewissheit, dass „niemand so schnell rennt wie eine Kugel“. Amin duldet niemanden neben sich. Erst recht nicht, wenn er wie Akii-Bua Christ ist und dem Stamme der Langi angehört, die der Diktator verfolgen und zu Hunderttausenden ermorden lässt.

Doch Akii-Bua ist zu berühmt, um in einem Massengrab zu verschwinden. Für ihn hat Amin eine andere Rolle vorgesehen. Er empfängt ihn mit Staatsehren, benennt eine Straße in Kampala nach ihm und befördert ihn zum leitenden Polizeibeamten. Wann immer ausländische Gäste dem Staatschef Menschenrechtsverletzungen vorwerfen, weist er auf Akii-Bua und dessen Neffen, den Fußballnationalspieler David Obua: „Ihr sagt, ich töte die Langi? Hier sind sie doch!“

Für Akii-Bua wird Uganda zunehmend zum Gefängnis. Er darf kaum noch im Ausland starten. Aus Angst vor einem Anschlag traut er sich nur selten auf den Trainingsplatz. Eine Flucht wagt er dennoch nicht, aus Sorge um seine Familie. 1976 reist er zwar zu den Olympischen Spielen nach Montréal, doch kurz vor dem Start pfeift man ihn zurück.

Zuvor hat das neuseeländische Rugby-Team ein Länderspiel in Südafrika bestritten, das international wegen des Apartheidregimes geächtet ist. Uganda und 15 weitere afrikanische Staaten boykottieren daraufhin die Sommerspiele 1976. Während Akii-Bua schon wieder im Flugzeug Richtung Uganda sitzt, läuft der 20-jährige US-Amerikaner Edwin Moses in 47,63 Sekunden zu Gold. Sein Weltrekord ist damit gebrochen.

Vor John Akii-Bua hatte noch nie ein Athlet aus Uganda Olympisches Gold geholt.
Vor John Akii-Bua hatte noch nie ein Athlet aus Uganda Olympisches Gold geholt.

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Daheim verfällt Akii-Bua zunehmend dem Alkohol und Nikotin. 1977 kommen Gerüchte auf, er sei verhaftet worden. Doch die Herrschaft Amins neigt sich dem Ende zu. Der Einmarsch ins Nachbarland Tansania scheitert. Als tansanische Truppen im April 1979 Kampala einnehmen, sind die beiden bekanntesten Ugander bereits auf der Flucht.

Während Amin sich per Flugzeug nach Libyen zu seinem Freund Muammar al-Gaddafi rettet, macht sich Akii-Bua mit seiner hochschwangeren Frau und seinen Kindern mit dem Auto nach Kenia auf. Dort landen sie zunächst in einem Flüchtlingslager, wo sie zufällig ein Fernsehteam entdeckt. Akii-Buas Frau hat auf der Flucht eine Frühgeburt erlitten, das Kind überlebte nicht mal einen Tag. „Ich habe mich noch nie so elendig gefühlt“, spricht Akii-Bua in die Kamera.

Doch er hat auch Glück; 1979 kommt er frei. Sein deutscher Sponsor holt ihn samt Familie nach Deutschland und stellt ihn als Markenbotschafter ein. Von hier aus startet er sein Comeback und tritt 1980 in Moskau noch einmal bei den Olympischen Spielen an. Dort scheidet er jedoch bereits im Halbfinale aus.

In Deutschland befällt ihn zunehmend das Heimweh. „Hier ist alles, aber dein Herz ist weit weg“, sagt er dem „Kicker“. 1983 kehrt er schließlich nach Uganda zurück. Er hat große Pläne, er will dort ein Trainingscamp für junge Athleten bauen.

Auf seinem Grabstein steht: „Olympischer Held“

Doch die Hürden des Lebens lassen sich nicht mehr so leicht überspringen. Das Land liegt nach dem Krieg am Boden, die Infrastruktur ist zerstört. Und ihm fehlen die nötigen Beziehungen sowie das Geld. Eine Zeitlang arbeitet er wieder als Polizist, später wird er Nationaltrainer. Doch die Zeiten haben sich geändert. Allmählich wird es still um ihn.

Dieter Büttner hält auch nach dem Ende der Laufbahn noch lange Kontakt zu Akii-Bua und dessen Familie: „Seine Tochter hat später immer wieder betont, dass es ein großer Fehler ihres Vaters war, nach Uganda zurückzukehren.“

Am 22. Juni 1997 holt die Vergangenheit auch Malcolm Arnold ein, wie er sich in der sehenswerten TV-Dokumentation „The John Akii-Bua Story. An African Tragedy“ erinnert: Im Münchner Olympiastadion läuft gerade der Leichtathletik-Europacup, Arnold trainiert mittlerweile die britischen Leichtathleten, doch beim Blick ins weite Rund muss er wieder an seinen einstigen Schützling denken, der genau hier 25 Jahre zuvor über die Hürden zu fliegen schien und allen davon eilte. Arnold ist in Gedanken versunken, als plötzlich ein Journalist an ihn herantritt: „Hast Du es schon erfahren?“

Zwei Tage zuvor ist John Akii-Bua mit 47 Jahren in einem Krankenhaus in Kampala einem Krebsleiden erlegen. Er erhält ein Staatsbegräbnis. Auf seinem Grabstein steht: „Olympischer Held“. Für lange Zeit wird er der Einzige bleiben. Erst 2012 in London gewinnt der Marathonläufer Stephen Kiprotich die zweite Olympische Goldmedaille für Uganda.

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