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Volle Konzentration. In Armeniens Schachakademie in der Hauptstadt Eriwan trainieren die Kinder dreimal pro Woche – die Jüngsten sind fünf Jahre alt.

© Laurenz Schneider

Schach-Großmacht Armenien: Die Kinder sollen zu klügeren Menschen werden

In Armenien ist Schach verpflichtendes Schulfach. Der Großmeister, der die nationale Akademie leitet, findet: Männer "denken stärker" als Frauen.

Oleg stellt die Figuren so auf, wie es im Buch steht. Läufer auf C4, Dame auf E2, die Springer sind schon draußen. Auf dem Schachfeld entsteht eine neue Situation. Jetzt muss der Siebenjährige zeigen, dass er mit seinen restlichen Figuren noch gewinnen kann. Es ist eine Übungsaufgabe: er gegen einen imaginären Gegner. Der Junge greift zum Läufer auf C4, will ihn auf E6 setzen und die schwarze Dame schlagen. „Nicht anfassen! Erst denken!“, ruft sein Lehrer. Sofort zieht Oleg seine Hand zurück. Er setzt stattdessen die weiße Dame drei Felder nach vorne – ein Fehler. Sofort kommt der Lehrer zu Olegs Tisch. Seine große Hand flattert über das Schachbrett, eine Figur nach der anderen fliegt vom Feld. Dann schlägt er den König und geht zurück zu seinem Pult. Oleg stellt die Figuren wieder in die Ausgangsformation.

Olegs Lehrer heißt Smbat Lputjan. Er ist ein strenger Lehrer. Aber für Lputjan gibt es dazu keine Alternative. Denn was er unterrichtet, ist für ihn und seine Landsleute kein übliches Brettspiel: Schach ist in Armenien Nationalsport – seit 2011 ist es sogar ein verpflichtendes Schulfach. Und Lputjan ist einer der wichtigsten Lehrmeister dafür, er leitet die nationale Schachakademie in der Hauptstadt Eriwan.

Armenien war weltweit das erste Land, das Schach in Grundschulen einführte. Jedes Kind hier weiß, wie es den König Schach stellt. Während sich die armenische Fußball-Nationalmannschaft noch nie für eine WM qualifizieren konnte und im Oktober sogar 0:1 gegen Gibraltar verlor, gehören die Armenier zur Elite des Schachsports. Doch es geht nicht nur um internationale Titel für das südkaukasische Land, das früher zur Sowjetunion gehörte: Die armenischen Kinder sollen durch Schach zu klügeren Menschen werden.

Garry Kasparow hat eine andere Meinung

Vom gesellschaftlichen Sinn des Schachspiels ist Lputjan überzeugt. Er war früher ein erfolgreicher Spieler, gewann mit Armenien die Schach-Olympiade. Stolz trägt er den Titel „Großmeister“, den der Weltschachbund als höchste Auszeichnung verleiht. Es ist vor allem Lputjans Verdienst, dass Schach als Schulfach eingeführt wurde. Vor 15 Jahren gründete er die Akademie, mittlerweile gibt es 50 weitere Standorte im Land. Lputjan will so gezielt Talente fördern, vor allem Jungen. Er vertritt die Meinung, dass Männer aus biologischen Gründen besser Schach spielen als Frauen. „Weil sie stärker denken“, sagt Lputjan. Andere berühmte Großmeister wie Garry Kasparow widersprechen ihm deutlich, aber Lputjan ist von seiner These fest überzeugt.

Der Hauptsitz der Akademie liegt am Stadtrand Eriwans. Eltern bringen ihre Kinder dreimal pro Woche vorbei. Schon ab fünf Jahren können Kinder am kostenlosen Training teilnehmen, müssen sich aber jedes Jahr aufs Neue beweisen. Kleine steinerne Schachfiguren blicken von der Mauer am Eingang, im Garten sind Steinplatten im Schachbrett-Muster angeordnet. In einem großen Saal im ersten Stock sitzen mehr als einhundert Kinder und spielen ein Turnier. Niemand spricht, ab und zu durchbricht das Knistern einer Plastikflasche die Stille.

Eine Etage darunter sitzt Lputjan in seinem Büro. Auf der linken Seite steht ein edler Schachtisch, gegenüber ein hohes Regal mit Büchern über verschiedene Taktiken des Spiels. „Schach ist ein Geschenk für Kinder“, sagt Lputjan, „es hilft, das Denken zu lernen.“ Der 60-Jährige ist ein ernster Mann. Er lächelt selten, und es wirkt, als würde er sich jedes Wort genau überlegen. Er zählt die Gründe auf, warum das Schachspiel für Kinder so wichtig ist. Es sei ein faires Spiel, das niemals zu Ungerechtigkeit führe. Außerdem würden die Kinder früh lernen, eigene Entscheidungen zu treffen. Eltern müssen während des Unterrichts auf dem Flur warten. „Schach stärkt die Konzentrationsfähigkeit“, fügt Lputjan an. Die Kinder könnten üben, rational auf neue Situationen zu reagieren.

Die Regierung fördert die Akademie

Aufbruchsstimmung: Auf dem Platz der Republik in Eriwan jubeln junge Menschen, nachdem Nikol Paschinjan zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.
Aufbruchsstimmung: Auf dem Platz der Republik in Eriwan jubeln junge Menschen, nachdem Nikol Paschinjan zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.

© Stavrakis/dpa

Nicht nur deshalb sei Schach als Schulfach so wichtig: Es helfe den Kindern automatisch bei anderen Fächern und im weiteren Leben, sagt Lputjan. Zwar bestätigen Wissenschaftler die Vorteile von Schach für kognitive Fähigkeiten, betonen aber auch die größere Bedeutung von physischem Sport für die Entwicklung von Kindern.

Für viele Armenier sind die Prioritäten beim Sport aber eben anders – und Schach ist fest in der Gesellschaft verankert. Immer wieder sind in den Straßen Eriwans junge und ältere Menschen zu sehen, die schweigend neben einem Schachbrett stehen. Das liegt besonders an Tigran Petrosjan, einem der Nationalhelden des Landes. Der sowjetische Großmeister armenischer Herkunft war von 1963 bis 1969 Schach-Weltmeister und entfachte bei vielen seiner Landsleute eine Euphorie für das Spiel. Sein Porträt ziert eine Geldnote, und eine große Statue von ihm steht in der Hauptstadt.

Der aktuelle Star heißt Lewon Aronjan. Natürlich ist auch er ein Großmeister. Aronjan liegt auf Platz zehn der Weltrangliste. Erwähnt man in einem armenischen Taxi, dass man aus Deutschland kommt, fällt sofort sein Name. Denn der 36-Jährige war für sechs Monate Gastspieler des Deutschen Schachbundes, lebte länger im Berliner Stadtteil Hohenschönhausen. 2011 trug er maßgeblich dazu bei, dass Armenien die Mannschafts-WM gewann. Fast hätte Aronjan im November gegen Magnus Carlsen um den WM-Titel im Einzel gespielt: Doch beim Herausfordererturnier in Berlin konnte er sich nicht gegen Fabiano Caruana durchsetzen. So trat der US-Amerikaner gegen Carlsen an – und verlor erst im Tiebreak.

Unterstützung von höchster politischer Stelle

In Armenien wird Schach von höchster politischer Stelle unterstützt. Der frühere Staatspräsident Sersch Sargsjan ist selber leidenschaftlicher Spieler und seit 2004 Vorsitzender des Armenischen Schachverbandes. Dieses Amt hat er noch immer, auch wenn er im Zuge der sogenannten Samtenen Revolution im April aus der armenischen Politik zurückgetreten ist. Hunderttausende Armenier hatten auf den Straßen gegen Sargsjan protestiert.

Karos auch auf dem Sakko. Smbat Lputjan leitet Armeniens Schachakademie.
Karos auch auf dem Sakko. Smbat Lputjan leitet Armeniens Schachakademie.

© Laurenz Schneider

Vor allem junge Menschen beteiligten sich an den Demonstrationen. Ihre Perspektiven sind besonders schlecht: Die Arbeitslosenquote von Jugendlichen lag im vergangenen Jahr bei fast 40 Prozent. Doch dies ist nicht das einzige Problem im kleinen Armenien, wo etwa drei Millionen Menschen leben. Das Land befindet sich mit Aserbaidschan in einem militärischen Konflikt um die Region Berg-Karabach, die Grenzen zur verfeindeten Türkei sind geschlossen. Noch immer bestreitet die Türkei, dass es 1915 einen Völkermord der Osmanen an den Armeniern gegeben hat. Außerdem ist die Korruption im Land sehr hoch. Bei den Demonstrationen im April warfen die Menschen Sargsjan vor, besonders für die Korruption verantwortlich zu sein.

Über dem Schachtisch in Lputjans Büro hängt ein großes Ölgemälde von Sargsjan. „Die Regierung hat die Akademie immer gefördert“, sagt er. Lputjan vermeidet ein klares Statement zu den politischen Ereignissen in seinem Land. Nur so viel sagt er: „Auch die klügsten Schachspieler scheitern manchmal, auch sie machen Fehler.“

Pilotprojekt in Bremen

An diesem Sonntag haben die Armenier ein neues Parlament gewählt. Der Oppositionelle Nikol Paschinjan erzielte die absolute Mehrheit. Und zu Lputjans Erleichterung hat der neue stellvertretende Bildungsminister schon gesagt: „Wir wollen viel verändern, aber Schach wird auch in Zukunft gefördert.“

Wenn es nach Lputjan geht, ist der Siegeszug des Schach sowieso nicht mehr aufzuhalten: In 20 Jahren sollten alle Kinder auf der Welt Schach spielen können, sagt er. „Ich träume nicht davon. Ich sehe einen Weg.“ Mitte November wurde Lputjan zum Vorsitzenden der Bildungskommission des Weltschachbunds gewählt. Er will in dieser Funktion den nationalen Verbänden helfen, für Schach in den Schulen zu werben. Kollegen aus der Türkei, Georgien und Usbekistan hätten sich schon interessiert gezeigt, sagt Lputjan.

Auch in Deutschland gibt es immer mehr Schulen, an denen Kinder Schachunterricht wählen können. So nehmen seit Sommer dieses Jahres mehr als 1500 Grundschüler in Bremen an einem Pilotprojekt teil. Initiiert wurde das vom ehemaligen Fußballspieler Marco Bode, der seit seiner Kindheit Schach spielt.

Den Bremer Kindern hat der sieben Jahre alte Oleg einiges voraus. Er sitzt vor dem Schachbrett und denkt darüber nach, wie sein imaginärer Gegner nun spielen würde. Denn sein Ziel an diesem Nachmittag in Eriwan bleibt es, den schwarzen König zu schlagen.

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