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Simon Biles will ihren 20 WM-Medaillen in Stuttgart weitere hinzufügen.

© AFP

Superstar bei der Turn-WM: Simone Biles trotzt allen Widerständen

Ihre Mutter war alkohol- und drogenabhängig. Ihr Teamarzt hat sie missbraucht. Trotzdem wurde Simone Biles die größte Turnerin ihrer Generation.

Gleich gibt es Action in der ehrwürdigen Hanns-Martin-Schleyer-Halle in Stuttgart. Diese ist nicht mehr auf dem neuesten Stand. Die Wellblechdecke ist niedrig, der Bau durchsetzt von grauem Beton. Das ist beim Podiumstraining unter der Woche aber egal.

Unten in der Halle steht Simone Biles in ihrem blau funkelnden Turndress auf der Matte. Die US-Turnerin streckt noch einmal den Rücken durch, die Zuschauer klatschen schon erwartungsfroh in die Hände. Dann nimmt Biles Anlauf und Sekunden später wirbelt sie wie ein Flummi durch die Luft, macht einen doppelten Salto gestreckt und steht ihn sicher. Das Publikum jubelt. Viele von ihnen haben so etwas noch nie gesehen. Was auch daran liegt, dass es eine Turnerin wie Biles noch nicht gegeben hat.

Die 22-Jährige ist die Hauptattraktion bei den am Freitag beginnenden Turn-Weltmeisterschaften in der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Das wird beim Podiumstraining deutlich. Die Medienvertreter folgen ihr wie Spürhunde einer Fährte. Selbst wenn Biles in der Pause in der Ecke steht und ihre Konkurrentinnen beobachtet, schiebt sich ein an einer Verlängerung befestigtes Mikrofon über ihren Kopf.

Schon jetzt hat sie unglaubliche 20 WM-Medaillen gewonnen, davon 16 goldene. Sollte sie – wovon auszugehen ist – in Stuttgart vier weitere holen, hätte sie den Weißrussen Wital Schtscherba in der Anzahl an gewonnenen WM-Medaillen übertrumpft. „Es ist kaum zu begreifen, was sie leistet“, sagt die deutsche Turn-Bundestrainerin Ulla Koch. „Ich beglückwünsche jede Turnerin in Stuttgart, die Zweite wird. Diese kann sich als zweite Weltmeisterin fühlen. Denn Biles ist herausragend.“

Die Geschichte der herausragenden Simone Biles ist dabei nicht nur eine sportliche. Sie ist auch eine von großer Tragik.

Biles‘ Mutter Shanon ist alkohol- und drogenabhängig, immer wieder landet sie im Gefängnis. Ihr Vater Kelvin Clemons verlässt die Familie früh. „Ich erinnere mich noch“, sagte Simone Biles einmal, „dass ich in den ersten Jahren immer hungrig und ängstlich war. Ich hatte keine Mutter, zu der ich gehen konnte.“ Biles erlebt im frühesten Kindesalter die Hölle auf Erden.

Die Kinder, insgesamt vier, kommen schließlich in eine Pflegeunterkunft in ihre Geburtsstadt Columbus im US-Bundesstaat Ohio. Als Biles drei Jahre alt ist, werden sie und ihre Geschwister von den Großeltern Ron und Nellie Biles adoptiert. Sie bezeichnet ihre Großeltern schon seit vielen Jahren als ihre Eltern. „Sie haben mich gerettet“, sagt Biles. Und sie haben sie zum Turnen gebracht.

Mit sechs Jahren turnt Biles zum ersten Mal, sofort wird ihr großes Talent erkannt. Unter der Anleitung von Trainerin Aimee Boorman wird aus Biles die überragende Turnerin ihrer Generation. Biles misst nur 1,42 Meter, und gerade weil sie so klein ist, ist sie wie geschaffen fürs Turnen. „Sie hat einen begnadeten Körper“, sagt die deutsche Bundestrainerin Koch, „eine super-schnelle Muskulatur. Das kann man nicht trainieren. Das ist von Gott gegeben.“

Gott spielt im Leben von Simone Biles eine große Rolle

Überhaupt der liebe Gott. Er spielt im Leben von Simone Biles eine große Rolle. Ihre Groß- und Adoptiveltern sind streng gläubige Katholiken. Auch Biles praktiziert den Katholizismus, betont immer wieder, wie sehr ihr Gott hilft, auch in dunklen Stunden. Von denen hat es in ihrem Leben viele gegeben.

So ist auch sie ein Missbrauchsopfer von Larry Nassar. Der frühere Teamarzt der US-Turnerinnen war im vergangenen Jahr wegen massenhaften sexuellen Missbrauchs zu 40 bis 175 Jahren Haft verurteilt worden. 156 Mädchen und Frauen waren angehört worden. Biles sagte im vergangenen Jahr in einer Youtube-Serie, dass sie in dieser schlimmen Zeit viel geschlafen habe. „Weil das dem Tod am nächsten kommt.“

Biles ist in therapeutischer Behandlung. Aber sie hat überlebt. Sie hat ihre früheste Kindheit überlebt und auch die Misshandlungen durch ihren Peiniger. Ihre Großeltern und ihr Glaube, davon ist sie überzeugt, haben sie zu der Ausnahmesportlerin werden lassen.

Dabei hat Biles eine lausige Trainingseinstellung. Wenn sie keine Lust hat, bricht sie schon einmal ein Training ab. In ihrem Fall ist es aber egal. Weil sie diesen Gott gegebenen Körper und eine offenbar einzigartige Auffassungsgabe hat. „Wenn sie etwas sieht, turnt sie es nach. Ihre Spiegelneurone feuern“, sagt Ulla Koch.

In Stuttgart geht es Biles nicht so sehr um den Gewinn weiterer Goldmedaillen. Davon hat sie mehr als genug. „Mein Ziel ist“, sagt sie bei der Pressekonferenz am Dienstag in Stuttgart, „dass ich jedes Jahr besser bin als im vorangegangenen.“ Ein ambitionierteres Ziel kann es für sie nicht geben.

Bei der WM will Biles ihre jüngst kreierten Elemente aufführen. Dazu zählt unter anderem der sogenannte Triple-Double am Boden. Bei dieser Übung schnellt sie in die Luft und vollführt einen gehockten Doppelsalto mit drei Schrauben. Vor Biles war es undenkbar, dass eine Frau zu solchen Turn-Elementen in der Lage ist. „Sie hat die Maßstäbe derart hoch gesetzt“, sagt Ulla Koch, „dass es schwierig wird, dass in Zukunft überhaupt noch jemand an sie herankommt.“  Simone Biles turnt in einer eigenen Welt. In einer Welt weit weg von all dem Unheil.

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