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Selbstzerstörung

© picture-alliance/ dpa

Sport: This is the end, beautiful friend

Das WM-Finale 2006 zeitigte die existentialistische Selbstzerstörung Zinedine Zidanes – und seine Apotheose zum Größten unter den Großen

Im Sommer 2010 schaffte sich die französische Nationalmannschaft ab. Es war die einzige kollektive Entscheidung eines disparaten Haufens: Die öffentliche Selbstzerstörung. „Man kann vorhersehen, was in den Geschichtsbüchern hängen bleibt“, sagte einer leise. „Es wird der Name des Weltmeisters sein – und die Verweigerung der französischen Spieler.“

Der da so leise sprach war Zinedine Zidane. Er musste etwas sagen, das erwartete Frankreichs Fußball in seiner schwersten Stunde von seinem größten Sohn. Nicht dass er jemals besonders laut gesprochen hätte, aber nun flüsterte er, es sollte bloß kein Menetekel sein. Er spürte den Zwiespalt: Er hatte das Recht, die Deserteure zu geißeln, und zugleich hatte er es nicht. Denn auch er ist ein Zerstörer. Mit dem Unterschied, dass er nicht ein Team zerstörte, sondern nur sich selbst. Ohne Intrigen, ohne überhaupt etwas zu sagen.

Mit einem Kopfstoß auf den Solar Plexus seines Gegners.

Es war die 109. Minute des WM-Finales 2006 zwischen Frankreich und Italien, als aus Zidane, dem Mannschaftsspieler, endgültig Zidane, der Individualist wurde. Nach einem galligen Monolog von Marco Materazzi, in dem er Zidanes Schwester beleidigt haben soll, machte dieser plötzlich kehrt und rammte ihm wie ein Minotaurus den Kopf gegen die Brust. Nicht aufs Nasenbein, wohin sie alle stoßen. Dieses Foul sollte nicht nur weh tun, es sollte auch etwas heißen: Spüre dein schlechtes Herz, Materazzi! Zidane hätte, um im Nexus der Tragödie zu bleiben, sofort vom Platz gehen sollen.

Doch er blieb stehen in der Arena von Berlin, auf der letzten Bühne seiner Karriere. Die Kulisse umtoste ihn, sein Puls muss ihm bis an den Hals geschlagen haben. Die entsetzten Blicke seiner Mitspieler, die entsetzten Blicke der Italiener sogar. Zidane? Warum? Und mit einem Mal war er gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkte, während er selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, sich zu seiner wahren Gestalt erhob: Zidane, der einsame Krieger.

Schiedsrichter Elizondo hatte keinen Schimmer, zu was sich das Spiel so plötzlich verwandelt hatte, was überhaupt geschehen war. Materazzi lag immer noch japsend im Niemandsland, als die ersten Italiener zu lamentieren begannen. Erst da informierte der vierte Unparteiische Cantalejo, der verdächtig lang an einem Bildschirm gekauert hatte, den Linienrichter – obwohl der Videobeweis gar nicht angewandt werden durfte. Auch wenn Zidane zu Recht Rot sah: Die Entscheidung fiel in einer Grauzone des Regelwerks.

Dann ging Zidane vom Feld. Vorbei am Pokal. In die Katakomben. Frankreich verlor im Elfmeterschießen, doch er gewann auf metaphysische Weise. Mehr als ein weiterer Titel es hätte bewirken können, trug seine archaische Tätlichkeit zu einer Apotheose bei. Seine Entscheidung, seinen persönlichen Stolz über den sportlichen Ruhm zu stellen, wurde der engen Logik des Fairplays enthoben und als existentialistischer Akt gesehen. Er war nun endgültig der Größte unter den Großen. Ein Solitär über allen anderen. Ein Gott.

Ein Gott, der nun, vier Jahre nach dem eigenen Sündenfall, die zankenden Menschlein mit leiser Stimme strafen musste.

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