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Nach Bein-Amputation: Ilke Wyludda: "Hauptsache, ich lebe"

14 Operationen haben Diskus-Olympiasiegerin Ilke Wyludda nicht aufhalten können. Keime in einer offenen Wunde aber konnte sie mit extremem Willen nicht mehr besiegen – ein Bein wurde amputiert. Jetzt empfindet sie schon ihren Alltag als größtes Geschenk.

In der Cafeteria des Krankenhauses „Bergmannstrost“ sitzt man vor einer Wand aus bunten, leicht geneigten Metallstangen, rote, gelbe, blaue, grüne, alle fast zwei Meter hoch. Sie erinnern an Schilfrohre. Aber diese Rohre sind in kleinen Betonsockeln zementiert, sie trennen die Bistrotische von einem langen Flur, auf dem Patienten mit Krücken humpeln oder Besucher zum Ausgang schlendern.

Ilke Wyludda passiert gemächlich diese Stangen bis zu einem der Tische. Sie geht mit auffälligen Bewegungen; die sind nicht wirklich eckig, aber unrund, als würde sie die rechte Hüfte nachschieben. Sie trägt Jeans und einen hellblauen Pullover, sie hat seit ein paar Minuten Feierabend. Die weißen Sachen, mit denen die Anästhesistin Wyludda im OP gearbeitet hat, liegen gefaltet in einer Tüte.

Ein Tag im Dezember, ihr dritter Arbeitstag in diesem wuchtigen Krankenhaus in Halle an der Saale. Gleich am ersten Tag hatte man sie zu einer Operation eingeteilt, gut möglich, dass sie den OP-Saal nicht zum ersten Mal gesehen hat. „Hier gibt es zehn OP-Säle“, sagt sie. „Ich lag schon in einigen.“ Das Haus „Bergmannstrost“ ist nicht bloß ihr Arbeitsplatz, es ist Teil ihres Lebens. Hier hatte man der Diskuswerferin Wyludda die zweimal gerissene Achillessehne geflickt, hier hatte man ihre Knieprobleme behandelt, hier hatte sie viele ihrer insgesamt 15 Operationen über sich ergehen lassen. Aber hier hatte sie auch schon im Studium gearbeitet, hier schreibt die 41-Jährige ihre Doktorarbeit über Schmerztherapie. Und hier hatte sich auch der einschneidendste Schritt ihres Lebens vollzogen.

Die Amputation ihres rechten Beins oberhalb des Knies.

Gehandicapt. Ilke Wyludda im Krankenhaus, nachdem ihr das rechte Bein amputiert wurde. Foto: Andreas Löffler
Gehandicapt. Ilke Wyludda im Krankenhaus, nachdem ihr das rechte Bein amputiert wurde. Foto: Andreas Löffler

© Löffler

Die Olympiasiegerin von 1996, die zweimalige Europameisterin, die Frau, die für die DDR hochgedopt mit 74,40 Metern einen erschreckend weiten Junioren-Weltrekord aufgestellt hatte, die war im Dezember 2010 zur Behindertensportlerin geworden. Eine Wunde im Unterschenkel sollte verschlossen werden, doch in der Wunde siedelten sich Keime an, es drohte eine Blutvergiftung.

Ilke Wyludda trägt jetzt eine Prothese. Sie kann im Notfall nicht zu einem Patienten rennen, sie kann nicht knieen, um einen Patienten zu reanimieren. Sie sitzt im OP zeitweise auf einem Stuhl. Sie kann nicht, was andere Ärzte im Krankenhaus können, aber sie betrachtet es wie das Wetter. Sie kann’s nicht ändern.

Jetzt ist sie halt behindert, Ilke Wyludda kann sehr nüchtern darüber reden. Sie liefert Sätze ohne Gefühlsbetonung, mit der gleichen Emotionalität würde sie auch erklären, dass auf Montag Dienstag folgt. „Was bringt es mir, wenn ich mich mit alten Geschichten beschäftige?“, sagt sie dann. „Ich muss nach vorne schauen, nicht nach hinten.“ Und: „Ich habe gelernt zu sagen: Mach das Beste draus! Die Leute, die sich hinstellen und jammern, die lernen nicht wieder zu laufen.“ Es sind Sätze, die sich viele Menschen permanent einreden müssen; sie klammern sich an sie wie an einen Rettungsring, um nicht in Selbstmitleid zu zergehen.

Aber Ilke Wyludda hat 20 Jahre Leistungssport betrieben, sie muss sich nichts einreden, der Tunnelblick ist Teil ihres Lebens. „Der Sport hat mich geschult“, sagt sie, die Stimme hart, der Blick konzentriert, „er hat mich zu dem gemacht, was ich bin.“ Nur wer hart ist, hart gegen sich, im Kampf mit den Umständen, im Kampf mit Gegnerinnen, kommt weiter. Das hat sie verinnerlicht. 1988 schleuderte sie den Diskus mehr als 75 Meter weit, doch ins DDR-Olympiateam kam sie nicht. Aber acht Jahre später wurde sie Olympiasiegerin.

Es ist eine Fähigkeit, so zu denken. Es hilft enorm, die neue Situation zu bewältigen. Patienten spüren diese Fähigkeit. „Ich denke schon, dass ich durch meine Geschichte eine glaubwürdigere Ansprache habe“, sagt die Ärztin Wyludda. Und mit ihrer Art, über diesen Tunnelblick zu reden, spricht sie wie eine typische Ex-Hochleistungssportlerin.

Bis zu dem Moment, in dem ihre Augen, ihr weicher Blick nicht mehr zu ihrer harten Stimme passen. Mit wenigen Sätzen hebt sie die Amputation auf eine andere Ebene, weg von dieser These, dass man so eine Änderung als leicht modifizierte Form des Alltags betrachten soll. Ilke Wyludda sagt: „Hauptsache, ich lebe noch. Das ist der Maßstab. Einfach, ich lebe noch. Dafür habe ich alles gemacht, dafür habe ich das Bein geopfert.“

Ein paar Sekunden bekommt das Gespräch abrupt etwas Erhabenes, dafür kommt dieser Maßstab zu unerwartet. Aber Wyludda gibt auch einen Blick frei hinter das Bild der nüchternen Frau mit dem Tunnelblick. Nun merkt man, wie sehr sie ihren Alltag als Geschenk betrachtet und Dinge als Kleinkram abhakt, die andere auf die Palme bringen.

Ein schönes Gefühl: Mit dem Rollstuhl aus der Intensivstation fahren

Wenn man diesen Maßstab verstehen will, muss man von Manne reden. Manne war der Ehemann ihrer früheren Physiotherapeutin. Er hatte ebenfalls Keime in einer offenen Wunde, auch ihm drohte eine Blutvergiftung. Die Ärzte rieten zur Amputation, aber Manne lehnte ab. Irgendwann war es zu spät. Manne starb.

„Er ging elend zugrunde“, sagt Gerhard Böttcher, ein massiger Mann mit quadratischem Schädel. Er war 20 Jahre lang Trainer von Wyludda, jetzt ist der 66-Jährige Rentner. Sie nennt ihn „einen guten Freund“. Böttcher erzählt die Geschichte von Manne, er erzählt, dass er mit ihm öfter Bier trinken war und auch Wyludda dieses elende Leiden miterlebte. Und dass sie sich viel unterhalten haben über Manne. „So möchte ich nicht leiden“, sagte sie irgendwann. Als dann die Ärzte an ihrem Bett von „Amputation“ redeten, war ihr wichtigster Gedanke: „Hauptsache, ich lebe.“ Das Gleiche dachte sie direkt nach der Narkose. Es ist das innigste Gefühl von Dankbarkeit.

Wann war der emotionalste Moment nach der Operation?

Ilke Wyludda überlegt lange. „Es war ein schönes Gefühl, als ich mit dem Rollstuhl aus der Intensivstation gefahren bin.“ Eine halbe Stunde lang schob sie sich durch den Flur. „Das war Leben. Ich fühlte Leben. Ein Gefühl von Freiheit.“

Sie begann zu träumen. Sie sah sich als Ärztin arbeiten, im OP oder in einer Praxis, egal. Arbeit, das verband sie mit Freiheit. Eine Frau, die Sportwissenschaft studiert, ein Aufbaustudium Rehabilitation und Therapie dranhängt, danach eine dreijährige Physiotherapieausbildung macht und dann sofort Medizin studiert, für die ist Arbeit eine Form der Erfüllung. „Ich bin eine Powerfrau“, sagt sie.

Doch zur Geschichte der Ilke Wyludda gehört nicht nur die Tragik von Manne. Die Amputation ist in einem Punkt auch die größte persönliche Niederlage der Kämpferin Wyludda. Sie hatte Risse des Kreuzbands und der Patellasehne, zehn- mal wurde ihre Achillessehne operiert, weil sie zu früh ins Training eingestiegen war, vier Monate saß sie im Rollstuhl, aber nach jeder Verletzung kam sie zurück. Der Ehrgeiz trieb sie an, natürlich, aber zunehmend stilisierte sie ihr jeweiliges Comeback auch zu einem Sieg ihres Willens über ihren Körper. Nach ihrer zehnten Achillessehnen-OP und 18 Monaten Pause warf sie in Wiesbaden – und gewann. „Klar hat sie sich über jedes Comeback gefreut“, sagt Böttcher. „Das hat sie ja motiviert.“ Erst als 2001 ein Brustmuskel riss, gab Wyludda auf. Sie war 32. Aber sie hatte noch ihre Beine.

Und dann drangen im Dezember 2010 Keime in ihre offene Wunde. Schicksal, Ilke Wyludda musste es hilflos akzeptieren, mit ihrem Willen konnte sie jetzt ihren Körper nicht mehr niederkämpfen. Die Powerfrau fühlte sich als Opfer.

Wie ist das, ausgerechnet auf eine solche Weise das Bein zu verlieren?

Da verliert die Stimme von Ilke Wyludda erneut ihre Härte. Und ihr Blick wird nicht weich, er ist jetzt sogar verzweifelt. Und er geht zur Seite, als sie sagt: „Das sind die Momente, in denen ich die Prothese in die Ecke werfe.“

Dass sie gerade in „Bergmannstrost“ als Ärztin arbeitet, hat viel mit praktischen Gründen zu tun. Sie kennt das Haus, das Personal, sie kommt aus Halle/Saale, aber es hat auch mit dem Gefühl eines späten Triumphes zu tun. Sie ist nicht mehr die Patientin, sie ist die Ärztin; in ihrem ganz persönlichen Kampf gegen Krankheiten besitzt sie jetzt die größtmögliche Kontrolle. „Ich bestimme jetzt, dass jemand wieder gesund wird. Sicher spielt das eine Rolle für meine Arbeit gerade in diesem Haus“, sagt sie. Es ist nur ein Hauch von Genugtuung zu spüren, mehr nicht. Aber er ist zu spüren. „Das gehört zu dem, was man unter Verarbeitung versteht“, sagt Ilke Wyludda.

Ein paar Mal hat sie sich auch auf einem Sitzbock platziert, maximal 75 Zentimeter hoch; das linke Bein fest auf den Boden gestemmt. Das gehört auch zur Verarbeitung. So schleudert die Behindertensportlerin Wyludda jetzt Diskus, eingestuft in der Schadensklasse der Oberschenkelamputierten oder Menschen mit Hirnschädigung und minimaler Beinschädigung. „Das Training tut gut“, sagt sie. Aber sie hat erst wenige Male geworfen, die Zeit fehlt ihr einfach. Und noch ist ihr die Weite völlig egal. Irgendwann nicht mehr. 2012 finden die Paralympics statt. „Warum sollte ich mich dafür nicht qualifizieren?“, sagt die Olympiasiegerin.

Aber jetzt feiert sie erst mal Weihnachten mit ihren Angehörigen. „Ganz traditionell“, sagt Ilke Wyludda. Sie wird in die Kirche gehen, sie wird singen, sie wird die flackernden Kerzen und den Christbaum genießen.

Sie wird leben.

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