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Gar nichts los hier. Im Baji Koen Equestrian Park wurde das Stadion am historischen Standort von 1964 neu aufgebaut. Die Athleten sind begeistert von der Arena, aber auch traurig, dass sie vor leeren Rängen reiten müssen.

© Alkis Konstantinidis/Reuters

Reiten bei Olympia: Ohne Zuschauer stehen Athleten und Pferde vor einer besonderen Herausforderung

Nicht nur für die Reiter sind die Wettbewerbe in Tokio ohne Zuschauer eine Herausforderung. Auch für die Pferde sind die Umstände gewöhnungsbedürftig.

Wenn die Athletenteams an diesem Wochenende in der Arena mit der für deutsche Augen und Ohren ungewöhnlich komplizierten Anschrift 1-1, 2chome, Kamiyoga, Setagaya-ku, Tokio zur Qualifikation in der Dressur auflaufen, wird nur die Hälfte von ihnen schon vorab wissen, dass etwas anders ist als sonst. Die andere Hälfte würde sich, wäre sie dazu physisch in der Lage, wahrscheinlich gerne am Kopf kratzen: Äh, nanu, hier fehlt doch etwas.

Dieser Hälfte der Teams hat keiner vorab gesagt, dass die Arena, in die es geht, zwar genauso prächtig sein wird, wie sie es von anderen großen Wettkämpfen gewöhnt sind, aber dass die Publikumsränge leer bleiben werden. Sprich: dass sie Wettkampfleistungen bringen sollen, auch wenn alles aussieht wie Training. Diese Hälfte der Teams sind die Pferde.

Sie befinden sich in der ungewöhnlichen Situation, dass sich zwar alles, was sie in den vergangenen Wochen erlebt haben, sich für sie wie „Turnier!“ angefühlt hat – sie sind untersucht und verladen worden, in Transportboxen in ein Flugzeug gehievt wurden, das extra flach gestartet und gelandet ist, sie spüren die wachsende Anspannung ihrer Begleiter, der pflegenden wie der reitenden – doch dann sieht in den entscheidenden Minuten weder nach „Turnier“ aus, noch hört es sich danach an.

Nicht mal Fake-Applaus vom Tonband wird es geben, wenn es in den kommenden Tagen um Bronze, Silber, Gold in den Disziplinen Dressur, Springen, Vielseitigkeit geht. Darauf haben die Reiterteams sich geeinigt.

Zwischen Trainingsmeistern und Turnierhelden

Ob die Leistungen der Pferde durch die leeren Ränge beeinflusst werden? Das halten die mitreisenden Bundestrainer für eher unwahrscheinlich und begründen das mit der Turniererfahrenheit der deutschen Pferde. „Die sind voll im Bilde, die merken, wann es wichtig ist, und wollen volle Leistung bringen“, ist Otto Becker (Springen) überzeugt.

Natürlich gebe es auch bei Pferden diese sogenannten Trainingsweltmeister, die immer nur zuhause gut sind, und auf dem Turnier dann passen, aber derzeit nicht in der deutschen Equipe. Das zeichne das Team aus. Das sieht der Mannschaftstierarzt ebenso. Die Pferde seien erprobt, sagt Jan-Hein Swagemakers, und hochkonzentriert, sobald der Wettkampf angefangen hat. Die heiklen Momente seien, wenn überhaupt, eher das Rein- und Rausreiten, also die vor und nach dem Startschuss.

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Monica Theodorescu, die Bundestrainerin des Dressurteams, verweist darauf, dass seit der Corona-Pandemie bereits mehrere Wettkämpfe ohne Publikum ausgetragen wurden und die Pferde dennoch „sehr gut gegangen“ seien und nicht „weniger Ausstrahlung“ hatten. „Wir haben uns daher auch nicht anders vorbereitet“, sagt sie.

Dressurreiterin Jessica von Bredow-Werndl aus Deutschland auf Dalera
Dressurreiterin Jessica von Bredow-Werndl aus Deutschland auf Dalera

© dpa

Sie kann sich aber vorstellen, dass jüngere, weniger routinierte Tiere profitieren, weil die ohne Publikum „weniger abgelenkt werden durch die Atmosphäre“. Sie selbst findet es aber „jammerschade“, dass ausgerechnet „dieses tolle Stadion“ – die neue Arena wurde am historischen Standort neu aufgebaut und wird von so ziemlich allen überschwänglich gelobt – so unbelebt bleibt.

Erweitertes Nationenfeld

Statt auf den Rängen tobt umso mehr Leben auf dem Platz. 50 Länder haben Reiter zu den Olympischen Spielen 2021 geschickt, so viele wie nie zuvor, was ausdrücklich erwünscht war. Um das möglich zu machen, ohne den organisatorischen Rahmen zu sprengen, wurden die Teamgrößen auf je drei Reiter gestutzt. Ob unter den Neuen vielleicht ganz ungeahnte Konkurrenz für die traditionell weit vorn rangierenden Deutschen aufgaloppiert? Otto Becker hält sich lakonisch zurück: „Auch die Asiaten haben inzwischen Reiten gelernt.“

Bisher kannte man von dort vor allem Hiroshi Hoketsu. Der Japaner machte meist wegen seines Alters von sich reden – und wollte auch 2021 nochmal dabei sein, dann als fast 80-Jähriger. Aber so ist es nicht gekommen. Für ihn hätte sich mit der Teilnahme an den Spielen im eigenen Land ein autobiographischer Reigen geschlossen. Hier startete er nämlich bereits in dem Jahr, in dem Japan erstmals Austragungsort war. 1964 war das. Damals war er noch Springreiter, später ist er auf Dressur umgestiegen.

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1964 gewann Deutschland in Tokio zweimal Gold und einmal Bronze. Gold im Springen, damals mit legendären Hans Günther Winkler, und in der Dressur, damals mit Dr. Reiner Klimke und Dr. Josef Neckermann (Doktortitel wurden immer mitgenannt!), und Bronze in der Vielseitigkeit. Zum Geländeteam gehörte damals auch Gerhard Schulz aus der DDR, denn 1964 trat eine „gesamtdeutsche Nationalmannschaft“ an. Und lustigerweise ist die DDR auch in diesem Jahr Thema, denn mit André Thieme ist erstmals ein Reiter im olympischen Team dabei, der noch in der DDR geboren wurde. Genauer 1975 in Mecklenburg-Vorpommern.

Der Osten ist da quasi noch Opfer seiner Geschichte. Reitsport galt zu DDR-Zeiten als elitär, also nicht sonderlich kompatibel mit dem Arbeiter- und Bauernstaat, den man vor Augen hatte. Pferde wurden zwar gezüchtet, aber sobald sich eins als talentiert erwies, gegen Devisen ins Ausland verkauft. Entsprechend ist die Basis im Westen im Wortsinn sattelfester. Dazu noch mal Bundestrainer Otto Becker, der erst durch den Medienrummel um Thiemes Ost-Biografie auf die Besonderheit im deutschen Team gestoßen wurde: „Mich freut’s für ihn, aber für uns ist das kein Thema. Wir nehmen die Besten.“

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