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Springreiten in Nordrhein-Westfalen (Archiv)

© dpa/Caroline Seidel

Missstände im Reitsport: "Deswegen sind sie so ausbeutbar"

Alkohol- und sexueller Missbrauch sind nicht nur im Elite-Reitsport ein Problem. Eine Expertin warnt vor ritualisierten Abläufen.

Es war ein unruhiges Wochenende für Ursula Enders. Die Leiterin des Vereins Zartbitter e.V. aus Köln kümmert sich seit sieben Jahren als Ansprechpartnerin um Fälle sexuellen Missbrauchs im Reitsport. Jetzt kamen alleine in den vergangenen zwei Tagen Hinweise von zwei Reitvereinen, einer aus Nord-, der andere aus Süddeutschland. „Die Handlungen sind so ritualisiert, dass ich mir vorstellen kann, dass es auch öfter passiert ist“, sagt sie. Die Vorfälle sollen bei Turnieren, die die jeweiligen Vereine veranstalteten, passiert sein, der Handlungsablauf und die Namen der Verdächtigen waren die gleichen. Enders erwartet noch viele solche Anrufe.

Der Anlass für die plötzlichen Meldungen: In der aktuellen Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ belegt eine Recherche, dass es im Jugendkader der deutschen Springreiter-Nationalmannschaft Probleme mit Alkoholkonsum auf Turnieren gibt. Außerdem werden mehrere Fälle sexueller Belästigung geschildert. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) reagierte daraufhin mit zwei Stellungnahmen.

Der Verband habe schon länger von Problemen mit übermäßigem Alkoholkonsum und daraus resultierender Sachbeschädigung gewusst und deshalb Verwarnungen ausgesprochen. Im Hinblick auf das Thema sexuelle Gewalt suchte der Verband 2011 die Zusammenarbeit mit Zartbitter, ließ alle Landesverbände Ansprechpersonen benennen. Im Fall eines Nachwuchsspringreiters sprach der Verband eine 18-monatige Wettkampfsperre aus und leitete den Fall an die Staatsanwaltschaft Münster weiter. In einem weiteren Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft Koblenz. „Was neu ist und was uns auch alarmiert, sind Fälle von Sachbeschädigung und dass sexuelle Übergriffe mutmaßlich unter Gleichaltrigen stattfinden“, sagt FN-Jugendwartin Maria Schierhölter-Otte.

Fälle aus dem Jugend-Nationalkader

Bekannt sind derzeit mehrere Fälle aus dem Jugend-Nationalkader, die auf ein strukturelles Problem mit Alkoholkonsum hinweisen. 2016 etwa wurde ein junger Reiter auffällig, weil er auf der Jugendmeisterschaft in Revenbeck mit Biergläsern um sich warf und einen Polizisten in Zivil bespuckte. Er musste eine Geldstrafe zahlen. Außerdem sind Fälle von Sachbeschädigung bekannt. Ein Reiter, der wiederholt auffällig wurde, musste vergangenes Jahr die Mannschaft verlassen. Die FN suchte das Gespräch mit Landestrainern, verschärfte die Satzung, ließ die Nachwuchsreiter unter Anleitung von Pädagoginnen selbst Verhaltensregeln aufstellen. „Es kann überhaupt nicht sein, dass morgens beim Einreiten auf dem Vorbereitungs- oder Prüfungsplatz ein Reiter mit Restalkohol angetroffen wird“, sagt Schierhölter-Otte. „Der muss damit rechnen, von der Veranstaltung, und, sofern es sich um ein Kadermitglied handelt, aus dem Kader ausgeschlossen zu werden.“

Das Problem: Der Einfluss des Verbands ist sehr beschränkt. Das hat vor allem mit den stark privatwirtschaftlich und mäzenenabhängigen Strukturen des Sports zu tun. Training und Turniere finden überwiegend auf privaten Höfen statt. Auch werden die meisten Feiern bei Turnieren unter der Ägide des Veranstalters, manchmal sogar privat in den Anhängern der Jungreiter, abgehalten. Unter Doping fällt Restalkohol auf dem Pferd auch nicht, denn erstens steht Alkohol seit diesem Jahr nicht mehr auf der Liste der verbotenen Substanzen der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada – und zweitens fallen die Nachwuchsreiter noch nicht unter die Dopingrichtlinien. Allerdings hat der Verband sich jetzt selbst Regeln auferlegt und will an diesem Wochenende bei den deutschen Jugendmeisterschaften in München zum ersten Mal ins Röhrchen pusten lassen.

Jugendämter einschalten

Zum Alkohol kommen noch Fälle von sexualisierter Gewalt. Der Fall des gesperrten Nationalkader-Reiters, der eine andere Reiterin belästigt haben soll, ist aber mitnichten die Ausnahme. Auch der Freizeitsport ist betroffen. „Das Problem ist, dass es in 95 Prozent der Fälle Trainer ohne Lizenz, sogenannte Reitlehrer sind, die in privaten Ställen arbeiten und somit die FN keinen Zugriff auf sie hat“, sagt Schierhölter-Otte. Neben Reitlehrern sind auch häufig Pferdebesitzer Teil der Dynamik, denn sie entscheiden, wer auf ihren oft hunderttausende Euro teuren Pferden starten darf. „Reiten ist für diese Mädchen das Nonplusultra, deswegen sind sie so ausbeutbar“, sagt Ursula Enders. Sie fordert, dass die Landesverbände schon beim Verdacht auf sexuelle Belästigung die Jugendämter einschalten. Die FN dagegen verweist darauf, dass sie erst bei einer Verurteilung aktiv werden könne.

Auch die Ursachen gehen viel tiefer, meint man bei der FN. „Es wird generell mehr getrunken unter Jugendlichen und wir sind als Verband auch ein Spiegelbild der Gesellschaft“, sagt Schierhölter-Otte. „Jugendreiter trinken auch nicht mehr als andere Jugendliche.“

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