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Bolt liebt die Partys und die Musik.

© AFP

Update

Leichtathletik-WM in London: Usain Bolt und die Einsamkeit des Sprinters

Usain Bolt hat die Leichtathletik in den vergangenen Jahren geprägt. Doch eigentlich hat er schon lange genug vom Sport. Ein Porträt

Es gibt da dieses Video, nein, es gibt da diese vielen Videos, die den schnellsten Mann, den es je gegeben hat, in eindeutigen Posen zeigen. Wie er zu Clubmusik tanzt, zugleich seine Hände auf die Hüften von jungen Frauen legt und sich an ihnen reibt. Usain Bolt scheinen die Kameras, die ihn filmen, egal zu sein, während er mehr als anzüglich tanzt. Und er lacht, fast ausgiebiger noch, als wenn er mal wieder als Erster über 100 oder 200 Meter durch das Ziel geschossen kommt.

Usain Bolt, das hat er selbst einmal gesagt, liebt das Leben mit all seinen Lastern. Mit den vielen Partys, mit dem vielen schlechten Essen. Und er hat auch gesagt, dass er endlich in dieser für ihn echten Welt leben will. Seine Welt mit dem harten Training und der vielen Öffentlichkeit ist demnach nicht die echte. Bolt konnte ihr aber nicht entkommen, weil ihn seine Beine über die Sprintdistanzen zu Zeiten trugen, die bis dahin kaum für möglich gehalten wurden und über die heute noch Biomechaniker und Mediziner streiten. 9,58 Sekunden über 100 Meter und noch unfassbarere 19,19 Sekunden über 200 Meter, beides gelaufen bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2009 im Berliner Olympiastadion. Wie war das möglich?

Wer kommt in der Leichtathletik nach Bolt? Bisher ist niemand in Sicht

Nun ist das echte Leben, sofern es das jetzt noch geben kann, nicht mehr weit entfernt für Bolt. Bei den am 4. August beginnenden Leichtathletik-Weltmeisterschaften in London wird er noch einmal über 100 Meter und in der 100- Meter-Staffel antreten. Danach ist es vorbei, dann kann Bolt noch mehr Partys feiern und noch mehr schlechtes Essen essen. Dann muss sich die Leichtathletik aber auch eine neue Hauptattraktion suchen. Bis jetzt ist keine mit einer ähnlichen Strahlkraft in Sicht, auch wenn der 30-Jährige Gefahr läuft, bei seinem letzten Auftritt von einer neuen Generation von Sprintern abgehängt zu werden.

Das merkt man an Kleinigkeiten. „Ich will gewinnen“, sagte er vor der Generalprobe in Monaco am 21. Juli, die er mit viel Anstrengung in 9,95 Sekunden gewann. Früher wollte Bolt nicht gewinnen. Er sagte: „Ich werde gewinnen.“ Man merkt es aber auch an seinen Zeiten. Die 9,95 von Monaco sind seine Saisonbestleistung, es ist die elftbeste Zeit in diesem Jahr. Für jemanden wie Bolt eigentlich ein Witz.

Er will in diesen letzten beiden Rennen in London noch einmal der große Läufer sein und nicht bloß die alt gewordene Legende. Der Weg dorthin, so erzählt es sein Jugendfreund und Manager Nugent Walker in der Dokumentation „I am Bolt“, hatte mit einem mickrigen Versprechen begonnen.

Bolt war schlampig, aber eben ein läuferisches Genie

Bolt, geboren und aufgewachsen im Norden Jamaikas, wurde demnach eines Tages von seinem Sportlehrer ein Lunchpaket mit Huhn und Reis versprochen. Voraussetzung war, dass er den bis dahin schnellsten Jungen in der Schule über 100 Meter besiegt. Bolt bekam natürlich sein Lunchpaket. Es ist eine hübsche Anekdote, aber sie erklärt nicht, warum aus Bolt dieser grandiose Sprinter geworden ist. Wenn überhaupt, dann hat Bolt an diesem Tag gelernt, dass er sich etwas verdienen kann mit seinen schnellen Beinen. Den Rest hat er seinen Genen zu verdanken – und seinem Heimatland Jamaika.

In dem Inselstaat läuft seit vielen Jahren vieles falsch. Das Land taumelt von einer Wirtschaftskrise in die nächste, Korruption und Bandenkriminalität grassieren. Was in Jamaika aber funktioniert, ist die Leichtathletik, vor allem in den Sprintdisziplinen. Bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro im vergangenen Jahr holte Jamaika sechs Gold-, drei Silber- und zwei Bronzemedaillen – allesamt im Sprint. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl (drei Millionen) gibt es kein anderes Land, das erfolgreicher ist. Die Leichtathletik ist die Sportart Nummer eins in Jamaika, die Schulen führen schon bei kleinen Kindern knallharte Ausleseverfahren durch. Jedes Jahr Ende März finden über fünf Tage in Kingston die großen Duelle zwischen den High Schools vor 35 000 Zuschauern statt, es ist die mit Abstand größte sportliche Veranstaltung in Jamaika. Die Kids wollen nicht Fußballer, Tennisspieler oder Basketballer werden, sie wollen Sprinter werden.

Mit 15 erlebte Bolt den besten Moment seiner Karriere

Bolt wollte auch der Schnellste sein, aber er tat sich schwer damit, dass er auch etwas dafür tun musste. Sein im Jahr 2011 verstorbener Trainer Pablo McNeil beklagte sich oft, dass Bolt nicht ernsthaft trainiere. Ob er ihn dadurch nur antreiben wollte? Eher nicht, der junge Bolt war schlampig, aber er war eben auch ein läuferisches Genie. 2002 wurde die Leichtathletik-Welt erstmals Zeuge davon.

In diesem Jahr fanden die U-20-Weltmeisterschaften in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston statt, Bolt gewann über 200 Meter – mit gerade einmal 15 Jahren. Wenn man sich heute das Rennen ansieht, erkennt man sofort, wie unausgegoren sein Laufstil damals war. Bolt streckt den Kopf schräg nach hinten. Es sieht aus, als würde sein Oberkörper den schnellen Beinen nicht folgen können. Aber wie heute liegt er nach dem Start zurück und distanziert die anderen mit diesen großen Schritten im zweiten Drittel des Rennens. Bolt lief bei dieser Junioren-WM in 20,61 Sekunden ins Ziel. „Das war der beste Moment meiner Karriere“, sagt er heute noch zu diesem Lauf.

Vielleicht sagt er das auch, weil danach die richtige Plackerei für ihn losging. Weil sich dann ein professionelles Umfeld um ihn scharte. In diesem Punkt unterscheidet sich die Leichtathletik nicht vom Fußball. Scouts sitzen bei Junioren-Wettbewerben auf den Tribünen. Nur sind sie nicht angestellt bei Vereinen, sondern bei Sportartikelherstellern. Bolt, das war allen nach dem Lauf in Kingston klar, war das größte Versprechen der kriselnden Leichtathletik. Puma erhielt den Zuschlag. Dann ging die professionell angeleitete Knochenmühle los, die in die Fabelzeiten von 2009 in Berlin und die vielen Goldmedaillen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen mündete.

Die ewige Frage: War Bolt gedopt?

Die Zeiten, die er in seiner besten Phase lief, sind heute noch vielen ein Rätsel. Oder anders formuliert: Es gibt Zweifel, ob sie ohne Doping überhaupt möglich waren, schon allein aus Gründen der Sprint-Historie. Ben Johnson, Linford Christie, Justin Gatlin, Tyson Gay oder Bolts Landsmänner Asafa Powell und Nesta Carter, um nur wenige zu nennen – sie alle sprinteten mit Substanzen im Blut, die sie nicht im Blut haben durften. Warum also sollte der Allerschnellste sauber sein? Zumal es etliche Berichte gab über die laxen Dopingkontrollen in Jamaika. Waren Bolt und sein Team gewiefter als die anderen, haben sie sich nur nicht erwischen lassen?

Ralph Beneke weiß das natürlich auch nicht. Der Mann ist Leiter des Institutes für Sportwissenschaft und Motologie der Universität Marburg und hat einen anderen, einen naturwissenschaftlichen Blick auf Usain Bolt. Beneke hat die Sprints von Bolt, speziell dessen Weltrekordläufe in Berlin analysiert und bis ins kleinste Detail seziert.

Der Wissenschaftler hat auf Grundlage ausgesuchter physiologischer und biomechanischer Modelle unter anderem Bodenkontaktzeiten, Kräfte und Leistungen berechnet und so Erklärungen für die Fabelzeiten Bolts gefunden, die anfangs zum Teil kontrovers diskutiert wurden, inzwischen aber weitgehend anerkannt sind. „Der Hauptvorteil von Bolt“, sagt er, „liegt in seiner Größe von 1,96 Meter begründet.“ Bei seinem 100-Meter-Weltrekord habe er 41 Schritte gemacht, die Sieger vor ihm hätten meist 45 Schritte gebraucht. „Bolt spart dadurch zum einen Energie, und zum anderen hat er bei seinen wenigen Schritten einen kraftvolleren und etwas längeren Bodenkontakt als die anderen. Er erzielt dadurch einen größeren Impuls.“

Doch die Sprints, die Beneke analysiert hat, bringt Usain Bolt schon länger nicht mehr auf die Bahn. Nach 2009 ging seine Leistungskurve immer ein bisschen mehr nach unten. Die Schinderei nahm zu, auch infolge vieler Verletzungen. Vor allen Dingen aber wegen des Umstandes, dass sein Körper diesen einen Makel hat: Bolt leidet an Skoliose, einer Wirbelsäulenverkrümmung. Seit 2004 versucht er mit der Münchner Sportmediziner-Koryphäe Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt dagegen anzukämpfen. Doch die Folgen der Skoliose merkt Bolt bis hinunter in die schmerzenden Kniesehnen. Für Bolt bedeutet der Kampf gegen seinen körperlichen Makel und sein zunehmendes Alter: noch mehr Reha, noch häufiger früh aufstehen, noch gesünderes Essen zu sich nehmen und noch weniger Partys feiern.

Bolt hat in London große Konkurrenz

Das erste Bild, das einem zu Bolt einfällt, ist sein Strahlen nach dem Zieleinlauf, seine Pose danach, wenn er den linken Arm ausstreckt, den rechten rückwärts anwinkelt und mit beiden Zeigefingern nach vorne zielt. Hinter dem Strahlen und der Show steckt aber viel Leid. In der Dokumentation „I am Bolt“ sieht man ihn frühmorgens mit einem Mini-Roller durch sein steriles Hotelzimmer fahren. Er singt, dann ist es ihm peinlich. „Ich wollte euch nur zeigen, wie es mir geht, wenn mir langweilig ist.“ Nicht so gut, hat es den Anschein. Aber wem geht es schon gut, wenn ihm langweilig ist? Bolt sagt in der Dokumentation, dass er ungern Dinge tue, die ihm keinen Spaß machen würden. „Ich will chillen, einfach Mensch sein.“ Und er sagt darin auch, dass es schwer für ihn sei, jetzt noch so scharf aufs Gewinnen zu sein wie jemand, der noch nichts gewonnen hat.

Deswegen wird es für ihn auch am kommenden Samstag schwer, wenn um Viertel vor elf nachts sein wohl letztes Einzelrennen ansteht. Neben ihm werden Läufer stehen wie der Kanadier Andre de Grasse, der US-Amerikaner Christian Coleman oder Akani Simbine aus Südafrika. Alle sind Anfang 20, alle sind in diesem Jahr schneller gelaufen als Bolt und alle sind sie scharf aufs Gewinnen. Aber wenn es dann so weit ist, wenn die Legende mit ihren 1,96 Metern neben einem steht, haben schon viele Favoriten schwere Beine bekommen.

Usain Bolt hat inzwischen seine Mühe mit der Motivation. Aber er weiß auch: Er muss jetzt in London nur noch zwei Mal die hundert Meter hinunterjagen. Danach wartet das echte Leben.

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