zum Hauptinhalt
Der Bahnradsprinter Esow Alban hat im Juniorenbereich schon mehrere WM-Medaillen gewonnen.

© promo

Sechstagerennen in Berlin: Ein kleines indisches Wunder

Sechstagerennen-Teilnehmer Esow Alban ist einer der weltbesten Nachwuchsfahrer. Dabei trainiert er unter mitunter bizarren Bedingungen in Neu-Delhi.

Esow Alban, 1,62 Meter klein und ausgestattet mit Oberschenkeln dick wie Baumstämme, hat ein ausgesprochen sonniges Gemüt. Im Gespräch muss er immer wieder kichern. Nur bei einem Thema wird der Teenager ernst. Und das, obwohl er sich an die dunkelsten Stunden in der Geschichte seiner Heimat gar nicht erinnern kann. „Ich war erst drei Jahre alt“, erzählt er. „Ich kenne nur die vielen Geschichten von meinem Vater, der als Feuerwehrmann arbeitete.“

Es war im Dezember 2004, als Albans Vater schwer im Einsatz war. Meterhohe Wellen begruben am 26. Dezember die Andamaren und Nikobaren unter sich. Auf der kleinen Inselgruppe, rund 1400 Kilometer vom indischen Festland entfernt, starben in Folge der Tsunami-Katastrophe circa 7000 Menschen. Die Mangrovenwälder, die Infrastruktur – alles war fast komplett zerstört.

Es ist dies ein bedeutender Teil der erstaunlichen Geschichte des Bahnradsprinters Esow Alban. Denn sie erzählt davon, dass selbst unter ungünstigsten Bedingungen vieles möglich ist im Sport. Ein Franke kann die Liga in der ur-amerikanischen Sportart Basketball dominieren, die Fußballer einer kleinen Insel können jene des Fußball-Mutterlandes aus einer Europameisterschaft werfen und ein Inder von einer gebeutelten Inselgruppe kann es mit der Weltelite im Bahnradsprint aufnehmen.

Der 18 Jahre alte Alban startet am Donnerstag bei der 109. Auflage des Berliner Sechstagerennens. Er ist neben Nien Hsing Hsieh aus Taiwan der größte Exot bei der traditionellen Veranstaltung. Geographisch und auch gefühlt könnte dabei kaum etwas weiter auseinanderliegen als die heißen Andamaren und Nikobaren und das Sechstagerennen im Berliner Winter.

Aber natürlich verleihen gerade diese Fahrer der traditionsbehafteten aber eben auch leicht angestaubten Veranstaltung einen neuen Anstrich. Von einem „positiven Trend“ spricht diesbezüglich Dieter Stein, der Sportliche Leiter des Sechstagerennens. Stein war zu DDR-Zeiten selbst ein Top-Fahrer. Er weiß, dass besonders Alban nicht nur wegen seiner Herkunft interessant ist für das Sechstagerennen.

Früh morgens jagt Alban mit einem Höllentempo druch die Straßen

Für seine 18 Jahre nämlich kann Alban verdammt kräftig in die Pedale treten. 2018 holte er bei der Junioren-WM die Silbermedaille im Keirin, es war dies die erste WM-Medaille überhaupt für Indien bei einer Rad-Weltmeisterschaft. Ein Jahr später gewann er mit der Mannschaft sogar Gold.

Alban ist eine Ausnahmeerscheinung in seinem Land, in Indien nennen sie ihn den „Wunder-Jungen“. Er ist ein bisschen das, was Boris Becker für das deutsche Tennis war. Seit Albans Erfolgen wird der Bahnradsport in seinem Land immer beliebter.

Alban erzählt, dass ihn der Sport immer mehr interessiert habe als die Schule. „Ich habe als Kind immer nur gespielt, besonders Fußball.“ Seine sportaffinen Eltern förderten den Jungen. „Allerdings nicht speziell im Radfahren. Als Sportart war das bei uns nicht so verbreitet“, sagt Alban.

Zumal die Straßen dort nach dem Tsunami noch in schlechtem Zustand gewesen seien. Doch irgendwann landete er beim Radsport. „Weil er einfach ein unglaubliches Talent dafür hat“, sagt Rajendra Sharma.

Der 52-Jährige holte Alban vor fünf Jahren an die National Cycling Academy in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi und trainiert ihn und weitere Talente – unter teilweise bizarren Bedingungen. In der 20-Millionen-Einwohnerstadt herrscht täglich Verkehrsinfarkt. Überladene Autos, Rikschas und Motorroller kämpfen einen hässlichen Kampf ums Vorwärtskommen.

Nur in den ganz frühen Morgenstunden sind die Straßen einigermaßen leer. „Das sind die Stunden, in denen wir auf den öffentlichen Straßen trainieren“, erzählt Sharma. Von 4 bis 8 Uhr morgens jagen Alban und seine Mitstreiter mit einem Höllentempo die Straßen hinunter – ein sehr gefährliches Unterfangen, das bislang noch gutgegangen ist.

Doch allein mit dem halsbrecherischen Training auf Neu-Delhis Straßen wäre aus Alban nicht eines der größten Talente überhaupt im Bahnradsport geworden. Neben der großen Begabung gibt es noch eine andere Komponente, weshalb Alban inzwischen bei Rad-Großveranstaltungen an den Start gibt: Seit drei Jahren trainiert eine indische Delegation mit Nachwuchstalenten wie Alban im Sommer jeweils mehrere Wochen an den Olympiastützpunkten in Cottbus und Frankfurt/Oder. „Deutschland ist inzwischen eine zweite Heimat für mich geworden“, sagt Esow Alban.

In Berlin freut sich Alban auf das laute Publikum

Verdanken kann er das auch Detlef Uibel. Der deutsche Rad-Bundestrainer war vor wenigen Jahren von Albans Trainer Sharma bei einem Weltcup in Los Angeles gefragt worden, ob er ihm und seiner Mannschaft nicht helfen könne.

Uibel vermittelte den indischen Fahrern sowohl das Sommer-Trainingslager in Deutschland wie auch das nötige Knowhow. „Zu Beginn haben wir Trainingspläne zusammen ausgearbeitet“, erzählt Uibel. „Beim letzten Mal war das schon nicht mehr nötig.“

Zwar steckt Indien im Bahnradsport immer noch in den Anfängen. Aber die Entwicklung ist, wie Uibel anmerkt, „rasend schnell“. Dabei ist Indien eines der wenigen asiatischen Länder, das im Radsport noch hinterherhinkt. Seit den Commonwealth-Spielen im Jahr 2010 in Neu-Delhi steckt das Land jedoch mehr und mehr Geld in den Radsport.

Davon profitiert natürlich auch Esow Alban, der unter seinen Teamkollegen deutlich heraussticht. „Seine Kraftwerte sind mir natürlich aufgefallen. Er ist ein erstaunlicher Fahrer“, sagt Uibel.

Für das Sechstagerennen hat sich Alban nichts Konkretes vorgenommen. Und ziemlich sicher werden ihn die erfahrenen Top-Fahrer wie zum Beispiel der Deutsche Maximilian Levy noch in Schach halten. Er freue sich einfach auf das laute Publikum, erzählt Alban. Und dass er sein Motto beherzigen wolle: „Nie aufgeben.“

Damit hat er es schon ziemlich weit gebracht für einen Jungen aus einer Inselgruppe, die bis vor kurzem so überhaupt nichts mit dem Radsport gemein hatte.

Was man zum Sechstagerennen wissen muss: Das Sechstagerennen in Berlin geht am Donnerstag in seine 109. Auflage. Es findet im Velodrom in Prenzlauer Berg statt (ab 17 Uhr). Tickets gibt es ab 20,55 Euro. Den Startschuss am Donnerstag gibt der frühere Top-Fahrer Marcel Kittel. In der Königsdisziplin, dem Madison, sind der Berliner Theo Reinhardt und Franzose Morgan Kneisky die großen Favoriten. Härteste Konkurrenten dürften der Niederländer Wim Stroetinga sowie der Belgier Moreno de Pauw werden. Beim Omnium der Frauen (Donnerstag bis Sonnabend) dürften die Britin Katie Archibald und die Niederländerin Kirsten Wild den Sieg unter sich ausmachen. Bei den Sprintern der Männer hat Maximilian Levy die besten Chancen. Beim Frauen-Sprint gibt Olympiasiegerin Miriam Welte ihren Abschied. Und: Der halbe Liter Bier kostet, wie im letzten Jahr, fünf Euro.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false