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The Boys in the Boat. So lautet der englische Originaltitel von Daniel James Browns Buch über den Achter der USA, der 1936 in Berlin olympisches Gold gewann.

© promo/Seattle Post-Intelligencer

Rezension "Das Wunder von Berlin": Rudern - eine Symphonie der Bewegung

Rudern verlangt dem Sportler alles ab und gibt ihm genauso viel zurück. Jetzt führt ein Buch ins Innerste der traditionsreichen Sportart.

Der Rotsee von Luzern wird an diesem Wochenende wieder alle zu täuschen versuchen. Das kann er so gut wie keine andere Regattastrecke. Göttersee wird er auch genannt. In seiner Idylle mit den sanft ansteigenden Hügeln fällt etwa bei diesem Weltcup manchmal gar nicht auf, wie viel Qualen im Rudern stecken, wie viel Disziplin und wie viele Widersprüche.

Da passt schon eher der Lake Washington im Winter. Wenn die Ruderer ihre Hände nicht mehr spüren, weil die eisige Kälte sie umschlungen hat. Vor 80 Jahren haben dort Studenten darum gekämpft, für die USA als Achter bei den Olympischen Spielen starten zu dürfen. 1936 gewannen sie in Berlin als Außenseiter Gold. Über diesen Erfolg der Athleten aus Seattle hat der US-amerikanische Autor Daniel James Brown ein Buch geschrieben, „Das Wunder von Berlin“, kürzlich erschienen im Riemann-Verlag. Herausgekommen ist eine großartige Hommage ans Rudern. Es gibt wenige Bücher, die so tief ins Innere einer Sportart vordringen. Die nicht nur den Wesenskern einer Sportart ankratzen oder schüchtern betasten, sondern ihn einmal umrunden und entschlüsseln.

Vom Untertitel sollte man sich nicht irreleiten lassen: „Wie neun Ruderer die Nazis in die Knie zwangen“. Ja, es ist auch eine historische Erzählung. Und die Spiele 1936 bieten eine besondere Kulisse. 75 000 Zuschauer auf der Regattastrecke in Grünau, mehr hat es vorher und nachher nicht gegeben bei einem olympischen Ruderwettbewerb. Adolf Hitler auf der Tribüne. Und ein Hauptdarsteller, der erst von der eigenen Familie ausgeschlossen wurde, um am Ende doch noch anzukommen. Das alles macht das Buch spannender, aber entscheidend ist etwas anderes: Wie zeitlos Rudern in diesem Buch erscheint und wie sinnbildlich.

Das fängt damit an, wie aus acht Ruderern und einem Steuermann eine Mannschaft wächst. Sie beginnen als Konkurrenten, denn jeder kämpft um einen Platz, niemand kann sich sicher sein, nicht doch noch ausgebootet zu werden. Als die Besetzung dann steht, darf von jetzt auf gleich nichts mehr zwischen sie passen. Jetzt muss sich jeder auf den anderen verlassen können im Achter, dem Paradeboot des Sports.

Beim Rudern gibt es keine Alleingänge wie bei einem Mannschaftsspiel

Es gibt keine Alleingänge wie bei einem Mannschaftsspiel. Niemand kann sich am Ende für ein Tor feiern lassen oder einen gehaltenen Elfmeter. Und doch hat jeder im Boot Unterschiedliches geleistet. Abhängig auch davon, auf welcher Position er sitzt. „Gute Mannschaften sind ausgewogene Mischungen verschiedener Persönlichkeiten“, schreibt Brown. „Der eine führt den Angriff, der andere hat noch etwas in Reserve, einer provoziert den Kampf, ein anderer strebt nach Frieden, einer denkt alles durch, ein anderer greift blindlings durch. All das muss sich irgendwie mischen.“ Schön paradox ist dabei, dass der Kleinste den Ton angibt als Steuermann. Für Brown ist es „das vielleicht größte Missverhältnis im Sport überhaupt“.

Vor allem verlangt das Rudern Disziplin. Körperliche, weil ein Rennen laut Physiologen so anstrengend ist wie zwei Basketballspiele unmittelbar hintereinander. Nach 300 der 2000 Meter beginnen meist die Schmerzen und sie werden im Laufe eines Rennens immer heftiger. Aber wohl fast mehr noch mentale Disziplin. Pause auf dem Wasser? Gibt es nicht. Nach Browns Ansicht „verlangt und belohnt kein anderer Sport eine so völlige Selbstaufgabe“.

Es ist kein Zufall, dass viele erfolgreiche Ruderer auch im Studium und Beruf besonders diszipliniert sind und besondere Ziele erreichen. In Deutschland etwa Hans Lenk, der 1960 in Rom Olympiasieger mit dem Achter und später Professor für Philosophie wurde. Oder Wolfgang Maennig, Olympiasieger 1988 im Achter, heute Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Hamburg. Oder Roland Baar, fünfmaliger Weltmeister als Schlagmann des Achters, heute Professor für Verbrennungsmotoren an der TU Berlin. Auch auf der Position des Steuermanns findet sich ein prominentes Beispiel, Gunther Tiersch wurde 1968 mit 14 Jahren Olympiasieger im Achter und erklärt den Zuschauern des ZDF heute, wie das Wetter wird.

Gerade im Achter geht es um nichts weniger als Vollkommenheit

Und doch ist bei aller Disziplin, allem Kampf, nicht einfach nur tumbes Tempo das Ziel. Es geht gerade im Achter um nichts weniger als Vollkommenheit. Darum, eins zu werden mit den Bewegungen der anderen, mit dem Boot, mit dem Wasser. Sich in einen Zustand hineinzurudern, in dem das Eintauchen der Ruderblätter kaum noch hörbar ist, weil es so gleichförmig, so synchron geschieht. Dann ist der „Swing“ eingetreten. Der Bootsbauer George Pocock, der auch das Boot der amerikanischen Olympiasieger von 1936 anfertigte und den Brown in seinem Buch regelmäßig als Philosoph des Ruderns auftreten lässt, erzählt: „Ich habe Männer vor Freude jauchzen hören, wenn sich der Swing einstellte. Diese Erfahrung werden sie ihr ganzes Leben lang nicht vergessen.“ Pocock hat im Rudern Sinn gefunden: „Worin besteht der geistige Wert des Ruderns? Selbst ganz in der gemeinsamen Anstrengung der Mannschaft aufzugehen.“

Überhaupt wäre „Das Wunder von Berlin“ ohne Pococks Weisheiten nicht so gehaltvoll geworden: „Rudern ist eine Kunst, die großartigste Kunst, die es gibt. Es ist eine Symphonie der Bewegung. Wenn jemand gut rudert, kommt das einem Idealzustand nahe. Und wer einem solchen Idealzustand nahe ist, rührt an das Göttliche, das Innerste des Menschen. An die Seele.“ In Browns Buch wirkt das nicht einmal übertrieben.

Mit Pococks Hilfe erreicht Brown immer wieder das Ufer der Gesellschaft, etwa wenn er ihn sagen lässt, dass das Wasser Gegner und Freund zugleich sei. Man müsse es überwinden, und weil man es überwinden muss, mache es einen zugleich stärker. Künftige Probleme ließen sich mit dieser Einstellung leichter lösen. Drei Dinge begleiteten einen durchs Leben: Harmonie, Gleichgewicht und Rhythmus. „Ohne sie gerät die Zivilisation aus den Fugen“, zitiert er Pocock. „Und deshalb kann ein Ruderer sich behaupten und mit dem Leben zurechtkommen. Er hat das beim Rudern gelernt.“

In der vermeintlichen Eintönigkeit der Ruderschläge findet Brown eine Dramaturgie. Am Ende eines Rennens ist die Anstrengung am größten, die Gefahr am höchsten, dass alles aus dem Ruder läuft. Doch gerade dann rauscht manches Boot in eine andere Dimension. Qual und Glück macht Rudern so einfach zu Geschwistern.

Daniel James Brown: Das Wunder von Berlin. Wie neun Ruderer die Nazis in die Knie zwangen. Riemann- Verlag. 496 Seiten, 21,99 Euro.

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