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Frank Stäbler sehnt sich nach einem Gegner im Ring.

© imago images/Kadir Caliskan

Ringen um Vollkontakt in der Coronavirus-Krise: Kämpfer ohne Gegner

Während wieder Fußball gespielt wird, dürfen Kampfsportarten hierzulande weiter kaum ausgeübt werden. Athleten und Verbände wollen das nicht länger hinnehmen.

Wenn Frank Stäbler den alten Hühnerstall seines Opas betritt, dann juckt es ihn schon manchmal. Aus dem Hühnerstall ist inzwischen eine Trainingsstätte geworden, und Stäbler würde sich gerne mal einen Sparringspartner auf dem Ringboden zurechtlegen und diesen nach allen Regeln der Kunst bearbeiten. Was Ringer eben am liebsten so tun.

Doch derzeit kann er allenfalls die leblosen Ringerpuppen auf die Matten schleudern. Das ist auf Dauer vielleicht etwas für Dummy-Fetischisten, nicht aber für Stäbler, den dreimaligen Weltmeister im griechisch-römischen Stil. „Das Coronavirus ist für Vollkontaktsportarten wie Ringen eine Katastrophe“, sagt er. „Wir werden wohl mit die Letzten sein, die wieder zur Normalität zurückkehren.“

Der 30-Jährige will nicht zu viel jammern. Er hat es mit dem umfunktionierten Hühnerstall besser als fast alle anderen deutschen Ringer, für die die Türen zu den Trainingshallen in den vergangenen Wochen und Monaten größtenteils verschlossen waren. Aber das Ringen ist nun einmal der zentrale Lebensinhalt von Stäbler, und sein größter Traum ist der Gewinn einer Medaille bei den Olympischen Spielen in Tokio nächstes Jahr. Deswegen wünscht er sich, dass es schnell wieder losgeht mit dem normalen Trainingsbetrieb.

Aber das ist im Moment noch ein frommer Wunsch. Während schon wieder Bundesligafußball gespielt wird und zum Beispiel auch der Ligabetrieb im Basketball in wenigen Tagen starten soll, liegen Wettkämpfe in Kampfsportarten wie Ringen, Boxen, Judo, Karate oder Kickboxen in Deutschland in weiter Ferne. Der Grund ist naheliegend: Die Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus ist in diesen Sportarten besonders groß.

Beim Ringen etwa drücken die Athleten während eines Kampfes im Durchschnitt rund sechs Minuten ihre Köpfe und Körper gegeneinander. Beim Boxen spritzt über viele Runden der Schweiß; und das Klammern, bei dem sich die erschöpften Kämpfer um den Hals fallen und sich den Atem tief aus ihren Lungen gegenseitig ins Gesicht blasen, gehört zur Sportart dazu.

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Aus der Perspektive der Infektiologie sollte es streng genommen bis zur erhofften Erlösung aus der Coronavirus-Pandemie durch einen Impfstoff keinen Kampfsport Mann gegen Mann oder Frau gegen Frau mehr geben. Aber das ist nur eine Perspektive. Die Kampfsportler in Deutschland sehen das anders. Sie sind mit Blick auf andere Sportarten und andere Länder wütend, dass es nicht schnell genug vorangeht. Für sie ist jeder Tag, an dem nicht wieder optimal trainiert werden kann, ein verlorener Tag.

So kann der Ringer Stäbler im Moment zwar individuelles Kraft- und Fitnesstraining machen, aber nicht viel mehr. „Ringen hat nicht nur mit Kraft zu tun“, erklärt er. Auf die Feinmotorik komme es an, auf die Reflexe. Darauf, schnell den richtigen Griff zu finden. „Wenn man das Monate nicht mehr gemacht hat, dauert es auch Monate, bis man es wieder richtig gut beherrscht.“

Das Problem für ihn und seine Sportskameraden ist, dass in den nächsten Monaten zwar keine Wettkämpfe vorgesehen sind, der Ringer-Weltverband UWW aber mit der Austragung einer Weltmeisterschaft Ende des Jahres liebäugelt. „Dann dürften wir nicht viel Zeit verlieren“, sagt Stäbler.

Volle Breitseite: Bis die Berliner Boxerin Zeina Nassar (links) wieder mit ihrer Trainingspartnerin Nina Meinke trainieren darf, wird es wohl noch dauern.
Volle Breitseite: Bis die Berliner Boxerin Zeina Nassar (links) wieder mit ihrer Trainingspartnerin Nina Meinke trainieren darf, wird es wohl noch dauern.

© Immanuel Bänsch/dpa

Ähnlich ist die Lage beim Boxen. Einzeltraining und – je nach Bundesland – Training in Kleinstgruppen sind möglich, nicht aber der direkte Schlagabtausch im Ring. Das ist für die Sportler ein Problem, weil es auch im Boxen Ende des Jahres wieder mit Wettkämpfen weitergehen könnte und in anderen Ländern das klassische Boxtraining im Ring teilweise wieder erlaubt ist. Die Verantwortlichen des Deutschen Boxsport-Verbandes (DBV) drängen daher auf eine Lockerung der Einschränkungen für den Boxsport hierzulande.

„Wir wollen nicht zu lange warten. Wer schläft, der wird bestraft“, sagt DBV-Sportdirektor Michael Müller und versieht seine Ankündigung mit einer kleinen Drohung. „Wenn wir mit unseren Spitzenkadern bis Ende Juli in Deutschland nicht vernünftig trainieren können, werden wir unsere Vorbereitung ins Ausland, vermutlich nach Österreich, verlagern.“ Müller sieht überhaupt kein Problem darin. Schließlich könne der komplette Fußball-Profibetrieb durchgeführt werden. „Dann sollte es kein Problem sein, wenn der Deutsche Boxsport-Verband mit 30 Sportlern nach Österreich reist.“

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In vielen Kreisen kommt das Drängeln von Seiten des Sports nicht gut an. Es gebe im Moment Wichtigeres als Sport, lautet das Argument. Und dass die Gesundheit vorgehe. Doch auch das ist eine Frage der Perspektive. Für Außenstehende gehen die Bedenken, den Sportbetrieb wieder aufzunehmen, leicht von den Lippen. Für die direkt Betroffenen sieht das anders aus. Für sie gibt es kaum etwas Wichtigeres als den Sport, weil er ihren Lebensmittelpunkt darstellt. Das zeigt das Beispiel Frank Stäbler.

Der Schwabe begann bereits mit fünf Jahren mit dem Ringen. Stäbler gewann sämtliche Junioren- Meisterschaften in Deutschland, ehe er bei den Senioren eine große Karriere hinlegte und unter anderem drei Weltmeistertitel in jeweils unterschiedlichen Gewichtsklassen holte. Das hat vor ihm noch kein anderer Ringer geschafft. Stäbler ist ein Ausnahmesportler, doch er weiß auch: Um ein ganz Großer zu werden, muss er auch bei Olympischen Spielen etwas reißen.

Hier fehlt ihm noch eine Medaille. Bislang kam immer etwas dazwischen. 2016 plagte er sich mit vielen Verletzungen durch die Saison, weshalb bei den Spielen in Rio de Janeiro nur ein siebter Platz für ihn heraussprang. Olympia 2020 in Tokio stand unter schlechten Vorzeichen. Seine gewohnte Gewichtsklasse von 72 Kilogramm war aus dem Programm genommen worden.

Siegertyp: Frank Stäbler gewann bislang drei WM-Titel.
Siegertyp: Frank Stäbler gewann bislang drei WM-Titel.

© Aleksandar Djorovic/Imago

Stäbler musste viel schwitzen, „abkochen“, wie die Sportler sagen, auf 67 Kilogramm. Er quälte sich, aber dann kam das Coronavirus, und dann die Verlegung der Spiele. Stäbler spielte mit dem Gedanken, den Sport hinzuschmeißen. Heute sagt er: „Der Traum vom Olympiasieg lebt weiter, auch wenn ich dafür noch einmal durch die Hölle gehen muss.“

Stäbler macht dabei nicht den Eindruck, als würde er im Hinblick auf sein großes Ziel im nächsten Jahr wegen der Coronavirus-Krise allzu große Kompromisse eingehen wollen. Auch er blickt schon ein bisschen in die Ferne: „Sollte es in Deutschland mit den Lockerungen für uns Ringer noch sehr lange dauern, also über den Sommer hinaus, sind sicher auch Trainingslager in anderen Ländern Gedankenspiele.“

Dass sich deutsche Kampfsportler im Ausland auf Wettkämpfe vorbereiten, weil das hierzulande nicht erlaubt ist, ist ein spannendes und konfliktgeladenes Szenario. Würde die große Sportpolitik solche Alleingänge hinnehmen?

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Jannis Zamanduridis hofft, dass es nicht so weit kommt. Der Sportdirektor des Deutscher Ringer-Bundes (DRB) will die Ringerinnen und Ringer baldmöglichst wieder auf die Matten bekommen, „um den Anschluss zur Weltspitze nicht zu verlieren“. In Ungarn oder Litauen werde bereits in Quarantänezentren trainiert, erzählt er. „Wir planen, etwas Ähnliches in Baden-Württemberg einzurichten.“

Ein konkretes Konzept sei bereits in Arbeit und solle schnellstmöglich umgesetzt werden. Die Entscheidung über solche Projekte fällen letztlich aber andere. Und man merkt den Akteuren aus dem Sport an, dass sie sich mit ihrer Abhängigkeit von der großen Politik schwertun. Immer wieder kommt der Verweis auf den Profifußball, der bereits gespielt wird. Es werde mit zweierlei Maß gemessen, sagt etwa Frank Stäbler und vertritt damit die Meinung vieler Mitstreiter seiner Zunft. „Fußball, mit 22 Spielern plus Schiedsrichter, darf gespielt werden. Auch hier kommt es zu vielen direkten Zweikämpfen.“

Im Gespräch: DBV-Sportdirektor Michael Müller (links, hier mit Trainerlegende Ulli Wegner) hat eigene Pläne für den deutschen Boxsport.
Im Gespräch: DBV-Sportdirektor Michael Müller (links, hier mit Trainerlegende Ulli Wegner) hat eigene Pläne für den deutschen Boxsport.

© Viadata/Imago

Groß ist die Verärgerung bei den Kampfsportlern zudem über die länderspezifischen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. „Die jeweiligen Verordnungen für den Sport in den einzelnen Bundesländern unterscheiden sich stark, von bis fast alles erlaubt wie in Thüringen bis sehr streng in Bayern“, sagt Michael Müller vom Deutschen Boxsport-Verband. „Es ist ein Flickenteppich, was es für das Boxen nicht einfach macht“, schimpft er.

Das Problem des gelebten Föderalismus im Sport: In Zeiten wie diesen, mit unterschiedlichen Hygienemaßnahmen in den jeweiligen Bundesländern, wird die Chancengleichheit im Hinblick auch auf große innerdeutsche Sportveranstaltungen wie Deutsche Meisterschaften ausgehebelt. Gut möglich, dass der ein oder andere Athlet im nächsten Jahr die Olympischen Spiele verpassen wird, weil er das Pech hat, in Bayern oder wie Stäbler in Baden-Württemberg zu trainieren und nicht in Thüringen oder Sachsen.

Eine Besserung der Bedingungen scheint vorerst nicht in Sicht, zumal es bislang keine effektiven Schutzmaßnahmen in den Kontaktsportarten gibt. Das Tragen von FFP3-Schutzmasken dürfte für nahezu alle Kampfsportarten unpraktikabel sein. Keine Maske der Welt kann so fest am Hinterkopf angebracht sein, als dass sie den Kräften, die beim Ringen oder Boxen auf sie einwirken, widerstehen könnte. „Vielleicht“, sagt Frank Stäbler sarkastisch, „gäbe es die Möglichkeit, dass wir mit einem Puls von 140 und darunter kämpfen.“ Er hat vor Kurzem gelesen, dass dies im Sport eine Schutzmaßnahme gegen das Virus sein könne.

Ein Wettkämpfer wie er, der schon als kleiner Steppke seine Gegner mit wildem Herzschlag reihenweise auf den Mattenboden schleuderte, kann mit solchen Empfehlungen wenig anfangen. Frank Stäbler will mit Vollgas durch die Hölle gehen, um sich seinen Traum zu erfüllen. Was er dafür baldmöglichst braucht, sind Menschen aus Fleisch und Blut – keine Ringerpuppen.

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