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Beim 4:2-Sieg gegen Portugal war Robin Gosens Matchwinner.

© imago images/Jan Huebner

Robin Gosens ist erfrischend anders: Ein echter Glücksfall für die deutsche Nationalmannschaft

Beim Spiel gegen Portugal war Gosens Matchwinner. Sein Werdegang ist ungewöhnlich, aber Teil seiner Persönlichkeit und die tut dem Team gut - in jeder Hinsicht.

Dass es an diesem Abend keine gute Idee war, sich mit Robin Gosens anzulegen, das hat am Ende auch Thomas Müller feststellen müssen. Der Münchner, Großmeister des gesprochenen Wortes, erlaubte sich gleich nach dem rauschhaften EM-Sieg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen den Titelverteidiger Portugal einen kleinen Scherz auf Kosten seines Kollegen Gosens. Wie es denn sein könne, dass er schon nach 60 Minuten ausgewechselt werden müsse, wollte Müller von ihm wissen.

Robin Gosens tat auch in dieser Situation das, was er schon den ganzen Abend über getan hatte: Er meisterte die Herausforderung mit Bravour. „Besser 60 gute Minuten als schlechte 90“, entgegnete er Müller. „Dann hat er gelacht. Damit ist das Thema durch.“

Das war natürlich eine böse Lüge von Robin Gosens. Zum einen hatte Thomas Müller ganz sicher keine 90 schlechte Minuten hinter sich, sondern eher 90 ziemlich gute. Selbst wenn am Ende keine Torbeteiligung für den Rückkehrer registriert worden war, hatte er bei einigen Treffern seine Füße im Spiel gehabt, vor dem 3:1 von Kai Havertz zum Beispiel, als er den Pass auf den Vorlagengeber Gosens gespielt hatte.

Noch weniger stimmte es, dass Gosens nach 60 guten Minuten um seine Auswechslung gebeten hatte. Es waren 60 sehr gute gewesen. Zwei der vier deutschen Tore hatte er vorbereitet, das letzte zum zwischenzeitlichen 4:1 erzielte er dann selbst mit einem wuchtigen Kopfball. „Wenn man in so einem wichtigen Spiel eine Hütte machen darf, dann ist das noch mal Next Level“, sagte er anschließend. „Das ist magisch.“

Verschlungener Karriereweg

Zum Dank bekam er nach dem 4:2-Sieg gegen Portugal eine sperrige Trophäe als „Star of the Match“ überreicht. Die ganz Großen des Fußballs nehmen diese persönlichen Auszeichnungen in der Regel mit maximalem Gleichmut entgegen, wahrscheinlich landen sie später in irgendeinem Karton im Keller. Bei Robin Gosens ist das anders. Ob er die jetzt mitnehmen dürfe, fragte er.

Kurz vor der EM hat Gosens im Alter von 26 Jahren seine Autobiografie veröffentlicht. „Träumen lohnt sich“, heißt das Buch. Und dass der Titel ganz gut gewählt ist, hat sich am Samstagabend in München gezeigt. „Es ist ein Traum in Erfüllung gegangen“, sagte er.

Dass er der Nationalmannschaft angehört, bei der EM spielt und plötzlich ein Star ist: „So richtig real fühlt es sich immer noch nicht an“, sagt Gosens. Ein Probetraining bei Borussia Dortmund, in dem er krachend scheiterte, war in seiner gesamten Jugendzeit der einzige Kontakt zum professionellen Fußball. „Ich hatte eigentlich immer den Traum, Profi zu werden. Aber wenn du 18 bist, immer noch auf dem Dorf kickst, wird’s natürlich schwierig“, hat er einmal erzählt.

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Im Vergleich zu den stromlinienförmigen Karrieren seiner neuen Kollegen aus der Nationalmannschaft war Gosens Weg eher verschlungen. Als er in der A-Jugend des VfL Rhede doch noch vom FC Arnheim entdeckt wurde, hatte er seine Bewerbung für eine Ausbildung bei der Polizei schon abgeschickt.

Nach Stationen in der zweiten holländischen Liga und der Ehrendivision landete er schließlich bei Atalanta Bergamo in der Serie A. Als Exot fühle er sich deswegen im Kreis der Nationalmannschaft nicht, sagt Gosens, „ganz und gar nicht“. Aber sein ungewöhnlicher Werdegang sei natürlich „ein Teil meiner Persönlichkeit“.

Eine längst verloren gegangene Leichtigkeit

Es ist eine Persönlichkeit, die der Nationalmannschaft in jeder Hinsicht guttut. Gosens, der Spätberufene, hat sich längst als echter Glücksfall für das Team erwiesen. Sowohl sportlich als auch menschlich. Er ist erfrischend anders, in seinem offensiven Spiel als Außenverteidiger genauso wie in seinem Auftreten neben dem Platz. „Ich versuche durch meine Emotionalität zu begeistern“, sagte er nach dem Spiel gegen Portugal. „Das hat ganz gut geklappt.“

Gerade in einer Zeit, in der die Stimmung rund um das deutsche Team und den ewigen Bundestrainer Joachim Löw mehr und mehr als bleiern empfunden wurde, strahlt Gosens eine längst verloren gegangene Leichtigkeit aus. Eine echte Begeisterung für die Nationalmannschaft, die aus einer fernen Zeit zu stammen scheint. „Du kannst mich gerne mal zwicken, selbst dann glaub’ ich nicht dran“, hat er am Samstag im Interview mit der ARD über seinen Auftritt gegen die Portugiesen gesagt. „Das ist geil. Da geht mir wiederum einer ab.“

Das vierte Tor erzielte Gosens mit einem wuchtigen Kopfball.
Das vierte Tor erzielte Gosens mit einem wuchtigen Kopfball.

© imago images/Schüler

In der Vorbereitung in Seefeld ist Gosens in einer Pressekonferenz gefragt worden, ob er eigentlich schon mal auf seine Ähnlichkeit zu Lukas Podolski angesprochen worden sei. Gosens musste ein bisschen schmunzeln, bevor er erzählte, dass ihm das in der Tat schon passiert sei, aber: „Ehrlich gesagt, sehe ich die Ähnlichkeit nicht so.“ Darüber lässt sich streiten. Aber abgesehen von den Äußerlichkeiten ist es vor allem Gosens’ ganz und gar ungekünstelte Art, die ein wenig an Podolski erinnert.

„Als Typ schätzen wir ihn sehr“, sagt Joachim Löw. „Er ist sehr, sehr offen, aktiv in der Kommunikation, klar im Kopf und sehr geradlinig. Er ist ein Typ wie sein Spiel. So wie er spielt, mit unbändigem Einsatz, so kämpft er auch für Dinge, die ihm wichtig sind.“

Die Ausrichtung kam ihm entgegen

Gosens hat einen fast unmöglichen Höhenflug hinter sich, mit Atalanta bis in die Champions League und mit der Nationalmannschaft zur Europameisterschaft. Trotzdem hat er die Bodenhaftung nicht verloren.

Er ist alles andere als ein tumber Haudrauf, der immer einen lustigen Spruch auf Lager hat. In Bergamo hat er im Frühjahr 2020 die dramatischen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie aus nächster Nähe miterlebt. Das hat ihn geprägt. Nebenher studiert er Psychologie. „Mir hilft das, mich zu reflektieren und meine eigene mentale Balance zu finden“, sagt er.

Auf dem Platz fehlt ihm diese Balance manchmal, aber gerade das hat der Nationalmannschaft gegen die Portugiesen extrem geholfen. Nach dem trägen Auftakt gegen die Franzosen ging es im zweiten Gruppenspiel um eine deutlich offensivere Haltung. Gosens und Joshua Kimmich, sein Pendant auf der rechten Seite, sollten daher fast wie Außenstürmer spielen, auf einer Höhe mit der offensiven Dreierreihe.

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Gosens kam diese Ausrichtung erkennbar entgegen. „Für mich ist es ein geiles System“, sagte er. Schon nach fünf Minuten erzielte der Linksverteidiger gegen die Portugiesen in seinem neunten Länderspiel das vermeintliche 1:0. Doch der Treffer zählte nicht, weil Serge Gnabry zuvor knapp im Abseits gestanden hatte. Aber weder das noch die Führung der Portugiesen quasi aus dem Nichts konnten die deutsche Mannschaft an diesem Abend nachhaltig irritieren. Auch Gosens nicht.

„Er ist ein total offener positiver Typ, der wahnsinnig viel Energie reinbringt“, sagte Innenverteidiger Matthias Ginter.

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Das Spiel des Lebens noch vor sich

Für Gosens erwies es sich als Segen, dass der Bundestrainer an seinem viel gescholtenen 3-4-3-System festhielt. Vor einer Dreierkette hat Gosens als Außenverteidiger mehr Freiheiten nach vorne, andererseits kann er näher an seinem Gegenspieler bleiben, weil er nicht mit der Viererkette in die Mitte verschieben muss. Seine Stärken hat Gosens erkennbar im Spiel nach vorne. Er ist dynamisch und denkt vor allem offensiv. Für Bergamo erzielte er in der abgelaufenen Spielzeit der Serie A elf Tore, sechs Treffer bereitete er vor. „Dass er Torgefahr ausstrahlt, ist das, was wir brauchen“, sagte Löw.

Robin Gosens ist in Emmerich am Rhein geboren, und weil sein Vater Holländer ist, besitzt er neben der deutschen auch die holländische Staatsangehörigkeit. Einen solchen Fall hat es in der langen Geschichte des deutschen Fußballs schon einmal gegeben. Auch Rainer Bonhof ist in Emmerich geboren; auch Bonhof war durch seinen Vater Holländer, hat sich aber dazu entschieden, für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen. Im Juli 1974, im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft, bereitete Bonhof den Siegtreffer für die Deutschen vor. Gegen Holland.

Vielleicht steht Robin Gosens das bei dieser Europameisterschaft ja auch noch bevor: ein Spiel gegen sein zweites Vaterland. Joachim Löw hat nach seinem Auftritt gegen Portugal gesagt: „Das Spiel des Lebens hat er vielleicht noch vor sich.“

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