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Lionel Messi und Luis Suárez: Indirekter Strafstoß

Das kuriose Elfmetertor von Lionel Messi und Luis Suárez empört und begeistert. Die Idee ist 50 Jahre alt, der Treffer war dennoch ein Kunstwerk - aber er hätte nicht zählen dürfen.

Beinahe wäre die Sache für Lionel Messi auch aus moralischer Sicht gut ausgegangen. Dieser Elfmeter, bei dem er den Ball nicht aufs Tor geschossen, sondern zur Seite gestupst hatte, in den Lauf seines Kollegen Luis Suárez, der darauf sein drittes Tor an diesem Abend erzielte, und das kommt in der Primera Division auch nicht alle Tage vor.

Suárez‘ Hattrick beim 6:1-Sieg des FC Barcelona gegen Celta de Vigo war ein schönes Argument für die Selbstlosigkeit des Weltstars Messi. Und eines gegen den Vorwurf, er habe sich über einen längst geschlagenen Gegner lustig gemacht.

Da verzichtet einer auf sein 300. Ligator und widmet einem für die Statistik verschossenen Elfmeter seinem Adjutanten, der sich bedingungslos seinem Führungsanspruch unterordnet und damit nicht ganz schuldlos ist an der Neuerfindung des FC Barcelona, die im vergangenen Mai beim Gewinn der Champions League ihre zwischenzeitliche Krönung erfuhr. Es ist Suárez’ Arbeit, die Messis Leichtigkeit ermöglicht, und dafür hatte er sich dieses Geschenk in Form eines spontan komponierten Kunstwerks verdient.

So hätten Messis Fürsprecher argumentieren können. Aber dann trat der Kollege Neymar vor die Kamera des klubeigenen Fernsehens und plauderte aus, dass alles ganz anders geplant war. Von wegen spontan und Dank an Suárez. „Wir haben das geübt“, sprach der Brasilianer. „Eigentlich wollte Leo den Elfmeter zu mir spielen, aber Luis war schneller.“

Zu schnell eigentlich. Denn weil Suárez zu früh in den Strafraum sprintete, hätte das Tor gar nicht zählen dürfen. Egal, die Welt verneigte sich auch so wie gewohnt vor den blau-roten Künstlern, dass die vereinzelten Stimmen der Kritik kaum ins Gewicht fielen. Nicht einmal Vigos Trainer fühlte sich verhöhnt. „Es war ihre Interpretation des Elfmeters“, sagte Eduardo Berizzo. „Man mag den Stürmern Respektlosigkeit vorwerfen. Aber ich sehe das anders. Sie können ihre Tore so schießen, wie sie wollen.“ Die sonst der Konkurrenz von Real Madrid zugeneigte Zeitung „AS“ pries das Gemeinschaftswerk als „Elfmeter des 21. Jahrhunderts“ und wähnte ihn in direkter Linie zu Barças Klubheiligem Johan Cruyff, der das Kunststück schon 1982 vorgeführt hatte (allerdings für Ajax Amsterdam).

Arbeitsteilung im Strafraum. Lionel Messi schob den Ball vom Elfmeterpunkt aus nur an (oben) und ließ stattdessen Kollege Luis Suárez verwandeln. Der bedankte sich artig, dass er ihm in diesem Spiel so einen Hattrick ermöglicht hatte.
Arbeitsteilung im Strafraum. Lionel Messi schob den Ball vom Elfmeterpunkt aus nur an (oben) und ließ stattdessen Kollege Luis Suárez verwandeln. Der bedankte sich artig, dass er ihm in diesem Spiel so einen Hattrick ermöglicht hatte.

© REUTERS

Und, wer hat’s erfunden? Natürlich nicht die Schweizer, schon gar nicht die Katalanen, aber auch nicht die Holländer. Sondern zwei Belgier. 1957 schoben sich Rik Coppens und André Piters im Länderspiel gegen Island den Ball vom Elfmeterpunkt einander zu, ebenfalls mit glücklichem Ende. Nicht ganz so gut ging es vor elf Jahren für die Franzosen Robert Pires und Thierry Henry beim FC Arsenal im Spiel gegen Manchester City aus. Pires wollte quer auf Henry spielen, traf aber den Ball nicht, Henry lief vorbei und der Schiedsrichter entschied auf Freistoß für den Gegner.

Ganz besonders clever wollten 1987 die Kölner Stephan Engels und Pierre Littbarski im Bundesligaspiel gegen Eintracht Frankfurt sein. Littbarski legte sich den Ball zurecht, aber dann schoss Engels, was sich jedoch nicht mit dem Regelwerk vertrug, nach dem der Schütze eindeutig erkennbar sein muss. Littbarski sah die Gelbe Karte, Engels verschoss den Elfmeter in der Wiederholung.

Die Liste der Peinlichkeiten ist lang

Das Elfmetertor steht zu Unrecht im Ruf einer Kunst der Minderbemittelten. In diesem Sinne führt der Titel von Peter Handkes Erzählung „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ (in der es nur am Rand um Fußball geht) in die Irre. Der Torhüter hat beim Elfmeter gar nichts zu verlieren, der Schütze fast alles.

Die Liste der Peinlichkeiten vom Kreidepunkt ist lang und wird angeführt vom Argentinier Martin Palermo, dem 1999 das selten erlebte Kunststück gelang, im Länderspiel gegen Kolumbien gleich drei Elfmeter zu verschießen. Gerd Müller hat die meisten Elfmeter der Bundesligageschichte verwandelt (51), aber auch die meisten verschossen (12). Franz Beckenbauer war ein so lausiger Schütze, dass er sich drückte, wo es nur ging. Im EM-Finale von 1976 gegen die CSSR ließ er Uli Hoeneß den Vortritt, was bekanntlich im Abendhimmel über Belgrad endete. Als 1981 bei einem Testspiel des Hamburger SV gegen den RSC Anderlecht beim Stand von 8:8 keiner mehr da war, musste Beckenbauer doch ran. Der Ball landete im Tor, aber der Schütze hatte so ungeschickt den Fuß verkantet, dass er einen Adduktorenabriss davon trug und zwei Monate lang ausfiel.

Wahre Größe beim Ausführen der vermeintlich leichten Aufgabe zeigt, wer Extravaganz im Augenblick der Entscheidung wagt. Dem Tschechen Antonin Panenka gelang das 1976 mit seinem in die Tormitte gelöffelten Elfmeter im EM-Finale von Belgrad, übrigens gleich nach Hoeneß‘ Fehlschuss. Zinedine Zidane kopierte ihn 2006 im WM-Finale von Berlin. Das ist in Vergessenheit geraten, weil erstens die Franzosen noch gegen Italien verloren und, zweitens, Zidane ein weiteres, sehr viel grelleres Schlaglicht setzte. Den Kopfstoß gegen Marco Materazzi.

Der König der Coolness bleibt bis in eine neu zu definierende Ewigkeit hinein Andrea Pirlo. Im Viertelfinale der EM 2012 geht es in Kiew gegen England. Pirlos Italiener liegen im Elfmeterschießen mit einem Tor hinten, und wenn jetzt er auch noch verschießt, ist die Angelegenheit wohl beendet. Pirlo schleicht mit vier müden Schritten zur Tat, er schiebt den Spann behutsam unter den Ball und chippt ihn mit viel Spin und wenig Tempo in die Mitte des Tores. Englands Torhüter Joe Hart liegt zappelnd auf dem Boden und versucht vergeblich, einen Fuß an den rotierenden Ball zu bekommen. Im Stadion bricht orkanartiger Jubel aus. Nur Pirlo schweigt und hebt nicht mal den Arm zum Jubel. England ist entnervt, und vier Elfmeter später steht Italien im Halbfinale.

Wenn irgendwo ein Denkmal für den Elfmeter des 21. Jahrhunderts errichtet werden soll, dann muss es nicht Platz für Lionel Messi oder Luis Suárez oder beide bieten. Sondern ganz allein für Andrea Pirlo.

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