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 Philipp Pflieger (r.) will mit drei seiner Kollegen am Sonntag die Weltrekord-Zeit von Eliud Kipchoge unterbieten.

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Marathonläufer Philipp Pflieger auf Rekordjagd: „Geld bedeutet für mich Freiheit“

Philipp Pflieger über die Marathon-Staffel am Sonntag in Berlin, Corona und das zentrale Problem in der deutschen Nachwuchsförderung.

Herr Pflieger, in Berlin haben Sie schon einiges erlebt: 2015 persönliche Bestzeit, 2017 Zusammenbruch kurz vorm Ziel, 2019 Verletzung. Was verbinden Sie mit Berlin?
Als hoffnungsvoller Optimist überwiegt bei mir immer das Positive. 2017 ging natürlich nicht spurlos an mir vorbei. Im Kontrast dazu überwiegt aber 2015, schließlich war es der Grundstein für meine Olympia-Teilnahme in Rio und die Erfüllung meines Kindheitstraums. Wenn ich an Berlin denke, dann habe ich nur gute Gedanken. Die Stimmung an der Strecke ist immer sensationell, ab dem ersten Kilometer wird man angefeuert, die Leute flippen hier voll aus.

Das wird dieses Mal coronabedingt anders sein. Was macht es mit dem Laufsport, wenn Profiläufe nur noch hermetisch abgeriegelt stattfinden?
Laufen ist kein elitärer Sport und sollte es auch nicht sein. In der Straßenlaufszene kommt man mit den ganz normalen Läufern in Kontakt. Wir laufen alle den gleichen Marathon. Ich habe genauso Respekt vor Menschen, die 42 Kilometer in vier Stunden laufen. Die leiden doppelt so lange wie ich. Ohne Fans und Amateurläufer fehlt die Magie, gleichzeitig sind diese reinen „Eliteläufe“ aktuell für uns Profis enorm wichtig. Als Motivation, um zu sehen, wo man steht und auch wegen der Antrittsgelder, die es vereinzelt zumindest in reduzierter Form noch gibt. Ich freue mich deshalb auf das Wochenende in Berlin.

In einer Viererstaffel wollen Sie am Sonntag den Marathon-Weltrekord (2:01:39) von Eliud Kipchoge knacken. Fasziniert oder nervt Sie diese Fabelzeit?
Kipchoge und ich betreiben den selben Sport, aber wir laufen in anderen Welten. Ich habe für mich schon vor Jahren die Entscheidung getroffen, dass ich in erster Linie gegen mich selbst antrete. Ich denke, das ist der ehrlichste Gradmesser, an dem sich ein jeder orientieren kann. Für mich geht es dabei weniger um internationale Siege, sondern darum, die Grenzen meiner Möglichkeiten auszuloten. Für mich ist es interessant, ob ich mit maximalem Training 2:10 Stunden laufen kann.

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Fokussieren sich Fans und Medien zu sehr auf Rekorde?
Das ist schon ein Problem und Zeichen einer Gesellschaft, die immer mehr, mehr, mehr will. Das fördert natürlich auch Leute, die emotional und charakterlich nicht so gefestigt sind. Die suchen dann im Zweifel Abkürzungen und betrügen. Das soll keine Anspielung auf Kipchoge sein – gegen ihn liegt nichts vor. Wenn man aber sieht, wie viele Funktionäre und Sportler aus Ostafrika bereits gesperrt wurden – alleine in den letzten Jahren – muss man auch sagen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt.

Stichwort „Gold“: Keine Rennen heißt keine Start- und Preisgelder. Wie verkraftet man so eine Saison finanziell?
Ich habe noch Glück, denn ich generiere über Werbeverträge, Vorträge, Social Media und mein Buch etwa 75 Prozent meiner Einnahmen. Trotzdem fehlt mir eine nicht unerhebliche fünfstellige Summe. Außerdem laufen alle meine Verträge zum Jahresende aus, wie das eben zum Ende eines Olympiazyklus so ist. Jetzt beginnen die ersten Gespräche – und wie in der allgemeinen Situation zu erwarten, laufen diese natürlich schwierig. Ich will da meine Partner auch überhaupt nicht in ein schlechtes Licht stellen, die begleiten mich schon über viele Jahre, aber natürlich geht es denen aktuell auch nicht besonders gut. Das nächste Jahr wird sicherlich für alle schwierig und anderen Kollegen geht es bestimmt noch schlechter. Wenn die Veranstalter nächstes Jahr nicht wieder auf die Beine kommen, wird es für den Profisport in Deutschland bedrohlich, da müssen wir nicht um den heißen Brei herumreden.

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Sie sind sehr aktiv auf Social Media, haben jetzt einen Podcast. Müssen Läufer heute mehr Zeit in die Vermarktung als ins Training investieren?
Für jeden Sportler sollte Training das Wichtigste sein. Mir macht aber auch die Business-Welt Spaß, das ist für mich ein toller Ausgleich und Geld bedeutet für mich Freiheit. In der Vergangenheit habe ich mich schon häufiger mit dem Verband gestritten, auch vor Gericht. Ich wollte nie zur Bundeswehr, um professionell laufen zu können. Ich wollte mir nie den Mund verbieten lassen. Als Individuum bist du in der Maschinerie eines Verbands nichts wert. Das Geschäftsmodell, das ich um mich geschaffen habe, ermöglicht es mir, meinen Sport so auszuüben wie ich es möchte, z.B. eben auch mit einem ausländischen Trainer zusammenzuarbeiten und meine Trainingslager und -orte selbst auszusuchen. Für mich hat das die letzten Jahre finanziell gut geklappt und ich werde deshalb auch das nächste Jahr durchfinanziert bekommen. Ich verstehe aber auch, wenn Sportler sagen, sie wollen nur Sport machen.

Junge Sportler können sich vielleicht auch nicht so gut vermarkten wie etablierte Läufer.
Ich kritisiere die Nachwuchsförderung seit Jahren. Wir haben in Deutschland kein Talentproblem, das zeigen Spitzenläuferinnen wie Konstanze Klosterhafen oder Alina Reh. Es könnten noch viel mehr vorne mitlaufen, doch in Deutschland wird man sich selbst überlassen. In den USA sind Leistungssport und Studium viel verzahnter, bei uns bekommt man von Verbandsseite ein paar hundert Euro Trainingslagerzulage. Das bringt gar nichts.

Mit 33 sind Sie im besten Läuferalter, ihr Ziel war noch einmal Olympia. Wie sehr geht das an die Psyche, wenn die Welt stillsteht und Ihnen die Zeit davonläuft?
Am Anfang konnte ich das ausblenden, doch die Verschiebung der Olympischen Spiele hat mich in ein Loch geworfen. Plötzlich gab es kein Ziel mehr und ich war ziel- und orientierungslos. Manchmal konnte ich mir über Tage die Laufschuhe nicht anziehen. Ich hatte einfach keine Energie, keine Motivation mehr. Manch einer kritisierte, dass ich meinen Sport nicht lieben würde. Seit ich sieben bin, ist Training für mich immer mit Wettkämpfen verbunden – das sitzt ganz tief und ich liebe das. Im Lockdown begann ich vermehrt darüber nachzudenken, warum ich 200 Kilometer die Woche renne. Zweimal am Tag trainiere, mich auf der Bahn oder bei Tempodauerläufen auskotze, das Letzte aus meinem Körper raushole. Ich denke, ich brauche extreme Herausforderung von großen sportlichen Zielen.

Viele Menschen haben das Laufen im Lockdown für sich entdeckt.
Das war irre und hat mich total gefreut. Ich beobachte aber, dass der Boom schon wieder nachlässt. Langfristig wird der Laufsport davon nur profitieren, wenn es wieder richtige Wettkämpfe gibt. Wir sind abhängig von der Eventbranche, die sehr leidet. Großveranstaltungen, wie wir sie kennen, werden wohl erst mit einem Impfstoff wieder möglich sein.

Olympia 2021 in Tokio ist ebenfalls unsicher, Ihnen fehlt auch noch die Norm. Beschäftigen Sie sich mit einem Karriereende?
Ich habe noch keine Exit-Strategie im Hinterkopf und habe auch nicht umsonst mein komplettes sportliches Umfeld im vergangenen Jahr nochmals umgekrempelt. Es gibt noch viele Ziele, natürlich auch die Heim-EM 2022 in München. Da setze ich mir noch kein Limit. Anders als ein 20-Jähriger steckt man aber nicht mehr jeden Cent ins Laufen, es geht für mich schon auch um den finanziellen Rahmen. Laufen ist mein Job und mit 33 denkt man natürlich ein bisschen weiter, an Familie und Kinder, ich heirate ja bald. Wenn ich irgendwann morgens aufwache und keinen Bock mehr habe, dann ist es genug.

Philipp Pflieger, 33, startet für die LT Haspa Marathon Hamburg und will in dieser Saison noch die Olympia-Norm über die Marathon-Distanz knacken.

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