zum Hauptinhalt
Im Jahr 1964 fand die EM-Endrunde tatsächlich in Spanien statt.

© imago images/Marca

Spielball im Kalten Krieg: Wie Diktator Franco die spanische Wunderelf um einen Titel brachte

Im Frühjahr 1960 verfügte Spanien über das wohl beste Team Europas. Auf dem Weg zum ersten großen Titel konnte nur ihr eigener Diktator sie stoppen.

Die seltsame Geschichte vom Diktator, der seiner Elf den Titel klaut, wird selten erzählt. Einigen ist sie zu peinlich, anderen zu komplex, den meisten zu fern. Doch wenn sie mal erzählt wird, dann beginnt sie immer am 26. Mai 1960 und auf dem Madrider Flughafen Barajas.

Dort, so geht die Geschichte, saßen an jenem Donnerstag einige der besten Fußballer der Welt und warteten auf die Maschine nach Moskau. Es war die spanische Nationalelf um Francisco Gento und Luis Suárez, der bald zu Europas Fußballer des Jahres gewählt werden würde.

Das Team hatte vor kurzem zwei prestigeträchtige Länderspiele gegen Italien und England überzeugend gewonnen, auch weil man naturalisierte Stars aufbieten konnte, etwa Ladislao Kubala aus Ungarn oder den gebürtigen Argentinier Alfredo Di Stéfano.

Das ist wichtig, weil beim Erzählen der Geschichte meistens Di Stéfano im Mittelpunkt steht. Er soll es gewesen sein, der das Wort ergriff, als zwei Stunden vor dem Abflug eine ungeheuerliche Nachricht die Runde machte: Spaniens Nationalelf würde am Boden bleiben, das Viertelfinale der ersten EM war abgesagt.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen und Ereignisse rund um die Europameisterschaft live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Das Standardwerk über die Historie des Turniers schreibt über die Szenen in der Wartehalle: „Ein aufgebrachter Di Stéfano fragte nach dem Grund, erhielt aber als Antwort nur: ‚Befehl von Vega‘, womit der spanische Innenminister gemeint war.“

Noch emotionaler geriet vor einigen Jahren die Darstellung des „Spiegel“: „Der große Alfredo Di Stéfano ist verzweifelt. ‚Warum?‘, stammelt er immer wieder. Der Stürmerstar sieht seine letzte Chance auf ein großes Turnier schwinden.“

Das Problem an diesen melodramatischen Berichten ist nun, dass Alfredo Di Stéfano am 26. Mai 1960 nicht auf dem Flughafengelände war. Er war nicht mal in Madrid. Er spielte 600 Kilometer entfernt Fußball, und zwar gegen Borussia Dortmund. Die Schwarz-Gelben waren von Betis Sevilla zu einem kleinen Turnier mit vier Vereinen eingeladen worden.

Bei über 30 Grad trafen sie im Auftaktspiel um die „Trofeo Benito Villamarin“ auf Real Madrid und schlugen sich eine Halbzeit lang ausgezeichnet. Erst in der 47. Minute brach Di Stéfano den Bann. Das Weiße Ballett gewann am Ende mit 3:0 und holte drei Tage später den Turniersieg.

Nationale Befindlichkeiten spielten große Rolle

Di Stéfano und die anderen Nationalspieler von Real waren mit nach Sevilla gefahren, weil sie längst wussten, dass es für sie keine Reise nach Moskau geben würde. Wahrscheinlich hatten sie das schon seit Monaten geahnt, auch wenn ihre Befürchtungen erst am Samstag, dem 21. Mai, Gewissheit wurden.

An diesem Tag gab ihr Verband eine Pressemitteilung heraus, die am Montag auch in deutschen Zeitungen zitiert wurde. „Marca“, das Sportmagazin aus Madrid, wartete allerdings bis zum Donnerstag. Erst dann druckte man auf Seite 69 einen kleinen Kasten ab, in dem es lapidar hieß: „Der spanische Fußballverband hat der Fifa mitgeteilt, dass die Fußballspiele zwischen den Nationalmannschaften aus Spanien und der UdSSR im Rahmen des Europapokals der Nationen abgesagt sind.“

Sechzig Jahre später wirkt vieles an dieser Sache mysteriös. Warum wurden die Spiele abgesagt? Weshalb meldete „Marca“ eine solch sensationelle Nachricht erst mit fünf Tagen Verspätung? Wieso kursieren heute all diese dramatischen Anekdoten über einen verzweifelten Argentinier in der Wartehalle eines spanischen Flughafens? Und was soll überhaupt der „Europapokal der Nationen“ sein?

Die Antwort auf all diese Fragen hat mit etwas zu tun, das im Fußball immer wichtig war: Politik. Schon als die Europameisterschaft, so wie wir sie kennen, zum ersten Mal diskutiert wurde, spielten nationale Befindlichkeiten eine große Rolle. Das war im Frühjahr 1927, als ein Fifa-Komitee den Auftrag hatte, internationale Wettbewerbe zu konzipieren.

[Lesen Sie hier alle wichtigen Entwicklungen der EM im Tagesspiegel-Liveblog]

Sie sollten Gegenveranstaltungen zu den Olympischen Spielen sein, weil jene den Nachteil hatten, dass keine Profis teilnehmen durften. Die treibenden Kräfte in dem Komitee waren der Franzose Henri Delaunay und der Österreicher Hugo Meisl. Sie bekamen schließlich eine 23:5-Mehrheit für ihren Vorschlag, alle zwei Jahre um den „Coupe de l’Europe“ zu spielen und alle vier Jahre um den „Coupe du Monde“.

Doch während der Weltpokal schon 1930 zum ersten Mal ausgetragen wurde, kam die europäische Version nicht in die Gänge, auch weil die Uefa noch nicht existierte. So wurde nur eine verschlankte Version von Meisls und Delaunays Vision Wirklichkeit: Ab Sommer 1927 spielten erst fünf, später sechs europäische Länder einen Pokal aus, der viele Namen trug, von denen „International Cup“ der heute gebräuchlichste ist.

Das Wort "Europameisterschaft" wurde vermieden

Erst lange nach Meisls Tod kam wieder Bewegung in die Sache, denn 1954 gründete sich die Uefa. Ihr erster Generalsekretär war kein anderer als Henri Delaunay, und als der Franzose im November 1955 starb, ging der Posten an seinen Sohn Pierre über, dem viel daran lag, seinem Vater eine Art Denkmal zu setzen.

Der „Coupe de l’Europe“ für Länderteams kam wieder aufs Tapet, wurde aber kontrovers diskutiert. Denn im Gegensatz zum Europapokal der Meister, der im Grunde von Journalisten und Vereinsbossen aus der Taufe gehoben worden war, ging es hier um Verbände und Nationen, die einen Konsens finden mussten? Und das im geografischen Zentrum des Kalten Krieges.

Wie uneins die damals 28 Mitgliedsländer waren, sieht man am Ergebnis der Abstimmung, die am 4. Juni 1958 in Stockholm stattfand: Die Einführung einer kontinentalen Meisterschaft bekam 15 Ja-Stimmen, also die knappste Mehrheit.

Auch deshalb wollte man das Turnier zunächst nicht als offiziellen Uefa-Wettbewerb verkaufen und vermied das Wort „Europameisterschaft“. In der nächsten Ausgabe meldete das „Sport-Magazin“ aus Nürnberg: „Europa-Cup der Nationalmannschaften!“ Und setzte hinzu: „Aber ohne Deutschland und Briten!“

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Aus heutiger Sicht wirkt die ablehnende Haltung des DFB bizarr, dabei hatte sie ganz moderne Gründe: Die Funktionäre fürchteten, dass der Terminkalender aus allen Nähten platzte. Man muss sich vor Augen führen, dass es Mitte der Fünfziger noch keine Bundesliga gab und deutsche Fußballer nur Halbprofis waren, die laut Statut einen geregelten Beruf haben mussten.

Trotzdem liefen sie nicht selten mehrfach in der Woche auf, weil ihre Vereine, die sich nur durch Zuschauereinnahmen finanzierten, ständig Freundschaftsspiele abhielten. Bundestrainer Sepp Herberger bekam immer größere Probleme mit Klubs, die ihre Spieler nicht für die Nationalelf abstellen wollten.

Trotzdem erwartete man von ihm, alle vier Jahre eine eingespielte Elf zur WM zu schicken. Und jetzt sollte dazwischen noch ein weiterer Wettbewerb stattfinden?

Hinter dem Eisernen Vorhang war man hingegen euphorisiert von diesem Europapokal der Nationen, was nicht zuletzt an der Vorbildfunktion der Sowjetunion lag. Erst nach dem Tode Stalins 1953 hatte die UdSSR überhaupt damit begonnen, regelmäßig Länderspiele abzuhalten, nun stand man dem internationalen Sportverkehr aufgeschlossen gegenüber.

Beziehungspflege durch Fußball

Die anderen Nationen des Ostblocks folgten diesem Beispiel, darunter natürlich auch die DDR. Sie wurde von vielen Ländern immer noch nicht anerkannt und nutzte deswegen jede Gelegenheit, sich als souveräner Staat zu präsentieren. So ähnlich dachte man auch an einem Ort weiter südlich und am anderen Ende des politischen Spektrums, in Madrid.

In Spanien war weiter Hitler-Fan Francisco Franco an der Macht. Sein faschistisches Regime war nach dem Krieg außenpolitisch isoliert, doch nun witterte der Diktator Morgenluft. Im Kampf der Systeme gab er sich als Kommunistenhasser, was in den USA gut ankam. Auch dieser neue Fußballwettbewerb war eine Gelegenheit, Beziehungen zu pflegen? Vor allem da Spanien eine gute Mannschaft besaß.

So zuversichtlich war man in Madrid, die beiden Qualifikationsrunden (faktisch Achtel- und Viertelfinale) zu überstehen, dass man sich um die Austragung der Endrunde mit vier Teams im Juli 1960 bewarb. Prompt bekam man den Zuschlag.

Rasch wurde klar, wie viele Fallstricke die politische Lage dem Sport knüpfen konnte. So sollten die Basketballer von Real Madrid Mitte Juni 1958 das Halbfinale im Europacup bestreiten. Dazu mussten sie gegen den ASK Riga spielen, den sowjetischen Meister. Kurzerhand untersagte Franco den königlichen Korbjägern, kommunistischen Boden zu betreten.

Alfredo di Stefano (rechts) sah 1960 seine letzte Chance auf ein großes Turnier
Alfredo di Stefano (rechts) sah 1960 seine letzte Chance auf ein großes Turnier

© imago images

Alles Jammern half nichts: Die Spiele gingen kampflos an Riga. Spätestens da war klar, welches Szenario im neuen Fußballpokal der Länderteams drohen konnte. Und es kam, wie es kommen musste: Im Herbst 1959 setzte sich die UdSSR gegen Ungarn durch, dann schlug Spanien Polen, anschließend führte das Los die zwei Schwergewichte im Viertelfinale zusammen.

Wenige Tage später teilte der spanische Korrespondent des „Sport-Magazin“ seinen westdeutschen Lesern mit, welche Frage sich nun stellte: „Spaniens Polen-Sieg wirft ein diplomatisches Problem auf: Dürfen Kubala und Co. in Moskau spielen?“ Und nicht zuletzt: Würde Franco zulassen, dass beim Rückspiel auf spanischem Boden die sowjetische Hymne erklingt? Der Präsident des spanischen Fußballverbandes mit dem passenden Namen Alfonso de la Fuente Chaos versuchte, eine Lösung zu finden.

Er flog nach Paris, damals Sitz der Uefa, und schlug vor, die Spiele auf neutralem Boden abzuhalten. Doch die UdSSR lehnte das ab, und so ahnten die spanischen Spieler wohl schon, was ihnen blühte. „Wir hatten die Möglichkeit, bei einem großen Wettbewerb ins Finale zu kommen“, sagte Sevillas Nationalspieler Chus Pereda kurz vor seinem Tod im Jahre 2011 dem Autor Jimmy Burns. „Ein paar Minister haben Ja gesagt, ein paar andere Nein. Aber Franco war nun mal der Chef, und der sagte Nein.“

„Wir sind es leid, von Politik zu sprechen“

Während die spanische Presse den Skandal auf die hinteren Seiten verbannte, war Francos Unsportlichkeit für den Ostblock ein gefundenes Fressen. Unter der Überschrift „Franco im Abseits“ kommentierte die „Berliner Zeitung“ aus der DDR: „Wo sich aber nur das kleinste Fünkchen einer Verständigung mit sowjetischen Menschen am Horizont zeigt, da wirft sich Spaniens blutbefleckter Diktator Franco einem Stiere gleich, der das rote Tuch sieht, dazwischen.

Kurzfristig verbot er dem spanischen Fußballverband, gegen die Sowjetunion anzutreten, missachtete die Freude von Millionen Menschen auf das Spiel und beleidigte die europäische Fußballunion, die diese Begegnungen um den Europapokal ins Leben rief.“ Jene Uefa verdonnerte die Spanier zu einer Strafe von 2000 Schweizer Franken und drohte mit einer Sperre.

[Mit unserem EM-Spielplan 2021 als PDF wissen, wer wann, gegen wen spielt. Einfach hier ausdrucken oder downloaden.]

Kampflos erreichte also die UdSSR die Endrunde, die neu an Frankreich vergeben wurde, und holte dort den Pokal. Als ob das für die Spanier nicht schlimm genug gewesen wäre, geriet die folgende Uefa-Tagung, am 21. August in Rom, zur Demütigung. Als de la Fuente Chaos den Antrag stellte, die nächste Sitzung in Madrid abzuhalten, sagte der sowjetische Delegierte Valentin Granatkin: „Jeder muss sich darüber klar sein, dass dieser Kongress in keinem Fall in Spanien sein darf. Niemand bietet uns die Gewähr dafür, dass nicht noch einmal in letzter Stunde Schwierigkeiten auftauchen, die es den östlichen Ländern unmöglich machen, rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein.“

Nun platzte de la Fuente Chaos der Kragen. „Wir können es nicht widerspruchslos hinnehmen, dass uns eine Gastfreundschaft abgesprochen wird, die seit Jahrhunderten besteht!“, rief er. Wie ein Lehrer, der keifende Schüler trennt, griff Uefa-Präsident Ebbe Schwartz ein. „Wir sind es leid, von Politik zu sprechen und zu hören“, sagte der Däne. „Wir stimmen ab, und die Sache ist ausgestanden.“ Madrid verlor die Abstimmung gegen Sofia.

Endrunde in Spanien

Vielleicht war es die Heftigkeit der Reaktionen, die Franco bewog, vier Jahre später nachgiebiger zu sein. Da fand die Endrunde tatsächlich in Spanien statt (mit dem unvermeidlichen Endspiel Spanien gegen die UdSSR). Vergessen war die Affäre deswegen nicht. Kurz nach dem Finale 1964 erschien in der DDR ein Buch über die Anfänge des Wettbewerbs.

Damit jeder Leser verstand, wie schändlich Franco 1960 gehandelt hatte, schilderten die Autoren „eine entwürdigende Szene auf dem Madrider Flughafen“ kurz vor dem Abflug nach Moskau. Ja, sie wussten sogar, wo die Spieler gerade waren und was sie taten, als die Nachricht von der Absage kam: „Di Stéfano, Gento, Suarez, Martinez bildeten eine Runde, hockten wie all die anderen im ‚Espresso‘ und schlürften behaglich eine Tasse Kaffee.“ Wie es angeblich weiterging, weiß man ja, weil diese Version der Geschichte sich als sehr langlebig herausstellte.

Uli Hesse

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false