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Gescheiterte Mission. Kugelstoßer Niko Kappel wollte sein Sportgerät bei den Para-Leichtathletik-Europameisterschaften im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark auf eine Goldweite wuchten. Am Ende reichte es dafür nicht ganz.

© Jens Büttner/dpa

Para-Leichtathletik-EM: Niko Kappel: Silber für die Tagesschau

Kugelstoßer Niko Kappel holt bei der Para-Leichtathletik-EM den zweiten Platz – und ist enttäuscht. Die erste deutsche Goldmedaille gewinnt Lindy Ave.

Von Benjamin Apitius

Als Niko Kappel den Innenraum des Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportparks betritt, brandet das erste Mal etwas größerer Jubel auf. In der Kurve nahe des Kugelstoßrings hat sich am frühen Montagabend ein Fanklub des 23-Jährigen vom VfR Sindelfingen platziert. Mit Deutschlandhüten und Klatschpappen wollen sie einen der ganz großen Stars der deutschen Behindertensportszene bei den Europameisterschaften in Berlin zum nächsten Erfolg verhelfen. Kappels Auftritt jedoch gerät zum kleinen Drama. Der amtierende Weltmeister und Paralympicssieger stößt für ihn mäßige 12,60 Meter und muss sich wie schon bei der EM vor zwei Jahren mit der Silbermedaille begnügen. Obendrein übertrifft der neue Europameister Bartosz Tyszkowski aus Polen Kappels bisherigen Bestwert um zwei Zentimeter und klaut ihm damit bei einer Weite von 14,04 Metern auch noch den Weltrekord. Den hatte Kappel gerade erst in diesem Juni aufgestellt.

„Ich werde da jetzt erst einmal zwei, drei Nächte drüber schlafen müssen“, sagte ein sichtlich enttäuschter Kappel nach seinem Auftritt: „Und dann werde ich wieder aufstehen. Wir werden meine Würfe analysieren und bei der WM im nächsten Jahr neu angreifen.“

Am ersten Tag der Para-EM herrscht trotz spärlich besetzter Tribünen unter den anwesenden Besuchern eine ausgelassene Stimmung. Im Innenraum gibt es ja auch allerhand zu sehen. Johannes Bessel läuft über 1500 Meter zur Bronzemedaille, Lindy Ave holt über 400 Meter im Rennen der koordinativ Beeinträchtigten überraschend das erste Gold für den Deutschen Behindertensportverband an diesem Auftakttag. Silber gewinnen Rennrollstuhlfahrer Denis Schmitz aus dem westfälischen Bönen (100 Meter in 20,21 Sekunden) und die Leverkusener Sprinterin Irmgard Bensusan (100 Meter in 13,09 Sekunden). Alhassane Baldé aus Bonn (5000 Meter in 11:45,50 Minuten) wird ebenfalls Vize-Europameister.

Vor Kappels erstem Versuch heizt der Stadionsprecher zusätzlich ein: „Wenn Niko heute eine Medaille holt, dann schafft er es bis in die Tagesschau“, habe er gehört – und löst damit Begeisterungsstürme unter den Anwesenden aus. Dass es für Kappel bei lediglich drei Konkurrenten im Wettbewerb der Kleinwüchsigen aber beinahe unmöglich ist, eine Medaille zu verpassen, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Verdeutlichen soll es vielmehr die Relevanz, in die der Behindertensport gesellschaftlich in den letzten Jahren hat vorstoßen können. Tagesschau. Das ist aller Ehren wert.

330 000 Zuschauer waren es in London - 20 000 sind es bisher in Berlin

Dass am Montagabend dennoch eher wenig Berliner und Sportinteressierte den Weg in den Jahn-Sportpark finden, ist dabei die andere Seite der Medaille. Eine Gänsehautatmosphäre wie bei den vergangenen Para-Großevents in England lässt sich so nur schwerlich erzeugen. London hatte im letzten Jahr bei den Weltmeisterschaften der Para-Leichtathleten mit insgesamt 330 000 Zuschauern einen neuen Rekord aufgestellt. Die Teilnehmer schwärmen bis heute von der einzigartigen Stimmung im Olympiastadion. Dafür bräuchte es in Berlin dann doch noch etliche Kappel-Fanklubs auf den Tribünen mehr. Lediglich 20 000 Tickets waren bis zum Montag verkauft worden, wie die Veranstalter bekannt gaben – wohlgemerkt für die ganze Woche bis zum letzten Wettkampftag am kommenden Sonntag. Vor allem Firmen haben demnach große Kontingente an Tickets erworben und diese vorzugsweise an Berliner Schulklassen weitergegeben. Es gibt aber wohl Schlimmeres, so ist es bei den Ausführungen der Organisatoren herauszuhören, ein akzeptabler Verkaufsstand sei mit den aktuellen Zahlen bereits erreicht.

An den dargebotenen Leistungen kann das bisher mangelnde Interesse dabei nicht liegen. Die Zuschauer bekommen Spitzensport auf europäischer Ebene geboten. Ob kleinwüchsig oder groß, dick oder dünn – als vor Niko Kappels letztem Versuch die Kreide zwischen seinen klatschenden Händen zerstäubt, nehmen die Zuschauer sogleich seinen Takt auf und die Spannung verbreitet sich auch über die vielen leeren Plätze hinweg. Dann steigt er in den Ring, tritt mit dem Fuß zweimal gegen den Abstoßbalken und postiert sich in der Mitte. Wenn nicht jetzt, wann dann? Die Fans johlen auf der Tribüne. Auch DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher ist herbeigeeilt und verfolgt die letzte Gold-Chance neben Kappels Trainer Peter Salzer auf den unteren Plätzen. Dann drückt er die Kugel mit seiner rechten Hand gegen den Hals, den linken Arm streckt er vom Körper weg wie einen Uhrzeiger, die Finger lässt er für einen kurzen Augenblick flattern. Eine Drehung, ein Schrei, und die Kugel fliegt. Für eine letzte winzige Sekunde glauben alle an diesem wolkenverhangenen Abend an den ersten EM-Titel in der noch jungen Karriere des Niko Kappel. Doch der letzte Versuch wird für ungültig erklärt. Es bleibt bei Silber. Der Tagesschau ist dies aber egal.

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