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Gegen Portugal jubelten die beiden noch gemeinsam. Jetzt könnte Goretzka den angeschlagenen Müller ersetzen.

© IMAGO / Sven Simon

Personalsorgen bei der Nationalmannschaft: Leon Goretzka könnte Thomas Müller ersetzen

Der Münchner ist fit und drängt in die Startelf – womöglich spielt er für Thomas Müller, der gegen Ungarn mit einer Knieverletzung auszufallen droht.

Wenn es turbulent wird und alle um ihn herum die Fassung verlieren, dann ist Joachim Löw in seinem Element. So jedenfalls sieht er sich selbst am liebsten, und so hat er es auch immer wieder erzählt: Während eines Turniers, wenn alle Vorbereitungen nach bestem Wissen und Gewissen getroffen sind, so Löw, lasse er sich nur schwer erschüttern. Er ruhe dann irgendwie in sich selbst.

Aber auch nach 15 Jahren als Trainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und mit all seiner Erfahrung gibt es Momente, in denen selbst Löw mal den Überblick verliert. Am Samstag, im EM-Gruppenspiel gegen Portugal, hat es einen solchen Moment gegeben, nach ziemlich genau einer Stunde. „Plötzlich kamen alle mit irgendwelchen Problemen“, berichtete der Bundestrainer: Bei Robin Gosens zwickten die Adduktoren, bei Mats Hummels war es die Patellasehne und bei Ilkay Gündogan die Wade.

Löw musste schneller wechseln, als es ihm lieb war. Und das tat seiner Mannschaft erkennbar nicht gut. Die Portugiesen, scheinbar aussichtslos in Rückstand, verkürzten relativ schnell auf 2:4, sie hatten durch einen Pfostenschuss von Renato Sanches sogar noch eine glänzende Chance auf den Anschlusstreffer, und von Ruhe und Überlegenheit im deutschen Team war plötzlich nichts mehr zu spüren.

Bei keinem Turnier dreimal in Folge die gleiche Aufstellung

Nun macht es natürlich einen Unterschied, ob eine Mannschaft gut vorbereitet in ein Spiel startet oder ob der Trainer im laufenden Betrieb zu hektischen Wechseln gezwungen ist. Und doch waren die letzten 30 Minuten gegen Portugal ein ziemlich überzeugendes Plädoyer dafür, auch im letzten Gruppenspiel gegen Ungarn an der bewährten Aufstellung festzuhalten.

Sollte Joachim Löw das genauso sehen, käme es zu einem Novum in seiner nun fast 15 Jahre währenden Amtszeit als Bundestrainer. Noch nie hat er bei einem großen Turnier, weder bei den drei EM-Endrunden noch bei den drei Weltmeisterschaften, in allen drei Vorrundenspielen stets dieselbe Startelf aufgeboten. Überhaupt hat Löw bei Turnieren nie dreimal nacheinander mit derselben Formation begonnen.

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Nach der Auftaktniederlage gegen Frankreich hat Löw zur allgemeinen Überraschung weder Personal noch System verändert – warum also sollte er das nach dem berauschenden 4:2-Erfolg gegen die Portugiesen tun? Vielleicht weil sich ein Spieler, der bisher nicht berücksichtigt wurde oder berücksichtigt werden konnte, im Training aufgedrängt hat. Oder weil Löw zum Wechseln gezwungen ist. Oder beides.

Gegen Portugal hat Leon Goretzka nach sechswöchiger Pause sein Comeback gefeiert und bei seinem Kurzeinsatz gleich gezeigt, warum er so geschätzt wird: weil er als Box-to-Box-Spieler Dynamik und Tiefgang ins deutsche Spiel bringt. Nach einem Konter kurz vor Schluss wäre dem Münchner fast das 5:2 für sein Team gelungen, doch nach seinem Schuss touchierte der Ball nur die Latte des portugiesischen Tores. Nachdem sich Goretzka kurz vor Ende der Bundesligasaison einen Muskelfaserriss im Oberschenkel zugezogen hätte, stand seine Teilnahme an der Europameisterschaft zumindest anfänglich auf der Kippe.

„Im ersten Moment, als ich aus dem MRT rauskam und dem Radiologen ins Gesicht geguckt habe, hatte ich schon das Gefühl, dass das eine enge Kiste werden könnte“, sagt er selbst. Der 26-Jährige stieg verspätet in die Vorbereitung ein, verpasste die beiden Testspiele, verzichtete auf eigenen Wunsch auf eine Nominierung für den EM-Auftakt gegen Frankreich und stand gegen die Portugiesen erstmals wieder im Kader. „Für mich kann das Turnier jetzt auch richtig losgehen“, sagt Goretzka. „Ich fühle mich bereit, voll anzugreifen.“

Müller verpasste das Training

Unter normalen Umständen müsste er sich womöglich weiter gedulden, nachdem der Bundestrainer jetzt eine funktionierende Formation gefunden hat. Doch so, wie es aussieht, könnte für den Mittelfeldspieler tatsächlich ein Platz in der deutschen Mannschaft frei werden. Thomas Müller hat sich kurz vor Ende des Portugalspiels eine Kapselverletzung am Knie zugezogen. Er stand am Montag nicht auf dem Trainingsplatz.

Kurz darauf vermeldete die „Bild“-Zeitung bereits, dass der Münchner sowohl gegen Ungarn als auch für ein mögliches Achtelfinale Anfang kommender Woche ausfallen werde. Offiziell bestätigt wurde diese Diagnose nicht. Es müsse von Tag zu Tag geschaut und dann entschieden werden, hieß es. Goretzka sagte zu Müllers Einsatzchancen sogar: „So wie er sich im Pool bewegt hat, ist es nicht ausgeschlossen, dass er spielt.“

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Sollte Müller doch ausfallen, könnte Goretzka seinen Platz in der offensiven Dreierreihe übernehmen. „Grundsätzlich traue ich mir die Rolle von der Position her schon zu“, sagte Goretzka. Eine Rolle, die er in der Vergangenheit auch schon in der Nationalmannschaft gespielt hat.

Natürlich gibt es mit Timo Werner und Leroy Sané noch zwei ausgewiesene Fachkräfte für den freien Platz in der Offensive. Aber mit dem Wechsel von Müller zu Goretzka ließe sich für Löw ein Problem zumindest fürs Erste recht elegant aus der Welt schaffen. Denn dass der Bundestrainer den Mittelfeldspieler des FC Bayern über kurz oder lang in seine Mannschaft integrieren muss, das könnte sich noch als ziemlich knifflige Aufgabe erweisen.

Löw ist generell kein Freund exzessiver Wechsel. Bei seinem ersten Turnier, der EM 2008, hat er erlebt, welche Konsequenzen das haben kann. Einige Teams, die schon nach dem zweiten Spiel für die nächste Runde qualifiziert waren, ließen in der dritten Vorrundenbegegnung ihre Reservisten ran, Holland zum Beispiel – und mussten dann im Viertelfinale feststellen, dass ihre Stammspieler ihren Rhythmus verloren hatten.

Aber Löw hat auch immer wieder darauf hingewiesen, dass kaum ein Trainer mit derselben Mannschaft aus einem Turnier herauskommt, mit der er in das Turnier hineingegangen ist. Die Mannschaft ist ein organisches Gebilde, das sich mehr oder weniger von alleine entwickelt. Änderungen ergeben sich zwangsläufig, durch Sperren oder Verletzungen. Ist es anders, ist es in der Regel kein gutes Zeichen. Vor drei Jahren, bei der desaströsen WM in Russland, nahm Bundestrainer Löw nach dem ersten Gruppenspiel vier Wechsel vor, nach dem zweiten waren es sogar fünf. Danach war das Turnier für ihn und seine Mannschaft auch schon beendet.

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