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Die italienischen Fans in Rieti feiern den Einzug ins EM-Finale.

© IMAGO / NurPhoto

Palermos Bürgermeister vor dem EM-Finale: „In Italien zählt nicht nur der Sieg”

Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo, spricht im Interview über den italienischen Fußball, Europa und das italienische Konzept der „Bella Figura”.

Leoluca Orlando ist im fünften Mandat Bürgermeister von Palermo, war Abgeordneter im Europaparlament und hat in Heidelberg Jura studiert. Am 5. Juli 2021 wurde ihm für seine Flüchtlings- und Europapolitik das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.

Herr Orlando, ist Fußball ein Stück italienische Kultur?
Sport ist immer Kultur. Jedes Volk hat seinen Nationalsport, für die USA beispielsweise ist es American Football. Und auch wenn ich American Football liebe, in Italien gibt es nur eine einzige Sportart, die das ganze Land verbindet und das ist Fußball. Jeder Italiener, auch jeder italienische Politiker hat seine geliebte Regionalmannschaft. Die Konkurrenz zwischen den Clubs ist extrem hart, darüber spaltet sich das Land.

Was passiert, sobald die Nationalmannschaft auf den Plan tritt?
Dann entsteht ein unglaubliches Einheitsgefühl, trotz aller Schwierigkeiten in Italien. Wir sind große Individualisten, aber wenn 11 Spieler aus mindestens 10 verschiedenen Städten gemeinsam auf dem Platz stehen, ist das vergessen. Was zählt ist das Team, die Nationalmannschaft hat den gleichen Effekt auf uns wie die Flagge. Darin liegt auch die große Leistung von Roberto Mancini. Es gibt nicht den einen Star, alle Spieler sind gleichberechtigt. Mancini hat ein Team geschaffen und Hoffnung gegeben.

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Roberto Mancini hat die Mannschaft innerhalb von zwei Jahren aus der Versenkung geholt. In den italienischen Medien wird er oft mit dem Ministerpräsidenten Mario Draghi verglichen, der Italien aus der Coronakrise führen soll. Funktioniert der Vergleich?
Vergleiche zwischen Sport und Politik sind schwierig. Sport ist nun mal keine Politik, ein großer Sportler könnte als Politiker versagen. Mario Draghi kam als Externer in die Regierung, um Italien zu retten. Er ist beliebt, weil die italienische Politik de facto tot ist und er ein international gut vernetzter Hoffnungsträger. Roberto Mancini löst Begeisterung aus, weil der italienische Fußball lebt. Wie will man Leben und Tod vergleichen?

Im Zusammenhang mit der Europameisterschaft hört man immer wieder den Begriff der „guarigione”, der Heilung. Hat der Fußball das Land ein Stück geheilt?
Natürlich, das Land atmet auf für einen Moment. Auch wenn ich wegen der Deltavariante in Palermo beispielsweise keine Großbildschirme aufstellen lasse. Und mit all dem was wir bis jetzt gesagt haben, ist es am Ende auch Nebensache ob wir das Finale gewinnen. Wir wollen gut spielen, schönen Fußball zeigen, Spaß haben. Das unterscheidet uns von anderen Ländern. Es geht uns um das „far bella figura”, wir wollen gut dastehen. Dann akzeptieren wir auch eine Niederlage im Finale.

Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando bei einem Besuch in Berlin.
Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando bei einem Besuch in Berlin.

© IMAGO / photothek

Das müssen Sie genauer erklären!
Der Wunsch ein gutes Bild abzugeben, „di far bella figura”, ist tief verankert in der italienischen Seele. Es ist ein kollektives Gefühl. Uns Italienern ist es unfassbar wichtig, was die europäischen Nachbarn von uns denken. Wenn Deutschland oder Frankreich nach dem Spiel sagen: Italien hat aber gut gespielt, dann erst glauben wir selbst daran. Dahinter versteckt sich sicherlich viel Stolz, aber keine Arroganz. Wenn wir ein gutes Spiel liefern, sind wir zufrieden. Schlecht spielen und trotzdem gewinnen, naja. Da freut sich keiner.

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Aber der Wille die Engländer zu schlagen ist da? Es geht schließlich um den Brexit.
Sagen wir so. Ich glaube, die Italiener haben den Brexit einfach nicht verstanden. Und um es mal salopp zu sagen, er saß uns quer im Magen. Natürlich muss man die Freiheit eines jeden respektieren, aber wir haben es wirklich nicht verstanden. Also ja, vor dem Hintergrund des Brexit wäre es natürlich besser, wenn Italien gewinnt.

Bleiben wir kurz beim Fußball als politische Metapher. Kommt Italien mit der Europameisterschaft zurück ins Zentrum der EU? Emmanuel Macron und Sergio Mattarella wollen für die Zeit nach Merkel das neue europäische Tandem bilden.
Absolut, Italien wird ins Zentrum rücken. Aber eine Sache ist klar. Auch wenn Merkels Regierung jetzt vorbei ist: Die deutsche Politik hat eine Führungskultur, die aus dem wirtschaftlichen Aufschwung entstanden ist. In Italien haben wir Draghi als Führungsperson, aber keine politische Führungskultur dahinter. Es wird die Frage sein, was nach Draghi passiert.

Wo sehen Sie die Zukunft Europas?
Ich bin überzeugter Europäer. Als Student in Heidelberg musste ich alle drei Monate mein Visum erneuern. Das ist heute undenkbar, alle können frei reisen. Für mich ist Europa der Zusammenschluss einer Vielzahl von Minderheiten, alle sind gleichberechtigt. Die Europäische Union ist Heimat aller europäischen Nationen. Für mich ist und bleibt die Europäische Union die einzig mögliche Zukunft.

Amelie Baasner

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